Scan by Schlaflos BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 24152 Erste Auflage: Februar 1992 Für Stephen W. Dahin, wo immer er jetzt ist. Er weiß auch, warum. © Copyright 1990 by Katherine Kerr All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1992 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Polar City Blues Lektorat: Reinhard Rohn Titelillustration: Luis Royo, Norma Agency, Barcelona Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Bad Iburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-24152-5 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer. Die Riesensonne über dem Horizont von Hagar geht unter. Langsam versinkt sie im Dunst und bringt ihn zum Leuchten. Streifen von Kupferorange fächern über den Himmel, so aufdringlich bunt, als versuchte der Regisseur eines schlechten Holo-Films den Sonnenuntergang auf einem Planeten seiner Phantasie darzustellen. Aber wenn das Kupfer allmählich verblaßt und sich in ein scheußliches Lila verwandelt, dann geht es am Himmel über Polar City erst richtig los. Das Nordlicht knistert und knattert über der Stadt, als wollte es die Skyline mit Girlanden in allen Regenbogenfarben schmücken, und so das nüchterne Bild verzaubern, das nichts so sehr ähnelt wie senkrecht aufgestellten Eierkartons. Hin und wieder umspielt eine Flut purpurnen und silbernen Lichts auch die hohen Startrampen des Raumhafens. Obwohl das nichts Besonderes ist für die meisten Bewohner der Stadt (die um diese Zeit gewöhnlich aufstehen, nach den Kindern oder den Eiern in den Brutkästen sehen oder sich die Zähne putzen und ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht spritzen ...), hält an diesem Abend Baskin Ward, Corporal der Polizei, auf seinem Streifgang durch die Innenstadt an und lehnt sich gegen die blaue Plastbetonmauer der Stadtbibliothek, um das Schauspiel am Himmel zu betrachten. Es gibt eine Menge Dinge, über die er nachdenken müßte, und außerdem ist es wie immer sehr heiß in Polar City. In einer Stunde wird die Stadt zum Leben erwachen, aber heute würde er sich nicht anstrengen. Er muß seine Kräfte aufsparen für das Examen morgen. Wenn er bestand, dann wäre er Sergeant und könnte endlich die Frau heiraten, die er seit drei Jahren liebt. Sie arbeitet in der Computerzentrale der Verkehrsüberwachung und wünscht sich, genau wie er, zwei Kinder und vor allem ein Ticket, um von dieser verdammten zurückgebliebenen Wüstenwelt mit dem ewig bonbonfarbenen Himmel wegzukommen. Wenn er sich als Sergeant bewährt, kann er beantragen, nach Sarah, seinem Heimatplaneten, versetzt zu werden, wo es Regen gibt und grüne, üppige Wälder. Aber erst einmal muß er die Prüfung bestehen. Das blaue Licht der Straßenlaternen flackert auf, die nur von einem Magnetfeld gehalten sechs Meter über dem Boden schweben, über den grauen Gehwegen und den glänzenden schwarzen Transportbändern, die daran vorbeigleiten. Vor ihm liegt die Plaza, der große zentrale Platz vor den Gebäuden der Stadtverwaltung, wie ausgestorben, nur eine Frau ist zu sehen, die eilends ihres Weges geht. Ihre hochhackigen Stiefel klappern auf den tönernden Platten, als wollten sie mit dem Geknatter des Magnetsturms oben am Himmel wetteifern. Nicht lange, und die Büromenschen, die Bürokraten der Verwaltung werden in Scharen hier auftauchen, nachdem sie sich tagsüber in den unterirdischen Wohnsiedlungen um den Stadtkern herum verkrochen haben. Ward hofft, daß es eine ruhige Nacht wird. Wahrscheinlich ein paar Betrunkene und ein paar mehr Leute im Drogenrausch, die er verwarnen und über das Terminal an seinem Gürtel dem Rehabilitationscomputer melden würde; ein Taschendieb vielleicht, das wäre schon das Äußerste. Eigentlich geht es nur darum, daß man ihn sieht, in dieser gelbgrünen Uniform mit den eindrucksvollen goldenen Tressen, mit der silberglänzenden Betäubungspistole, dem Symbol staatlicher Macht. Er rückt seine Mütze zurecht, stößt sich von der Wand ab und betritt das Laufband, das über die Plaza zum Rathaus führt, einem riesigen schwarzen Basaltklotz, kaum aufmunternder als ein Grabstein. Das Laufband durchquert in der Mitte des Platzes ein Karree, das Reihen von Steineichen eingrenzen. Sobald er die Baumreihe passiert, scheint ein unsichtbarer Mechaniker tief unter der Erde das Hologramm einzuschalten, das den öffentlichen Platz verschönern soll: Ein Springbrunnen mit hoher Fontäne wird von einem zum anderen Augenblick Wirklichkeit, ohne das mindeste Geräusch steigt das Wasser in die Höhe und fällt ebenso lautlos, wieder zur Erde, bis nach einer winzigen Verzögerung das Tonband mit dem Zischen und Plätschern einsetzt. Dann beginnen auch die Ionengeneratoren zu arbeiten, und Ward glaubt fast die Kühle des Wassers zu spüren, während er näherkommt. Er verläßt das Laufband und geht hinüber zu der niedrigen Einfassung, die Abfälle, Eidechsen und Haustiere von dem imaginären Springbrunnen fernhalten soll. In der Mitte des großen weißen Beckens aus Plastbeton sieht er den ersten Betrunkenen oder Drogensüchtigen dieser Nacht liegen, fast verborgen hinter den Wasserschleiern. »Okay, amigo, wollen die Beinchen nicht mehr, na?« Und Ward watet durch das Hologramm, es irritiert ihn, obwohl es absurd ist, daß seine Beine sich nicht naß und kühler anfühlen. Der Mann rührt sich nicht, scheint auf ihn zu warten. Liegt seelenruhig auf dem Rücken, die Hände auf der Brust gefaltet. Dann bemerkt Ward die Lache, mehr schwarz als rot im blauen Licht der Bogenlampen, die sich über das weiße Becken ausgebreitet hat. »Herr im Himmel!« Schnell kniet Ward sich hin und greift nach dem Terminal am Gürtel. Er sieht, daß es sich um einen männlichen Carli handelt, etwa anderthalb Meter groß und noch dünner als die meisten seiner Spezies; spindeldürr sind die drei Finger an jeder Hand, die hellgraues Fell umkleidet. Dunkelgraues Fell bedeckt Gesicht, Arme und Hals, doch ist es stumpf und verfilzt. Die Augen sind weit offen, die Ohren zur vollen Länge aufgerichtet, daß die Haut an der Basis sich in Falten gelegt hat. Der dünne Schlitz des Mundes ist fest verschlossen. Ward kennt sich aus mit Carlis, diese Mimik bedeutet, daß man vielleicht ein wenig überrascht war, nichts weiter. Das Opfer hatte nichts befürchtet, keiner Gefahr ins Auge gesehen, genau bis zu dem Augenblick, als man ihm die Kehle durchschnitt bis hinunter auf die Wirbelsäule. »Da er ein Carli ist, Sir, wird er wohl zur Botschaft der Konföderation gehören.« »Darauf können Sie wetten, Ward.« Chief AI Bates, ein stämmiger Riese mit so schwarzer Haut, daß man blaue Lichtreflexe darauf glitzern sieht, steht mit dem Corporal, einem Weißen, der ihm nicht einmal bis zur Schulter reicht, am Rand der Plaza. Sie schauen den Holo-Photographen und den Technikern zu, die sich um die Leiche versammelt haben. Der Springbrunnen ist abgeschaltet, so daß sie den Toten nun deutlicher sehen können sein kostbares blaues Gewand aus echten Naturfasern, das komplizierte Chronometer mit einem Armband aus massivem Gold am linken Handgelenk. Das schließt einen gewöhnlichen Raubüberfall aus. Obwohl der Polizeichef am liebsten ein einfaches Motiv gefunden hätte unbezahlte Spielschulden vielleicht oder eine Affäre mit der Frau eines anderen Carli , befürchtet er tief in seinem Herzen, daß der Mord etwas mit Politik zu tun hat. Und das deshalb, weil eben jedes größere Verbrechen auf Hagar etwas mit Politik zu tun hat. Nur sechs Straßen weiter nach Westen befand sich das Botschaftsgebäude der mächtigen Interstellaren Konföderation, acht Straßen östlich die Botschaft der nicht weniger respektablen Coreward-Allianz. Und in der Mitte dazwischen stand wie als Symbol das Rathaus von Polar City, Sitz der Provinzialverwaltung dieses Teils der bemitleidenswert kleinen Republik, die aus sieben bewohnten Planeten in vier Systemen, zwei Asteroidengürteln und einer Handvoll Monde bestand, auf denen eifrig nach Erz geschürft wurde. Zwischen Hammer und Amboß, pflegten die Einwohner der Stadt zu sagen, und meistens meinten sie es wörtlich. Nun fallen die Büromenschen immer zahlreicher in die Stadt ein, quellen wie Sandwürmer aus den U- Bahn-Schächten, und natürlich bleiben sie stehen und gaffen. Ohne daß man es ihm sagen müßte, geht Ward hinüber und fordert sie auf, weiterzugehen; ein guter Mann, denkt sein Chef, der 10 die Streifen eines Sergeants wohl verdient. Und endlich kommt auch der Gerichtsmediziner mit seinen Leuten, die eine Schwebetrage durch die Menge schieben. Bates fragt sich, warum die Mörder den Toten auf der Mitte der Plaza zurückließen, auch noch im Springbrunnen, was zugegebenermaßen ein seltsamer Ort ist, um sich einer Leiche zu entledigen. Vielleicht waren die Täter noch neu in Polar City und wußten nichts von dem Hologramm? Oder war es eine ganz bewußte Beleidigung des Toten? Die Carlis sind äußerst schwierig, was den Umgang mit ihren Toten betrifft. Bates nimmt sich vor, die Datenbank nach ihren Begräbnisgebräuchen zu befragen; vielleicht hat man dem Toten durch das imaginäre Wasser in seiner Nähe die denkbar größte Schmähung zugefügt. »Sieht schrecklich aus, Chief.« »Heh! Mulligan!« Bates ist herumgefahren, die Betäubungspistole halb gezogen, bevor er seine Fassung wiederfindet. »Wirst du gefälligst aufhören, dich an mich heranzuschleichen? Oder willst du eines schönen Abends einen Laserschock verpaßt haben?« Mulligan grinst nur. Dieses breite, jungenhafte Grinsen, das zu den Dingen an ihm gehört, die der Polizeichef am allerwenigsten leiden kann. Obwohl Bates zugestehen würde, daß eine freie Gesellschaft auch Paras tolerieren muß und daß sie sich tatsächlich auch nützlich erweisen können, fühlt er sich doch in der Nähe dieser Psi-Jongleure nicht wohl und ganz besonders nicht in Mulligans Nähe. Heute sieht er noch schlimmer aus als sonst, das dürre, zwei Meter lange Gestell in schmutzigen weißen Shorts und einem grünen Hemd, das bis zum Nabel offen ist beides viel zu weit für den mageren Kerl. Das immer ungekämmte Haar ist an diesem Tag türkisfarben, es kontrastiert unschön mit dem leuchtend roten Psi, das auf seine linke Wange tätowiert ist. Diese Kennzeichnung war vorgeschrieben. (Denn obwohl die Republik Paras tolerierte, mußten sich die anderen Bürger nach Möglichkeit vor ihnen schützen können.) Mulli- 11 gans Augen glitzern wie die eines Reptils - er trägt goldfarbene, reflektierende Kontaktlinsen. Bates findet es abstoßend. Er kann den Gedanken nicht unterdrücken, daß das typisch für die Weißen, los Blancos, ist, die am liebsten der harten Wirklichkeit aus dem Weg gehen und das Unechte auch in ihrer äußeren Erscheinung bevorzugen. Dann schämt er sich, daß er wieder in die alten Vorurteile verfallen ist. »Kann ich was für Sie tun?« Mulligan deutet vage auf die Leiche. »Wofür brauchst du das Geld? Dreamdust?« »Das Zeug nehme ich nie. Aber warum fragen Sie nicht nach meiner Miete? Mein Vermieter will mich rauswerfen. Ist das ein Grund?« Bates schnaubt ungläubig, dann zögert er und denkt nach. Mulligan hat das Glück, zum rechten Zeitpunkt hier zu sein, rechtzeitig genug, bevor die Schwingungen oder was auch immer die Paras wahrnehmen, abgeebbt und für immer verschwunden sind. »Ja, sicher. Komm.« Mulligan trottet brav hinterdrein, während der Chief sich einen Weg durch die Menge bahnt, bis zum Gerichtsmediziner und seinen beiden Gehilfen vor der Leiche. Sie sind im Begriff, das grau eingehüllte Bündel auf die Schwebetrage zu legen. »Ich hab' hier einen staatlich anerkannten Para«, sagt Bates, »also laßt ihn noch einen Moment hier.« Die Gehilfen gehorchen und legen die Leiche wieder auf den Boden des Brunnenbeckens. Mulligan kniet nieder, kauert sich auf die Fersen, dann streckt er seine weißen, langfingrigen Hände über der Leiche aus. Einen Augenblick sitzt er still da, während einer der Männer ein Tonband hervorholt, um alles, was er sagen wird, mitzuschneiden. Der andere hat sich ein Stück Kaukraut aus der Hemdtasche geholt. Dann wird Mulligan plötzlich steif, sein Kopf schnellt nach hinten, der ganze Körper windet sich, und er 12 heult auf wie ein Tier, ein hoher, schriller Schmerzensschrei. Der eine Gehilfe verschluckt sein Kaukraut und verschwindet, um es unbeobachtet irgendwo im Rinnstein zu erbrechen. Der andere, der mit den Methoden der Paras besser vertraut scheint, schaltet das Tonband ein und gähnt. Bates hockt sich neben Mulligan. »Was siehst du?« Mit halboffenem Mund wendet Mulligan ihm den Kopf zu. Wegen der reflektierenden Kontaktlinsen dauert es eine Weile, bis der Chief merkt, daß hier etwas gründlich schiefläuft. Mulligan sieht ihn gar nicht, er versucht verzweifelt, etwas zu sagen, seine Arme zu heben. Als Bates ihn packt, heult er ein zweites Mal auf, aber diesmal klingt es, als drücke man ihm die Kehle zu. So groß und korpulent Bates auch ist, wenn es darauf ankommt, kann er äußerst schnell sein. Er reißt Mulligan mit sich, während er aufspringt, zerrt ihn zur Seite. Es ist, als würde man einen Menschen von einer elektrischen Leitung reißen. Erst krampft Mulligan noch, dann sackt er in Bates' Armen in sich zusammen. Türkisfarbene Schweißbäche laufen ihm übers Gesicht. »Einen Arzt!« gellt Bates' Stimme durch die Menge. »Einen Arzt! Schnell!« Mulligan erwacht auf dem Untersuchungstisch einer kargen Zelle der Notfallambulanz von Polar City, tief unter der Stadt. Die rosafarbenen Wände sind schmutzig, entlang der Fußbodenleisten erkennt man Urinflecke zweier verschiedener Spezies. Der Geruch nach Desinfektionsmittel schnürt Mulligans trockene Kehle noch mehr zusammen. Die grelle Lampe an der Decke über dem Tisch macht ihm Augenschmerzen. Er versucht, sich auf den Bauch zu drehen, aber der Schmerz in seinem Kopf läßt ihn laut aufstöhnen. In einer Ecke der Zelle ist ein Waschbecken Wasser ...! wenn er es nur erreichen könnte. Aber Beine und Arme schmerzen so entsetzlich, daß er daran zweifelt. So bleibt er einige 13 Minuten bewegungslos liegen und versucht sich zu erinnern, wie er hierhergekommen ist. Es kann nicht anders sein, ein vom Kurs abgekommener Gleiter muß ihn über den Haufen gefahren haben, vielleicht auch einer dieser Verrückten auf einem dieser altmodischen Fahrräder. Er weiß noch, wie er eine Straße überquerte, um mit Bates, dem Polizeichief, zu sprechen. Danach war alles dunkel. Draußen auf dem Korridor hört er Schritte, große, schwere, schlurfende Schritte. Dann spürt er, wie ein anderer Geist in sein Bewußtsein dringt. Okay, kleiner Bruder, hier Nunks. Nach Hause ... sicher. Mein Zuhause ... sicher. Mulligans Augen füllen sich mit Tränen. Er wischt sie mit dem Ärmel ab, und jetzt erst wird ihm bewußt, daß jemand seine Fähigkeit, Signale zu senden, neutralisiert hat. Das macht ihn fast rasend vor Wut, obwohl er nicht sagen kann, warum. Aber nun berührt milde Wärme seinen Geist. Krankenschwester gibt Nunks jetzt Tasche. Dabei öffnet sich die Tür, und Nunks trottet herein. Gut über zwei Meter groß, sieht er mit seinen zwei Beinen, zwei Armen und dem Kopf oben auf dem Rumpf durchaus menschenähnlich aus. Er trägt einen schwarz-weiß-gestreiften Overall, der an den Knien abgeschnitten ist, so daß man das flauschige und dichte graue Fell auf den Beinen sehen kann. Wie immer ist er barfuß. Am Kopf ist sein Pelz bläulich - das heißt, zuerst denkt man, es wären zwei Köpfe: zwei keilförmige Elemente, jedes mit einem leicht rötlichen Ohrstreifen, die in der Mitte durch ein Gebilde aus Knochen und Fleisch verbunden sind. Ein Kopf mit drei Augen und einem kreisrunden Mund. Er bringt Mulligan einen Plastikbecher mit Wasser, hilft ihm beim Trinken, dann legt er eine der großen Hände mit der unbehaarten Handfläche auf Mulligans Stirn. Die Kopfschmerzen verschwinden. DM heilst ... oder betäubst? fragt Mulligan. Betäuben. Heilen weiß nicht. Sehr gut. Danke. 14 Gehen nach Hause ... Weiß Lacey? Weiß Buddy? Lacey vielleicht. Nach Hause. Nunks nickt ganz ernst, väterlich. Wärter finden. Nicht hierherkommen. Doch der Krankenwärter kommt schon. Er stürzt durch die Tür, als befürchte er, daß Nunks seinen Patienten ermorden wolle. Sein dunkelbraunes Gesicht ist grimmig. In der einen Hand hält er eine Funkbox, in der anderen ein Impfpistole. »Okay, Bleichgesicht«, fährt er Mulligan an. »Spricht dein ... äh, Freund Merrkan?« »Er kann überhaupt nicht sprechen, aber er versteht Merrkan.« »Gut: Was hat er hier zu suchen?« wendet er sich zu Nunks. »Wer hat dich überhaupt reingelassen?« Nunks sieht ihn unverwandt mit zwei seiner großen grünen Augen an. Dann geht er auf ihn zu und hebt eine Hand. »Du hast hier nichts zu suchen! Heh ... was soll das? Rühr mich nicht an, Blödmann! Laß ...« In dem Augenblick, in dem Nunks Hand seine Stirn berührt, beginnt er zu lächeln. Leise seufzt er auf und gleitet besinnungslos zu Boden. Kleiner Bruder: Gehen, nicht gehen? Nicht gehen. Mulligan übermittelt ihm etwas von seinen Schmerzen. Mit einem leichten Winseln zeigt Nunks, daß er verstanden hat. Kleiner Bruder blockiert? Kann sein. Nunks hebt ihn hoch, und Mulligan schlingt die Arme um seinen Nacken. Er läßt sich tragen wie ein Kind. Sie vereinen ihre Psi-Kräfte und senden zusammen ein Signal von solcher Stärke aus, daß sie gegen ihre Umgebung abgeschirmt sind. Niemand nimmt sie wahr, so gut wie unsichtbar sind sie auf ihrem Weg durch die Korridore: vorbei an der grau und silber gestrichenen Triage-Abteilung, vor der vier Weißkittel stehen und tratschen. Durch das menschenwim- 15 melnde Foyer, hinaus auf die Plaza und hinüber zur Haltestelle der Robotaxis. Niemand sieht sie gehen, niemand sagt ein Wort, um sie aufzuhalten - nicht einmal während der fünf Minuten, die sie auf ein leeres Taxi warten müssen, das in ihre Richtung fährt. Nunks öffnet die Tür und setzt Mulligan auf den Sitz, doch muß Mulligan die Koordinaten für Porttown eintippen, denn dafür sind Nunks' Finger zu dick. Doch strengt es ihn so sehr an, daß er gleich außer Atem ist. Das eigentliche Porttown beginnt gut drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, dort, wo die First Avenue nur noch geradeaus zum Zollgebäude führt. Hier bleiben auch die Robotaxis stehen, denn ihre Programmierung erlaubt nicht, daß sie tiefer in diese Gegend vorstoßen. Inzwischen haben sich Mulligans Muskeln wenigstens so weit entkrampft, daß er humpelnd gehen kann, solange Nunks einen Arm um ihn gelegt hat und ihn stützt. So trotten sie die D-Straßen entlang, vorbei an den grauen Fassaden aus Plastbeton, den Pfandhäusern und billigen Hotels, den Betrunkenen in den Hauseingängen, den Rauschgiftsüchtigen, die sich auf den Gehwegen ausgestreckt haben. Hin und wieder läßt sich eine müde Nutte aus dem einen oder anderen Fenster vernehmen, mit einem ebenso müden Scherz, oder ein männliches oder weibliches Wesen in der Uniform der Raumflotte schwankt seines, ihres Weges, der nach einer Nacht Urlaub zum Raumhafen zurückführt. Zweimal werden sie von Lizzie-Gangs verfolgt, doch ist Nunks zum einen von beeindruckender Größe, zum anderen kann er sich in solchen Situationen mit einer von allen Wesen fühlbaren Aura von Feindseligkeit und Gefahr umgeben, die ihren Eindruck nie verfehlt. Nach einem oder zwei Blocks sind die Gangs verschwunden. Nun sind sie schon in Sichtweite des Tors zum Raumhafen, doch biegen sie in eine schmale Gasse, die vor einer Mauer endet; sie gehört zu einem Lagerhaus, das sich über ein ganzes Karree erstreckt. Eine Laderampe, große Schiebetore - alles, was dazugehört, doch erkennt man aus der 16 Nähe Vorhängeschlösser an den rostigen Toren, die Fenster sind übermalt, die Rampe fast zugeweht von dem, was der Wind an Abfall herbeigetragen hat. An einer Ecke ist eine ganz normale Tür, über der ein 3-D-Schild verkündet: A-bis-Z-Unternehmungen. Obwohl Mulligan den Verdacht hat, daß der Firmenname noch niemanden täuschen konnte, außer einige Touristen von anderen Planeten, die sich unglücklicherweise in diese Gegend verirrten, muß man doch zugestehen, daß hinter dem Ganzen nicht eigentlich eine Täuschungsabsicht steckt. Es war eher so, daß den Behörden damit signalisiert wurde, daß Lacey willens war, ihrem Unternehmen den Anschein von Legalität zu geben, und die Behörden ihrerseits den Anschein erwecken konnten, sie wüßten nicht, daß man sie täuschte. Auf dem Planeten Hagar gab es zweifellos ganz eigene Wege, bestimmte Dinge zu tun. Nunks preßt seine Handfläche gegen das Lesefeld des automatischen Schlosses, und mit einem hohlen Ächzen gleitet die Tür auf. Schon mit dem ersten Schritt ins Innere fühlt sich Mulligan besser. Was von außen wie ein massives Gebäude wirkt, ist in Wirklichkeit kaum mehr als eine Art Hülle, eine Einfriedung von der Größe eines kleinen Zimmers. Darinnen aber befindet sich ein Garten üppiges Grün, Reihe um Reihe Obstpflanzen und Stauden, Weinranken, Gemüse. Und das alles eingerahmt, direkt an der Innenmauer, von Bäumen, hauptsächlich alten Apfelbäumen, wie man sie von der Erde kannte. Sicher gab es eine Menge Beamter bei verschiedenen Behörden, die sich wunderten, woher Lacey die Extrarationen Wasser hatte, die man für dieses Paradies brauchte, doch stellte niemand peinliche Fragen. Das war auch besser so, denn was würden sie tun, wenn sie eine exotische Frucht wünschten, um eine Geliebte zu beeindrucken oder frisches Gemüse, um die Wünsche ihrer schwangeren Frau zufriedenzustellen? Der Apfelschnaps, den Nunks und Lacey brannten, war hilfreicher als jedes Schmiergeld, zu unentbehrlich, als daß man 17 ihn durch Haarspalterei über irgendwelche Vorschriften aufs Spiel setzen wollte. Außerdem war ein großer Teil des Wassers völlig legaler Herkunft, denn Lacey war geradezu fanatisch, was die Rückgewinnung des im Hause verbrauchten Wassers anging. In der Nacht leuchtet das unaufhörliche Farbenspiel des Nordlichts über dem Garten, fast scheint er im Rhythmus der aufblühenden Farben zu atmen. Vorsichtig bahnen sie sich einen Weg zwischen zwei Reihen graugrünen Brotfarns, da bemerkt Mulligan ein Mädchen, das in dem hellen Lichtschein vor seiner Zimmertür steht. Sie ist vielleicht sechzehn, sehr hübsch, klein und zart. Ihr Haar hat sie weiß gebleicht und mit einem Hauch Purpur getönt, es hebt sich anmutig von der weichen dunklen Haut ab. Doch bemerkt Mulligan, daß eine Seite ihres Gesichts blaugeschlagen ist, und sogar in diesem ungünstigen Licht erkennt er die roten Male an ihrem Hals, die genau die Größe von Fingerspitzen haben. Großer Bruder? Neues Mädchen hier? Freundin von Lacey? Wohnt sie hier? Ja. Nein. Ja. Auf der Straße gefunden, heute mittag. Als das Mädchen sie bemerkt, huscht sie zurück in ihr Zimmer und schlägt die Tür zu. Mulligan hört die altmodischen Riegel knarren, eine Vorlegekette rasselt. Sicher ist sicher. Ihre Furcht, die er spürt, lenkt ihn von seinen eigenen Schmerzen ab, lange genug, um die Freitreppe zum ersten Stock hinaufzusteigen. Nunks stößt die schwere Tür oben auf, und halb gehend, halb getragen gelangt Mulligan in den Korridor. Von allen Seiten tönt das Gesumme der Klimaanlage. Sieben, acht Schritte vor ihnen ist Laceys Tür, sie ist offen, und man hört ihre heisere Stimme, etwas schrill vor Ärger. »Hör gut zu, panchito! Ich habe dir gesagt, daß du dich an die Regeln halten mußt, wenn du hier bleiben willst. Regel eins: Wenn Nunks dir sagt, was im Garten zu tun ist, dann erledigst du das auch. Klar?« 18 »Jawohl!« Die Stimme eines Jungen, aber zackig wie ein Soldat. »Okay. Noch ein Versuch. Aber noch ein Patzer, und du bist draußen!« Der Junge schiebt sich aus ihrem Zimmer, dann läuft er den Korridor entlang. Vielleicht zwanzig, denkt Mulligan. Beim Laufen duckt der Junge sich, als suchte er Deckung vor einem unsichtbaren Laserfeuer. Mulligan erinnert sich dunkel, daß er ein Deserteur irgendeiner Raumtruppe ist von den Landungstruppen der Allianz ja ... doch mit einem Mal dreht sich alles in seinem Kopf, und nun ist es ihm egal. Nunks fängt ihn auf und trägt ihn die letzten Meter in das Zimmer, legt ihn auf das graue Schaumstoffsofa an der hinteren Wand. Überrascht blickt Lacey auf. Sie sitzt in einem grauen, mit Kunstleder bezogenen Sessel, hat die Füße auf die blaue Computerkonsole gelegt und sieht sich auf dem 3-D-Bildschirm an der Wand ein Baseballspiel an. Seines erbärmlichen Zustands wegen beläßt es Mulligan diesmal bei einem kurzen, recht abstrakten Anflug von Verliebtheit und Begehren, wie es ihn jedesmal überkommt, wenn er Lacey sieht. Obwohl eher durchschnittlicher groß, wirkt Lacey durch ihre kerzengerade Haltung recht stattlich. Dank des Verjüngungsmittels sieht sie aus wie fünfundzwanzig, geradezu mädchenhaft mit den großen blauen Augen und dem breiten, burschikosen Lächeln. Doch ist sie in Wirklichkeit dreißig und eine Veteranin der interstellaren Flotte der Republik was man am Schnitt der blonden Haare unschwer erraten konnte. Obwohl sie es in jeder Flotte, die mehr als vier Fregatten, drei Kreuzer und ein rostiges Schlachtschiff umfaßte, zu einem hohen Rang hätte bringen können, war sie vor nicht allzu langer Zeit nur als Kapitänleutnant ausgeschieden. Wer nicht die ganze Geschichte kannte, neigte zu dem üblichen Schluß, daß sie es sicher bis ganz nach oben gebracht hätte, wenn nur ihre Hautfarbe nicht weiß gewesen wäre. Aber wie dem auch sei, 19 nun lebte sie von ihrer Pension hier in diesem Haus, das sie von einem Onkel geerbt hatte. »Was, um Himmels willen, ist denn mit dir passiert?« Lacey hatte den Ton des Fernsehers ausgeschaltet und kommt herüber zum Sofa. Sie trägt Jeans mit abgeschnittenen Beinen und ein weites blaues Hemd mit dem Aufdruck auf dem Rücken: ZERO-GEE-BOWLING .LEAGUE. »Hast du dich geprügelt?« »Weiß nicht«, murmelt Mulligan. Zu seiner Überraschung schmerzt ihn das Sprechen. »Ich dachte, du wüßtest es.« Erstaunt sieht Lacey Nunks an, der die Achseln zuckt und fragend die Hände hebt. Obwohl seine Spezies nie Sprechorgane entwickelt hat, weil sie von Natur aus telepathisch veranlagt war, hat er gelernt, die Mimik und Gestik von Menschen und Lizzies zu gebrauchen. Und was Lacey anging, so hat sie gelernt, die richtigen Fragen zu stellen. »Wir wollen mal sehen«, beginnt sie, »du hast gewußt, daß Mulligan in Schwierigkeiten ist.« Nunks nickt und tätschelt mit der Hand seinen Kopf, um ihr zu bedeuten, daß er die Schmerzen seines Freundes telepathisch erfassen konnte. Dann hebt er eine Hand, daß sie einen Augenblick warten soll. Kleiner Bruder: Sag Lacey starke Kraft, böse. Kann Geist zerstören. Du schreist ... (dort, dort, lange her). Mord, Carli, Freund von der Polizei. Keine Erinnerung. Wie sagen? Versuchen! Mit einem Seufzer sinkt Mulligan in die Kissen und sucht in seinem Gedächtnis nach der verlorenen Erinnerung. Ganz unvermittelt prallt er auf eine Mauer von Schmerz, die ihn fast betäubt. Als er zu stöhnen und keuchen beginnt, läuft Nunks rasch zu ihm und legt eine Hand auf seine Stirn - aber nicht einmal das kann die Schmerzen unterdrücken. Mulligan gibt es auf, er muß sich von dieser Erinnerung fernhalten. Jetzt läßt der Schmerz nach. 20 Blutgeruch, sagt Nunks, das ist es. Dort, heute abend, Blut. Ich rieche es, kleiner Bruder. »Da ist etwas und blockiert meine Erinnerung«, sagt Mulligan. Es ist kaum lauter als ein Flüstern. »Es tut entsetzlich weh, wenn ich es nur versuche. Aber Nunks meint, daß ich für die Polizei gearbeitet hätte, ein Mord vielleicht, denn er hat etwas von Blutgeruch gesagt.« »Für Bates, den Polizeichef?« Freund von der Polizei, meldet sich Nunks sofort. »Wird es wohl gewesen sein.« Nein, Bates kein Freund, nur Polizist, den ich kenne. Nunks ist überrascht. Entschuldige. »Aber man kann ihn doch anrufen. Ich werde sagen, daß du wissen möchtest, was passiert ist.« »Ich bin gar nicht sicher, ob ich das will.« Doch, kleiner Bruder. Müssen wissen, unbedingt wissen. »Na gut, Lacey, natürlich sollte ich wissen, was passiert ist.« »Okay. Willst du was trinken? Ich habe einen echten Whisky von der Erde.« »Gerne!« Sie geht hinüber zur Bar, einem blitzblanken Ding aus grauem und königsblauen Email. Zwischen schnurgeraden Reihen von Flaschen und Gläsern, die der Größe nach aufgestellt sind wie zum Appell, steht eine Eiswürfelmaschine. Zwei Würfel gesteht sie Mulligan zu, dann gießt sie großzügig Whisky darüber. Als sie Mulligan das Glas reicht, schüttelt Nunks mißbilligend den Kopf. Ärger. Bitte, großer Bruder, ist notwendig: Kopf betäuben. Resignation, milde Verachtung. »Du willst dich wirklich betrinken?« fragt Lacey. »Bis zum letzten Tropfen. Ich werd's bezahlen, Lacey, wenn ich wieder Geld bekomme.« »Kein Problem. Aber vom nächsten Glas an werde ich dir 21 billigen Schnaps geben, du wirst den Unterschied schon gar nicht mehr merken.« »Wenn du meinst, meinetwegen.« Mulligan nimmt einen großen Schluck, dann seufzt er wohlig. Er weiß, daß es ihm bald besser gehen wird. Nicht lange, und er ist diese Last los, diese >Gabe<, die ihm sein halbes Leben vergällte. »Ach, Lacey! Wer ist denn das Mädchen mit dem Purpurhaar?« »Heißt Maria. Ihr Zuhälter hat sie zusammengeschlagen, als sie ihm weglaufen wollte. Er dachte, sie wäre tot, und ließ sie auf der Straße liegen. Nunks hat sie gefunden und hierhergebracht.« »Gott im Himmel. Das arme Ding.« Wut. Ihn suchen, verprügeln! Aber: Angst vor Polizei. Ja, großer Bruder. Ärger mit Polizei: Zuhälter zahlen viel Geld an Polizei. Stehen unter Schutz. Ganz unvermittelt geht Nunks. Mit großen Schritten stapft er aus dem Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. »Wieso ist er so aufgebracht?« fragt Lacey. »Wir haben über das Mädchen gesprochen, Maria, und daß ihr Zuhälter wahrscheinlich die Polizei schmiert.« »Nunks hat über unsere Spezies manchmal eine wirklich schlechte Meinung.« »Und gewöhnlich liegt er damit genau richtig. Stimmt's?« Mit einem Achselzucken setzt sich Lacey wieder an ihren Computertisch. Ihre Finger spielen über eine Reihe von Knöpfen, die an der Kante der Tischplatte eingelassen sind. »Du willst eingeben, was ich dir gesagt habe?« fragt Mulligan. »Ja, sicher. Ein Mord ist immer ein schwerer Eingriff in ein funktionierendes System, das hat Konsequenzen. Und ich möchte das mit dieser Geschichte, daß etwas deine Erinnerung blockiert, in Zusammenhang bringen. Vielleicht findet sich so eine Erklärung.« »Denke, daß ich eine brauchen könnte. Aber Lacey, sag 22 mal - bist du nicht einfach neugierig, was die Leute so quatschen?« »Nie und nimmer. Du kennst den alten Witz: Du tratschst vielleicht, aber ich tausche wichtige Informationen aus. In dieser Stadt, mein Kleiner, bedeuten die richtigen Informationen bares Geld. Meine dämliche Pension beschert mir nicht das Luxusleben, das ich verdiene.« Mulligan nimmt einen zweiten Schluck Whisky und sieht Lacey zu, die den blaßgrünen Bildschirm einschaltet. Eine Abdeckplatte auf dem Computertisch schiebt sich zur Seite, und eine Tastatur kommt zum Vorschein - eine richtig altmodische Tastatur wie im Museum, die außer ihr niemand reparieren kann. Natürlich gibt es an ihrem Computer wie bei jedem andern auch eine akustische Spracheingabe, doch bietet dieses antike Ding Lacey einige Vorteile: Mehr oder weniger unbemerkt von ihren Besuchern und ohne sie zu stören, kann sie jederzeit Daten eingeben. Immerhin, sagt sich Mulligan, jeder, der Laceys Datenbank anzapfte, könnte dadurch reich werden. Doch unglücklicherweise hat Lacey ihren Computer so programmiert, daß er in einer Sprache antwortet, die nur sie versteht. Mulligan hat den Verdacht, daß sie die Sprache erfunden hat. »Was meinst du? Ist das, was du durch mich erfährst, vielleicht ein Frühstück wert?« »Was, bist du schon wieder pleite?« »Ich bin immer pleite, das weißt du doch.« »Du solltest dir mal eine vernünftige Arbeit suchen. »Geh zum Staat dein Land braucht dich\<« »Großer Gott! Gnade ... Das hab' ich eine Zeitlang versucht. Wenn du eine Ahnung hättest, wie elend langweilig das Gedankenlesen bei Bewerbern um einen Verwaltungsposten ist. Was für Lebensgeschichten! Niemand, der sich für so eine Stelle interessiert, scheint irgend etwas von Belang erlebt zu haben. Ich verstehe nicht einmal, warum sie sich die Mühe machen, Paras zu beschäftigen.« »Vielleicht findest du es heraus, wenn du es noch einmal versuchst.« Aber nun kann Mulligan sein schlechtes Gewissen nicht länger unterdrücken. Da sitzt er und versucht, von Lacey zu schnorren, obwohl er sich geschworen hat, es nie wieder zu tun. Das mindeste, was er ihr schuldet, ist, daß er ihr die Wahrheit sagt. »Na ja, weißt du .. Ich kann nicht zurück in den Staatsdienst. Sie haben mich rausgeschmissen.« »Ach.« »Ja, tatsächlich. Ich habe da einfach nicht hingepaßt. Jedenfalls haben sie es so ausgedrückt, obwohl ich ihnen irgendwie recht geben muß.« »Ich beginne zu verstehen. Das heißt im Klartext, daß du immer zu spät kamst und dich unmöglich aufgeführt hast, und daß du deinem Vorgesetzten patzige Antworten gegeben hast.« »Himmel! Wenn du dieses Weib gesehen hättest, wärst du auch unfreundlich gewesen. Sie war, verdammt, eine von diesen Esoterik-Ladys, die hauchdünne Schals tragen und Kleider mit weiten, fliegenden Ärmeln und die sich mit einer Aura von Mysterium umgeben, während sie immerzu von der jenseitigen Welt reden und von ihrer begnadeten Gabe -und das alles im Brustton der Überzeugung, verstehst du?« »Ja, das fällt mir nicht schwer.« Sie schenkt ihm ein knappes Lächeln. »Aber, zum Teufel, bei der Flotte hatte ich eine Menge Vorgesetzte, die ich nicht ausstehen konnte. Man führt ihre Befehle aus und ignoriert die Mistkerle, so gut es geht.« »Bei dir war das etwas anderes, du paßt eben auch zum Militär. Aber ich habe nicht diese Disziplin.« »Man möchte beinahe Mitleid kriegen, du armes, schwaches Bürschchen.« »Ach hör auf! Aber wirklich, ich habe es versucht mit diesem blöden Job.« Lacey hebt skeptisch eine Augenbraue, dann macht sie 24 sich an die Arbeit. Zwar kann Mulligan die Tastatur vom Sofa aus nicht sehen, aber ihr Gesicht sagt ihm genug: die Lippen einen Spalt geöffnet, die Augenlider gesenkt sie sieht aus, als träumte sie, von einem fernen Geliebten vielleicht. Oder ist es einer, der überaus gegenwärtig ist, wenn sie die Tastatur bearbeitet? Manchmal haßt er ihren Computer. »Nicht übel«, sagt sie schließlich. »Ich werde jetzt den Chief anrufen und seine Informationen direkt eingeben.« »Tüchtig, tüchtig. Du bist einfach Spitze. Aber hör mal bevor ich weitertrinke, muß ich dich etwas fragen. Sonst werd' ich's noch vergessen.« »Dann schieß los.« »Dieser Deserteur: War es nicht zu riskant, ihn hier aufzunehmen?« »Du und Nunks, ihr habt ihn überprüft und gesagt, er wäre in Ordnung.« »Das meine ich nicht. Ich meine, was passiert, wenn die Allianz herausfindet, daß du ihn versteckst? Sie werden alles versuchen, um dich in ihre Gewalt zu bekommen, das weißt du doch. Und dann? Die Giftspritze und ab in die Recyclinganlage, kein Zweifel.« »Ich weiß. Ich besorge ihm falsche Papiere, damit er mit einem Handelsschiff von hier wegkommen kann.« »Großer Gott! Das kostet ja Tausende!« »Oh, ich kenne da Leute, die mir noch ein paar Gefälligkeiten schulden. Und, mein Lieber, stell dir vor: Unser kleiner panchito hat es mir in seiner Unschuld schon ein halbes Dutzendmal zurückgezahlt. Was bin ich für ihn denn? Eine Kameradin, auch wenn ich nicht mehr aktiv bin. Deshalb sitzt er gerne hier bei mir und erzählt alles, was ihm durch sein kleines Köpfchen geht wo die Schiffe der Allianz kreuzen, was für neue Waffen sie haben und was für spezielle Schiffsmanöver sie draußen im freien Raum ausführen können, die er beobachten konnte. Ich kann jedes einzelne Byte gleich dreimal verkaufen.« 25 »Du lieber Himmel! Nunks und ich, wir waren einer Meinung, daß dieses Baby zu dämlich ist, um zu lügen. Dann muß das alles stimmen, bis aufs i-Tüpfelchen!« »Genau. Ganz sicher ist die Allianz ohne dieses Baby mit seinen bescheidenen Gaben besser dran. Die Handelsmarine ist genau das Richtige für ihn.« »Aber wie kam es, daß er weggelaufen ist?« »Eine Tracht Prügel zuviel. Sein Kommandant muß ein echter Soldat gewesen sein. Als ob das eine Art wäre, eine Flotte zu führen ... Leute mit der Prügelstrafe zu traktieren.« »Weißt du, wenn es eines Tages wirklich knüppeldick über uns kommen sollte ich würde mich lieber von der Konföderation als von der Allianz erobern lassen. Du nicht auch?« »Mal den Teufel nicht an die Wand! Aber da hast du nicht ganz unrecht.« »Na schön«, sagt Bates, »erfreulich, daß es ihm besser geht.« Aber dem Gesicht auf dem Bildschirm ist nicht das geringste Interesse an Mulligans Gesundheitszustand anzumerken. »Mir ist der kalte Schweiß ausgebrochen, Lacey, kannst du mir glauben. Dachte, er stirbt mir unter den Händen weg. Hat Nunks herausgefunden, was er falsch gemacht hat?« »Leider nein, aber er wird es noch einmal versuchen.« »Sag mir Bescheid, wenn er etwas weiß. Es könnte wichtig sein.« »Wird gemacht. Hasta la vista!« Als Lacey das Gespräch beendet, hält Mulligan ihr bittend und mit einem erbarmungswürdigen Seufzer sein Glas entgegen. Sie gießt nach und nimmt sich auch selbst etwas zu trinken. Sie steht auf, nippt daran und sieht Mulligan zu, der den Whisky gierig wie ein durstiges Kind hinunterschüttet. »Nunks hatte recht: Es hat einen Mord gegeben, an einem 26 Carli, und du kamst dazu. Bates hat dich engagiert, um zu lesen, und irgend etwas hat deine Schaltkreise ruiniert, und zwar gründlich.« »Ich hasse das, wenn du so von meinem Hirn redest, als wäre ich eine Maschine. Ich bin aus Fleisch und Blut, kein alberner Kasten mit Stromkreisen und so.« »Ach, das Prinzip ist doch das gleiche.« »Nein! Nie! Ich wünschte, es wäre so. Dann wäre ich nicht so ein verdammter Para.« »Mensch, was hast du nur eine Menge Leute würden ihre rechte Hand für so ein Talent eintauschen!« »Dann spinnen sie oder sind ganz einfach dumm. Herr im Himmel Lacey, das einzige, was ich immer wollte, war Baseballspielen, nichts anderes.« »Es war sicher hart für dich, mein Kleiner.« Mulligan blickt zur Seite, Tränen in den Augen, während Lacey im stillen hofft, daß er nicht wieder die ganze Geschichte von Anfang an erzählen wird. Manchmal, wenn er trinkt, muß er einfach darüber reden. In der High School war Mulligan der Star der Baseballmannschaft, und jedermann dachte, daß er nach dem Abschluß seinen Weg in eine Profi-Mannschaft machen würde. Aber dann, als die Pubertät vorbei war und die Hormone ihre Arbeit verrichtet hatten, da lag das bisher verborgene Psi- Talent offen zutage. Zwar versuchte er es zu verheimlichen, aber einige seiner Klassenkameraden zeigten ihn bei der zuständigen Behörde an; er wurde aus dem Verkehr gezogen und in das staatliche Parapsychologische Institut gebracht. Dort wurde er getestet, registriert und auf die übliche Weise mit einem Psi markiert. Damit war jede Aussicht auf eine Karriere im Profi-Baseball zunichte. Obwohl er absolut keine psychokinetischen Fähigkeiten besaß und keine Gefahr bestand, daß er etwa die Flugbahn eines Balls beeinflußte, würde man ihn immer unerlaubter Methoden verdächtigen. Kein Team des Planeten würde Geld in einen Spieler investieren, bei dem man jederzeit mit einer Sperre rechnen mußte; ein Aufschrei 27 öffentlicher Empörung, und die Offiziellen der Liga konnten gar nicht anders - so, wie es auch mit den Androidenspielern geschehen war. »Es ist einfach nicht fair«, sagt Mulligan fast unter Tränen. »Ich meine, selbst wenn ich die Gedanken des Werfers lesen könnte und genau wüßte, wie er den Ball schleudern will, verdammt, dann müßte ich ihn immer noch fangen, oder? Es ist nicht fair.« »Nun ja, sicher.« »Aber es hat mein Leben kaputt gemacht.« Ein langer Schluck Whisky. »Der ganze verfluchte Mist hat mein Leben ruiniert, nicht? Mir bleibt nichts übrig als bei den Semiprofis mitzuspielen, für lausige fünf Dollar pro Spiel. Dabei hätte ich das Zeug zum Profi.« »Dieses Team, von dem du erzählt hast sie haben dich genommen?« »Ja. Hab' ich's nicht gesagt? Ihnen ist egal, was mit meinem Kopf los ist, sie brauchen dringend einen Shortstop. Ein lausiges Team, die Mac's Discount Marauders ...« Der Gedanke, daß er vielleicht gleich weinen wird, macht Lacey nervös. Sie ist so schrecklich unsicher, wie man mit einem weinenden Menschen umgeht. Aber nach einer Minute seufzt er auf und murmelt etwas vor sich hin. »Du drückst dich heute so klar aus.« »Eigentlich will ich nur in Ruhe gelassen werden ...« Es ist nicht mehr als ein Murmeln. Aus Sympathie, nicht aus Ärger tut Lacey ihm diesen Gefallen. Zuerst nimmt sie die Whiskyflasche und stellt sie in seine Reichweite, dann geht sie zurück zum Computertisch und dem Sessel mit den Armlehnen. Auf dem Bildschirm an der Wand kann sie sehen, daß die Polar City Bears die New Savannah Braves im siebten Inning mit acht zu zwei schlagen. Und weil die Bears ohnehin die besten Werfer der ganzen Interplanetarischen Liga haben und die Braves die schlechtesten, beschließt sie, das Gemetzel nicht weiterzuverfolgen, und schaltet aus. Erfahrung weiß sie, daß Mulligan so lange trinken ^, bis er völlig apathisch geworden ist. Und weil er schon längs* keine Gefahr mehr ist, schaltet sie ihren Computer auf akustische Ein- und Ausgabe. Doch vertraut sie Mulligan nicht genug, um nun mit Buddy Merrkan zu sprechen. Statt Jessen benutzt sie Kangolan, eine kaum bekannte Sprache, von der höchstens zwei Millionen denkende Wesen im erforschten Raumsektor wissen, daß sie überhaupt existiert. Und höchstens fünfhunderttausend von ihnen können sie auch sprechen. Lacey hatte sie während eines Flotteneinsatzes gelernt; sie war damals Computeroffizier auf einer Fregatte, die eine Pforte in den Hyperraum in der Nähe des Planeten gegen Piraten bewachte. Sie hatte genügend Zeit, die Gebräuche jener Welt zu studieren, weil in den ganzen fünf Jahren, die sie dort auf der Lauer lagen, nur zwei Piratenschiffe auftauchten, von denen eines auf der Stelle kehrt und sich aus dem Staub machte, als es die Fregatte geortet hatte. »Ich bin wach und betriebsbereit.« Buddy spricht mit einer angenehmen, manchmal etwas ungeduldigen Tenorstimme, die Lacey selbst programmiert hat, um nicht ständig die verführerische Frauenstimme anhören zu müssen, mit der die Fabrik die Maschine ausgestattet hat. »Ich freue mich, das zu hören, Buddy. Hast du schon die neuen Informationen verarbeitet, die ich dir über die Tastatur eingegeben habe?« »Das habe ich. Aber sie sind noch unvollständig.« »Ich weiß. Ich nehme an, daß wir mit der Zeit noch weitere Quellen verwerten können. Einstweilen sollst du diese Informationen speichern und mit den Daten über alle Morde in Polar City während der letzten zwölf Monate vergleichen. Dann sollst du nach Fällen suchen, in den Paras ihre Einne-rungen nicht abrufen konnten, weil sie durch Schmerzanfälle gehindert wurden, und auch diese auflisten. Beide Recherchen erst einmal auf der ersten Zugriffsebene.« 28 29 Die Maschine gibt einen leisen Ton von sich, den Lacey stets als >vor sich hinsummen< bezeichnet. »Ich bin fertig. Der Auftrag zum Datenvergleich ist vollständig ausgeführt. Weitere Beispiele für Erinnerungsprobleme habe ich in meinen Datenspeichern nicht. Ist es möglich, daß die Einheit Mulligan falsche Daten liefert?« »Das ist unmöglich. Warum vermutest du, daß die Daten falsch sind?« »Die Einheit Mulligan arbeitet nicht zufriedenstellend.« »In welcher Beziehung?« »In jeder Beziehung. Sie ist in schlechtem Zustand, arbeitet unkontrolliert und nähert sich dem Zusammenbruch der neutralen Schaltkreise.« »Sag >er<, Buddy, nicht >sie<. Er ist keine Sache!« »Wenn meine Programmiererin darauf besteht, werde ich das tun.« »Ich bestehe darauf. Und was die gestörten Schaltkreis^ betrifft, die korrekte Bezeichnung ist >Intoxikation< oder! >sich betrinken^« »Nur ein vorausgegangener Zusammenbruch kann eine| intelligente Einheit dazu bringen, sich bis zur Funktionsunfähigkeit zu betrinken.« »Nun, mag sein, aber für uns ist er immer noch brauchbar, auch wenn das alles stimmt, was du sagst.« »Wenn meine Programmiererin das sagt, dann betracht ich ihn als nützlich.« »Tu das, ja.« »Befehl ausgeführt. Die Einheit Mulligan ist neu definiert als nützliches menschliches Wesen. Nächster Befehl?« »Bleib in Bereitschaft, bis ich darüber nachgedacht habe.« Lacey läßt die Maschine angeschaltet, steht auf und geht zur Bar, um sich noch ein Glas zu holen. Mulligan ist schon längst weggetreten, sein leeres Glas hält er umgekippt in der Hand und ein dünnes Rinnsal wäßrigen Whiskys ist über sein Hemd gesickert. Als sie ihm das Glas aus der Han< nimmt, seufzt er im Schlaf und windet sich wie in einem schlechten Traum. Lacey befeuchtet ein Tuch am Waschbecken und wischt ihm das Gesicht. Aber auch das kalte Wasser kann ihn nicht wecken. Er bewegt sich nur ein bißchen und seufzt noch einmal. »Armes Schwein«, sagt Lacey, »er kann froh sein, daß er hier in der Republik geboren wurde.« »Meine Datenbank sagt mir, daß auf den Planeten der Allianz alle Paras getötet werden.« »Gewöhnlich schon als Babys, ja. Man kann auch nicht sagen, daß sie in der Konföderation ausgesprochen beliebt sind.« »Ich habe diese Aussage überprüft und festgestellt, daß in der Konföderation die Menschen mit Psi- Talent als geisteskrank betrachtet und in geschlossene, wenn auch sehr komfortable Anstalten gebracht werden, bis ihr Talent durch psychotrope Medikamente zerstört ist.« »Wie ich schon sagte, er kann froh sein, daß er hier geboren wurde. Obwohl er es nicht immer zu schätzen weiß. Mulligan sagt immer wieder, daß er dieses Talent am liebsten los wäre.« »Die Einheit Mulligan ist in ihrer Struktur instabil. Keine funktionsfähige Intelligenz kann den Verlust primärer Programmiermöglichkeiten wünschen.« »Mir wär's recht, wenn du nicht immer schlecht über Mulligan reden würdest. Er ist mein Freund.« Buddy summt kurz vor sich hin. »Ich habe die Definition dieses Begriffs noch einmal abgerufen. Warum sorgst du dich um sein Wohlergehen auch dann, wenn er nicht von Nutzen für dich ist?« »Hör bloß auf! Du weißt verdammt gut, daß das Verständnis für Gefühle wie Freundschaft in deine zentrale Recheneinheit eingebaut ist. Was glaubst du, wer du bist? Mister Spock vielleicht?« »Nein. Es liegt mir nicht, mein Persönlichkeitsmodul in Begriffen einer vergessenen Trivialkultur zu definieren.« »Du wirst dich jedenfalls vorsehen, mein Lieber, sonst 30 31 werde ich dich schneller, als du denkst, auf automatische] Funktionen umschalten ...« Über den Monitor zuckt eine Reihe farbiger Blitze, dann] stellt sich das normale Dunkelgrau wieder ein. »Ich bin bereit für den nächsten Befehl, wenn meine Programmiererin es wünscht.« »So ist es schon besser. Also: Definiere die Datenbanken,] die hinsichtlich der Begräbnisbräuche der Carlis und ihrer] Gesetze betreffs Mord relevant sind, werte alles zur gegenwärtigen politischen Situation in Polar City aus, über Morde der letzten Zeit und so weiter. Frage die Datenbanken ab! und trage alle Informationen zusammen, bis zur vierten Zugriffsebene, die erstens für den Mord und zweitens für den Zwischenfall bei Mulligans Versuch zu lesen relevant] sind. Mach mir einen Ausddruck davon.« »Habe ich richtig verstanden? Relevante Datenbanken definiere ich so: nicht nur meine eigenen, sondern auch alle jene, in die ich mich mit einem Kennwort oder einem Code einschalten kann.« »Genau das meine ich. Wenn du dich in fremde Datenbanken einschaltest, dann benutze eine falsche Identität.« »Programmiererin, ich habe verstanden.« Während Buddy damit beschäftigt ist, sich durch die elektronischen Labyrinthe zu arbeiten, geht Lacey ruhelos im Zimmer hin und her. Sie fragt sich, warum sie sich überhaupt mit Mulligan abgibt. Er platzt bei ihr herein und stört sie bei der Arbeit. Er trinkt Unmengen Alkohol und bedankt sich kaum einmal. Er bettelt um Essen oder braucht eine Bleibe für die Nacht. Mehrere Male hat er schon Geld von ihr geliehen, ohne es je zurückzuzahlen. Er tut ihr leid - ein Para, der an einer Begabung leidet, die ihn zum Außenseiter in dieser Gesellschaft machte und ihn buchstäblich brandmarkte. Aber da war außer Mitleid noch etwas: Sie muß zugeben, daß sie seine Gesellschaft schätzt. Ein nüchterner Mulligan konnte einen ganz gewöhnlichen Morgen zu einer Party werden lassen, einen Spaziergang in die City zu einem 32 regelrechten Abenteuer. Es gab Augenblicke, meistens hatte sie dann selbst schon einige Gläser getrunken, in denen sie sich fragte, ob sie ihn nicht weit mehr mochte, als daß man es Freundschaft nennen konnte. Er war für einen Weißen ein sehr gutaussehender Mann, mit einem weichen, vollen Mund und schmalen Augen. Aber gewöhnlich verbietet sie sich solche Gedanken in dem Augenblick, in dem sie auftauchen. »Ach, Buddy: Schau doch mal in den Fernsehkanälen nach, ob es noch irgendwo ein Spiel gibt? Gib es mir auf den Fernsehschirm. Ich brauche etwas Abwechslung.« »Es gibt nirgendwo ein Ballspiel.« Buddy klingt leicht verärgert und etwas abwesend, wie immer, wenn man von ihm verlangt, eine seiner Nebenfunktionen zu aktivieren. »Aber das hier könnte dich interessieren.« Darauf folgt eine Sondermeldung des Nachrichtenstudios. Die Präsidentin der Republik steht im schmucklosen Pressesaal der Residenz vor ihrem imposanten Pult. Das Haar ist hastig zu einem Zopf geflochten, das Make-up eine kleine Spur verwischt - ein geschickt kalkulierter Effekt, so daß jedermann sehen kann, daß sie von wichtigen Amtsgeschäften sich hat losreißen müssen, um diese nichtssagende, beschwichtigende Erklärung abzulesen. Ein Mitglied der Botschaft der Konföderation sei ermordet worden; sein Name sei Imbethka Gren, was man grob mit >Der, der den Weg ebnet< übersetzen konnte. Er paßte ganz gut zu einem Untersekretär der Botschaft. Die Präsidentin versichert jedermann, daß die Polizei alle verfügbaren Mittel einsetze und daß auch die Staatspolizei sich in die Ermittlungen eingeschaltet habe. »Das wird Bates gefallen«, bemerkt Lacey auf Merrkan, »wenn er an jedem Ärmel so einen Typen von denen hängen hat.« »Sicher«, sagt Buddy, »Chief Bates hat seine Ansichten über die Staatspolizei schon häufiger klargemacht.« »Und so«, erklärt die Präsidentin und blickt geradewegs in 33 die Kamera, die großen, schwarzen Augen so überaus aufrichtig, daß Lacey am liebsten etwas gegen den Bildschirm geworfen hätte, »appellieren wir an alle in dieser Republik, die Polizei in ihren Bemühungen zu unterstürzen. Es ist ungeheuer wichtig, daß diese Sache aufgeklärt wird, so schnell wie irgend möglich.« »Damit die Kons uns nicht in Grund und Boden bombardieren, wollte sie sagen.« Lacey greift nach der Fernbedienung und stellt den Ton ab. »Nicht unnötig aufregen, Programmierer in. Die Allianz würde das nicht zulassen.« »Eines schönen Tages werden es die einen oder anderen darauf ankommen lassen, wie die anderen reagieren. Dann werden wir wirklich und wahrhaftig befreit sein von allem Übel weil es uns nicht mehr geben wird.« »Das wird nicht wegen dieses Mordes geschehen. Nach meiner Berechnung bleiben uns noch vierzehn Komma sechs Jahre, bevor die zunehmenden Spannungen eine Konfrontation unvermeidlich machen.« »Du bist ein echter Trost, mein Schatz.« Weil seine Programmiererin auch feine Änderungen des Tonfalls berücksichtigt, bleiben Ironie und Sarkasmus Buddy nicht verborgen. Er antwortet mit einem leichten Summen. Die Kamera in der Residenz schwenkt herum und bringt in Großaufnahme das Staatswappen; irgendein großer Raubvogel mit einem Bündel Laub in der einen Klaue, einem Raumschiff in der anderen und einem gestreiften Schild vor der Brust. Um den Rand des Wappens windet sich ein Schriftzug: £ steüis pluribus una. Plötzlich ziehen sich eisblaue Streifen über den Bildschirm, bis nur noch Rauschen zu sehen ist. Von draußen hört man ein Grummeln, das zu einem Brüllen wird und schließlich zu einem schrillen Getöse. Lacey steht auf und geht zum Fenster. Vom Raumhafen ist ein Zubringerschiff gestartet und zieht eine Silberschnur hinter sich her. Mulligans Stimmung muß auf sie übergesprungen sein, denn ihre 34 Augen füllen sich mit einigen wenigen Tränen, die sie rasch beiseitewischt. Mulligan hätte wohl eine Chance beim Baseball gehabt, aber sie hat viel mehr aufgeben müssen: die endlose Weite des interstellaren Raums. Abgedroschene Bilder kommen ihr in den Sinn, von Vögeln, die in Käfigen gehalten werden. Sie verscheucht sie mit einem weiteren Schluck Whisky. Die Carlis, die maßgebliche Spezies der Konföderation, waren Augenwesen und schätzten jede Kunstform, die man mit dem Auge genießen konnte. So ist es nicht verwunderlich, daß die Botschaft der Konföderation ein wunderschöner Bau ist, ein anmutig geschwungener Halbkreis aus blaßbeigem Plastbeton, mit einer Oberfläche, die das Fugenmuster einzelner Steinblöcke nachahmt. Das Halbrund des Vorplatzes schmücken routenförmige Blumenbeete, voller roter und blauer Blumen vom Heimatplaneten der Carlis, und sorgfältig beschnittene Dornenbäume, die irgendwie symmetrisch angeordnet sind. Vor dem riesigen Tor, zwei Flügel aus echtem braunen Holz, importiert von Sarah, stehen zwei Menschen in steifen grauen Uniformen Wache. Als Chief Bates kurz nach Mitternacht auftaucht, salutieren sie mit äußerster Präzision und öffnen dann das Tor. Beim Eintreten in die große Empfangshalle hat man das Gefühl, daß es hier an die zwanzig Grad kühler sein muß. Die Wände sind von blassem Blaugrün, der dicke Teppichboden ebenfalls, und in der Mitte der Halle murmelt ein richtiger Brunnen vor sich hin und läßt das Wasser über purpurne Kacheln in ein elfenbeinfarbenes Becken plätschern. An den Wänden über und über Metallskulpturen, die bevorzugte Kunstform der Carlis dünne, bizarr geformte Platten aus Gold, Silber, oxidiertem Kupfer und hin und wieder einem Edelstein, die zu einem komplizierten Muster zusammengefügt sind. Jede der Skulpturen ist gut drei mal zwei Meter groß. Bates ist aufrichtig froh darüber, daß er für den Schutz 35 dieser Schmuckstücke nicht verantwortlich ist. Gleich neben dem Brunnen steht ein großer Schreibtisch aus importiertem Rosenholz, so glatt poliert, daß der Computer darauf bis zur letzten Taste widergespiegelt wird. Auch am Schreibtisch sitzt ein Mensch, eine Frau diesmal. Sie ist jung, hat rotblondes Haar und grüne Augen. Obwohl viele der Menschen, die innerhalb des Territoriums der Konföderation lebten (und das umfaßte mehr als zwanzig Systeme), weiß waren, so betrachtete Bates sie als etwas ganz anderes als die Weißen seiner Republik. An den Weißen der Konföderation fielen ihm immer die dünnen Lippen, die kalten Augen und ein ausgeprägter Mangel an Humor auf. Diese junge Frau bildet keine Ausnahme. Er versucht es mit seinem aufmunterndsten Lächeln, aber die einzige Reaktion ist ein Blick, der die Einzelheiten seiner Uniform zu registrieren scheint. »Sie müssen dieser Polizist sein.« »Ich bin der Polizeichef von Polar City.« »Ich habe Anweisung, Sie sofort hineinzuschicken.« Ihr Tonfall sagt, daß sie das für einen großen Fehler hält. »Würden Sie bitte durch die linke Tür gehen?« Die linke Tür trägt ein Messingschild mit einer Aufschrift in Carli und Merrkan, auf dem zu lesen ist, daß sich hier das Büro des Protokollchefs befindet. Weil er erwartet hat, den Botschafter persönlich zu sprechen, ist Bates ein wenig verärgert. Dann erinnert er sich, daß in der Welt der Carlis kein hochgestellter Beamter jemals kurzfristig zu sprechen ist wenn es nicht gerade um Krieg und Frieden ging. Daß der Protokollchef ihn empfangen will, ohne ihn eine Stunde in der Halle warten zu lassen, spricht schon von äußerster Kooperationsbereitschaft. Nach kurzem Klopfen tritt er in einen zweiten großen Saal, der ganz in braunen Farbtönen gehalten ist, ein rötliches und sehr helles Braun, mit Ausnahme eines großen blaugrünen Teppichs an der gegenüberliegenden Wand. Der Schreibtisch des Protokollchefs ist noch größer und glänzt weit strahlender als der in der Ein- 36 gangshalle. Davor geht nervös ein männlicher Carli mit goldenem Fell auf und ab, der die lange grüne Robe der Kriegerkaste trägt. Seine Ohren sind nur halb aufgerichtet, was bedeutet, daß er wirklich bekümmert ist. »Exzellenz«, sagte Bates, »erlauben Sie mir, Ihnen zu diesem Verlust mein aufrichtiges Mitgefühl auszusprechen.« »Ich danke Ihnen.« Eine Pause. »Wir haben mit Ka Gren einen vielversprechenden Mann verloren, der zu großen Hoffnungen Anlaß gab.« Seine Aussprache des Merrkan ist erstaunlich gut; er vermeidet die leichten Knurrlaute beim r, wie sie für die Carlis typisch sind. Aber schließlich ist dies eine hochoffizielle Gelegenheit. »Mein Name ist Hazorth ka PralliFrankmo.« »Ka Pral, ich weiß die Ehre zu schätzen. Ich bin Albert Bates.« »Bates, die Ehre ist ganz meinerseits.« Sie verbeugten sich, dann musterten sie sich gegenseitig einen Augenblick lang, nicht ohne Argwohn. Der Polizeichef ist geneigt, diesen Carli zu mögen. Dieser Name, den er sich zugelegt hatte, bedeutete: Der, der über schmale Brücken geht. Auf Merrkan würde man sagen: ein Haarspalter. Offensichtlich besaß der Protokollchef die Fähigkeit, seine Arbeit mit Humor zu betrachten - und Humor war unter Carlis sehr selten. Seine Ohren richten sich langsam bis zur vollen Länge auf. Das ist ein Zeichen, daß er Bates akzeptiert. »Möchten Sie Platz nehmen und etwas trinken?« Der Protokollchef deutet auf einen niedrigen grünen Diwan unter dem Wandteppich. Abzulehnen hätte als unhöflich gegolten. Also verbeugt sich Bates noch einmal und setzt sich vorsichtig auf die Kante des mit Kissen überhäuften Diwans, während der Protokollchef nach einem Diener klingelt. Eine junge Carli in grauem Overall erscheint und bringt eine Kristallkaraffe und zwei Gläser auf einem Bronzetablett. Sie stellt das Tablett auf das Serviertischchen neben dem Diwan und ver- 37 beugt sich dann so tief, daß sie mit der Nase fast den Erdboden berührt. Der Protokollchef zischt ein Wort in seiner Sprache, worauf sie sich umdreht und rasch verschwindet. »Sie bemüht sich«, sagt der Carli anerkennend, »als sie hier anfing, war sie sehr nachlässig.« »Ach ja«, sagt Bates. »Vielleicht war es schwierig für sie, so weit von ihrem Heimatplaneten weg zu sein.« »Wissen Sie, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht haben Sie recht.« Der Protokollchef gießt eine hellgrüne Flüssigkeit ein und gibt Bates ein Glas; dann nimmt er das seine und setzt sich in die andere Ecke des Diwans. Sie heben beide die Gläser, bewundern flüchtig das Hellgrün und nehmen einen kleinen Schluck. Bates ist hocherfreut, daß es süß schmeckt und nur wenig Alkohol enthält. Es gab bei den Carlis alkoholische Getränke, von denen sogar ein Drache auf Beta-Pic flach auf seinen stacheligen Rücken fallen konnte. »Ich bewundere den Geschmack Eurer Exzellenz in der Webkunst«, sagt Bates mit einem Nicken zu dem grünen Monstrum hinter seinem Rücken. »Ich vermute, daß ein so schönes Stück nicht von unserem armseligen kleinen Planeten stammen kann.« »Er stammt von unserem Heimatplaneten.« Mit einem zufriedenen Seufzer macht es sich Ka Pral in den Polstern bequem. »Er ist auf eine ganz besondere Weise gewebt.« Eine Stunde später nähert sich die Konversation ganz allmählich dem Grund für Bates Besuch. Der Polizeichef erfährt, daß der Ermordete damit begonnen hatte, eine Sammlung von Teppichen im Webstil der guten alten Erde zusammenzutragen, und schließlich berichtet Ka Pral, daß Ka Gren gestern die Botschaft verließ, um eine geheimnisvolle Besorgung zu machen, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, und nie mehr zurückkehrte. »Weil er dienstfrei hatte, hatte ich natürlich nichts dagegen, aber es war doch merkwürdig. Wie die meisten unserer jüngeren Leute brauchte er viel Schlaf und ging normaler- weise sofort nach dem Abendessen zu Bett und schlief, bis er zum Frühstück geweckt wurde.« »Das ist interessant, Exzellenz. Ist es erlaubt zu fragen, wer ihn gewöhnlich weckte?« »Unsere Hausmeisterin, Kaz Trem. Der Hausverwaltungscomputer ist programmiert, automatisch Wecksignale an die Terminals in den Wohnräumen des Botschaftspersonals zu schicken, doch überprüft die Hausmeisterin gewöhnlich am Monitor, ob das Wecksignal beantwortet wird. Wie ich schon sagte, unsere jungen Leute schlafen sehr fest; es hat, soviel ich weiß, mit unserer Natur als fleischfressende Wesen zu tun. Als Ka Gren nicht antwortete, ging Kaz Trem zu seinem Zimmer. Alle Schlösser, mit Ausnahme jener in der Suite und den Amtsräumen des Botschafters, reagieren natürlich auf ihren Handabdruck, und als sie öffnete, fand sie das Bett unberührt. Sie kam sofort zu mir. Wir haben gerade beratschlagt, was zu tun sei, als wir Ihren Anruf erhielten.« Seine Ohren werden schlaff und hängen traurig herunter. »In dem Augenblick, in dem Sie sagten, daß es sich um einen unserer Leute handele, war ich sicher, daß es Ka Gren war. Niemand sonst war außer Haus.« »Und natürlich kam Ihr Sicherheitschef, um ihn zu identifizieren. Es tut mir leid und beschämt mich zutiefst, der Überbringer einer so traurigen Nachricht gewesen zu sein.« »Ich teile Ihre Betrübnis, aber Sie haben keinen Grund zur Scham. »Ich danke Eurer Exzellenz. Ich weiß, daß es vermessen ist, Sie und Ihre Landsleute in Ihrer Trauer zu stören, aber es ist notwendig, einige Fragen zu stellen ...« »Wir werden gerne Ihre Fragen beantworten, so weit wir können. Bates, meine Spezies gleicht der Ihren in dem Bedürfnis nach Vergeltung. Ich wünsche, daß der Mörder Ka Grens gefunden und vor Gericht gebracht wird - das heißt natürlich, wenn dieses Wesen Ihrer Gerichtsbarkeit untersteht.« Bates stutzt, dann versteht er die Andeutung. Ka Pral 38 39 meint, daß der Mörder vielleicht in der Botschaft der Allianz zu finden ist und daß er diplomatische Immunität genießt. »Ich freue mich, das zu hören, Exzellenz. Was für einen Grund könnte der junge Ka Gren denn gehabt haben, in die Stadt zu gehen, ohne jemandem etwas zu sagen?« »Ich kenne den Grund nicht, aber ich habe zwei Vermutungen. Erstens, er könnte sich in der Stadt mit Spielern getroffen haben. Wie Sie sicher nur zu gut wissen, sind unsere jungen Leute in die Kartenspiele der Menschen geradezu vernarrt. Zweitens, und das ist etwas schwieriger zu erklären, könnte es mit Ka Grens Diensteifer zu tun haben. Er war für uns so unersetzlich, weil er, wie man es in Ihrer Sprache sagt, ein Draufgänger war und stets bereit, Aufgaben zu übernehmen, die nicht zu seinen unmittelbaren Pflichten gehörten. Natürlich haben wir hier in der Botschaft die Aufgabe, gute Beziehungen mit Ihrer bewundernswerten und ruhmreichen Republik herzustellen und aufrechtzuerhalten.« »Natürlich.« Der Carli zögert, die Ohren halb gesenkt, als sei er unsicher, ob Bates ihn überhaupt verstehen könne. Weil Bates nicht sicher ist, ob er die Andeutung verstanden hat, beschließt er, eine äußerst versteckte Andeutung seinerseits anzubringen. »Natürlich gibt es noch andere souveräne Staaten, die weniger bewundernswert sind.« »Natürlich.« Wieder zögert Ka Pral. Es ist zu offensichtlich, daß er etwas zu verstehen geben möchte, ohne es - um Himmels willen! - auszusprechen. »Haben wir Dinge zweifelhafter Natur in unserer Mitte«, sagte Bates, »dann ist es wichtig, daß wir wachsam und jederzeit zum Handeln bereit sind.« Ka Pral seufzt erleichtert auf. »Das ist nur zu wahr, Mr. Bates, und wunderschön gesagt.« Verflucht, der Kleine hatte wohl auf eigene Faust Spionage bei der Allianz betrieben. War es das? Dann war es ein Tanz auf dem Vulkan. Von der Tür her hört man ein tiefes Pfeifen, das war bei den Carlis ein Signal wie das Anklopfen bei den Menschen. Ka Prals Ohren richten sich auf und werden spitz vor Ärger. »Möchten Sie bitte meine Unhöflichkeit und die meiner Mitarbeiter entschuldigen, Mr. Bates?« »Selbstverständlich, Euer Exzellenz. Ich weiß nichts von einer Unhöflichkeit.« Mit raschelnder Robe durchquert der Protokollchef den Raum und stößt die Tür auf. So erschrocken, daß sie nur stammeln kann, bringt die junge Dienerin ein paar Sätze auf Carli hervor. Der Protokollchef hebt überrascht die Hände. »Chief Bates, es gibt Neuigkeiten.« Mit einem Fingerschnipsen entläßt er die Dienerin und schließt die Tür. »Ein Botschaftsangehöriger, ein Koch namens Gri Bronno, ist verschwunden, und mit ihm einer unserer Gleiter.« Bates wuchtet sich vom Diwan in die Höhe und eilt herbei. »Wenn Sie mir eine Beschreibung der Maschine geben können, Euer Exzellenz, dann werde ich sofort meine Leute alarmieren.« Es ist zwei Stunden nach Sonnenuntergang, und Little Joe Walker muß sich nun daran machen, seinen zerbeulten alten Gleiter im Gestrüpp zu verstecken, etwa fünfzehn Kilometer südöstlich von Polar City. Obwohl er nun einige Kilometer zu gehen hat und diese Art der Fortbewegung von Herzen verabscheut - die Straße ist unwiderruflich zu Ende, denn hier beginnt das Gebiet, das man für das Rehydrierungsprojekt reserviert hat. Ärgerlich vor sich hin murmelnd ist er 40 41 ausgestiegen und hat die Kabinentür verschlossen. Jetzt öffnet er den Kofferraum und holt einen lichtabsorbierenden Tarnüberzug hervor. Es ist ein Ausrüstungsgegenstand, den man eigentlich bei einem Zivilisten nicht zu finden erwartet. Doch Little Joe hat so manches Stück fortschrittlichster Technik in seinem Fundus, das für gewöhnliche Bürger auf Hagar eigentlich nicht zu haben ist. Zwar wird es von den Generalstäben in schöner Regelmäßigkeit dementiert, doch gibt es eine Menge Offiziere und einfache Soldaten bei Flotte und Bodentruppen, die reichlich Rauschgift konsumieren und dafür alles aus den Arsenalen verkaufen, was nicht niet- und nagelfest ist. Nachdem er den Tarnüberzug über den Gleiter ausgebreitet hat, tritt Little Joe einige Schritte zurück, um das Ergebnis seiner Mühe zu betrachten. Aus zwei Meter Entfernung scheinen sich die Konturen der Maschine aufzulösen und mit den unregelmäßigen Schattenfiguren unter den Dornenbäumen zu verschmelzen; vier Meter, und man hätte geschworen, daß es hier nicht einmal etwas gab, das man hätte tarnen können. Little Joe erlaubt sich ein kleines Lächeln. Der Tarnüberzug hat ihn ein Kilo seines besten Stoffs gekostet, aber er war es wert; und er schreibt sich ins Gedächtnis, daß er bei nächster Gelegenheit Ismail Inballah, den Gehilfen des Quartiermeisters, fragen muß, ob er ihm nicht eine superleichte Jacke aus dem gleichen Material besorgen könne. In Little Joes Gewerbe wäre ein solches Ding äußerst nützlich. Der Gleiter lag hier sicher. Little Joe läßt die Straße hinter sich. Er findet einen schmalen Pfad durch das Gestrüpp, kaum breit genug für seine wuchtigen Schultern. Dieser stachlige Dschungel ist die einzige natürliche Vegetation auf diesem Teil des Planeten: Dornenbäume, Hakenbüsche, dazu eine niedrig wachsende Schlingpflanze, die man Schmutzrebe nennt; den Boden bedeckt das allgegenwärtige >Gras< mit seinen fleischigen Blättern, die beim Auftreten häßlich knirschen. Und das alles ist verwoben zu einem fast undurchdringlichen Geflecht, das die Einschnitte und Gräben auskleidet, dunkle Streifen im Gelände, die das Vorhandensein von Wasser tief unter den sonnenverbrannten Hügeln von Hagar verraten. In dem Dornendschungel leben hauptsächlich Insekten, einige wenige Pseudoreptilien und hier und da flugfähige Warmblüter. Kleine Nagetiere nicht zu vergessen, die den grauen Hausratten auf der guten alten Erde so verblüffend ähneln, daß niemand sie anders als >Ratten< nennt und die genaue Bezeichnung den Wissenschaftlern überläßt. Die Fossilienfunde auf Hagar belegten, daß vor langer Zeit die übliche Artenvielfalt hier gedieh, doch starben die meisten Arten aus, als der Planet den größten Teil seines Wassers bei jener rätselhaften Katastrophe eine Million Jahre zuvor verlor. Die vergleichsweise wenigen überlebenden Spezies waren nun kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, sie waren auch nur vordergründig an den jetzigen Zustand des Planeten angepaßt. Nur anhand von Fossilien war eine zusammenhängende Entwicklungslinie herauszufinden. Der Pfad führt am Rand eines riesigen Kraters entlang, der vor der Katastrophe ein See gewesen war - und der, wenn man Erfolg haben sollte, eines gar nicht so fernen Tages wieder zum See werden würde. Dort in der Mitte des Kraters, wo die blauen Flutlichtstrahler über den Arbeitern schweben, kann Little Joe sehen, wie die Schutzhülle von den riesigen Brocken Kometeneis geschnitten wird, die man im Orbit eingefangen und mit Gravitationsgeneratoren zu Boden gebracht hat. Man läßt sie hier unten einfach verdunsten oder das Schmelzwasser in den Untergrund eindringen; den Ingenieuren ist das gleich, solange das kostbare Wasser in den Kreislauf des Planeten gelangt. Nach siebenundvierzig mühevollen Jahren scheint das Projekt erste Erfolge zu zeigen: Im letzten Winter hat es doch tatsächlich in der Polarregion geregnet, zum ersten Mal seit einer Million Jahren. Little Joe war zwar wie alle anderen nach draußen getreten, feierlich stand man in dem kurzen Niesel- 42 43 regen, als wäre es Allahs Segen, der da vom Himmel fiel doch war ihm gar nicht wohl in seiner Haut. Er war in Polar City geboren und aufgewachsen, und daß Wasser einfach vom Himmel fiel, das irritierte ihn: Das war die pure Verschwendung, und außerdem war es absolut unnatürlich. Einen halben Kilometer voraus folgt der schmale Weg nicht weiter dem Kraterrand, sondern wendet sich jäh hügelabwärts. Hier ist das Gestrüpp besonders dicht, und es geht nun in Richtung des langen, staubigen Tals, das man damals für die erste Kolonie auf diesem Planeten ausgewählt hatte. Die alten Bauten aus Betonplatten und geschäumten Kunststoff sind halb zerfallen, eine Ruinenwelt von mehreren tausend Hektar, in deren Gassen sich Schrott und Abfall aus hundert Jahren angehäuft haben. Während Little Joe bergab geht, kann er schwache Lichtpünktchen sehen, die sich durch das >Rattennest< bewegen; so hat man diese Gegend getauft. Hier leben Angehörige der verschiedensten Spezies zusammen, vielleicht hundert alles in allem. Aus Türen verschrotteter Gleiter und herumliegenden Kunststoffplatten haben sie sich Hütten gebaut, oder sie hausen in Erdhöhlen, die sie mit allerlei Fundstücken aus der nahen Stadt eingerichtet haben. Die meisten sind schlicht und einfach verrückt, einige wenige verstecken sich hier auch vor der Polizei. Bevor er das Rattennest erreicht, macht Little Joe die Laserpistole im Schulterhalfter schußbereit. Obwohl die Slumbewohner ihn kennen, weil er regelmäßig hier zu tun hat, kann es nicht schaden, auf der Hut zu sein. Doch als es Ärger gibt, liegt es keineswegs an den Verrückten hier. Er hat fast die ersten Ruinen des Rattennests erreicht, als silbernes Licht den Himmel erhellt; starke Scheinwerfer streichen über das Gelände und verfehlen ihn nur knapp. Jetzt hört er auch das heulende Geräusch von zwei Polizeigleitern, die tief heruntergehen und das Tal absuchen. Mit einem häßlichen Fluch läuft Little Joe los, duckt sich, so tief er kann, und rennt im Zickzackkurs auf die Hütten zu. Von dort hört man Schreie und wütendes Gebrüll, gelegentlich auch ein Scheppern, wenn einer der Bewohner mit einem Stein einen Gleiter trifft. Er atmet jetzt stoßweise, keucht, die Beine schmerzen. Er ist verzweifelt: Wenn sie nach ihm suchten - heute könnten sie Glück haben. Ein Lichtstrahl erfaßt ihn, verharrt und huscht dann suchend weiter. Die Gleiter fliegen eine Kurve, steigen auf und kommen im Tiefflug wieder zurück. Sie nehmen Kurs auf das andere Ende der Ruinenstadt. Doch während sie vorbeisausen, beginnen sie zu feuern - Plastikgeschosse, die angeblich niemanden töten können, sondern nur betäuben, aber Little Joe mißtraut dieser Theorie ganz und gar. Deshalb nimmt er seine letzten Kräfte zusammen und spurtet hinüber zu einem hohen Stapel aus Plastikabfällen. Doch plötzlich spürt er, daß der Boden unter seinen Füßen nachgibt; mit einem Schrei will er anhalten, aber es ist zu spät. Mit Gepolter gibt der Boden nach, eine Höhle tut sich unter ihm auf, so daß er gut drei Meter inmitten eines Bergs von Abfall hinunterrutscht. Fluchend rollt er sich zur Seite, noch rechtzeitig genug, um nicht von den schweren Schrotteilen einer Klimaanlage erschlagen zu werden. Einige Minuten liegt er einfach da und schnappt nach Luft. Er befühlt seine Knochen, sie sind noch heil. Sicher hat er einige üble Prellungen und Blutergüsse abbekommen, aber im großen und ganzen scheint er unversehrt zu sein. Er steht auf. Über sich kann er die Farbenpracht des Nachthimmels erkennen, sie dringt durch ein Loch vielleicht drei Meter über dem Boden, wenn nicht mehr. Weil Little Joe genau zwei Meter groß ist, bleibt da ein nicht unbeträchtlicher Rest. Er muß sich etwas einfallen lassen. Er findet seine kleine Taschenlampe, stellt einen schmalen Lichtstrahl ein, dann tastet er damit den Rand der Öffnung ab, durch die er eingebrochen ist. In dem Unrat kann er einige verrottete Holzplanken erkennen; offensichtlich hat jemand diese Höhle vor langer Zeit mit Brettern überdacht, sie muß aber schon lange aufgegeben worden sein. 44 45 Er läßt den Strahl der Taschenlampe langsam und stetig über seine Umgebung gleiten; es stinkt hier als hätte jemand versucht, eine ganze Reihe der übelsten Gerüche an einem Ort zu versammeln. Zum Glück gibt es eine Unmenge Schrott und Gerumpel in diesem Loch. Neben dem Kasten der Klimaanlage findet er mehrere dicke Bruchstücke von Plastbetonplatten, eine stabile Kiste aus Schaumstoff und allerlei Steinbrocken und anderes, das er auftürmen kann. So müßte er aus seinem Gefängnis herausklettern können. Er sagt sich, daß eine Pyramide wohl das stabilste wäre, und sucht nach einem kleinen Absatz oder einer Stufe in der Wand, wo er die Taschenlampe deponieren kann. In einer Ecke entdeckt er einen glänzenden Gegenstand. Als er ihn aufhebt, huschen raschelnd Ratten davon. Ihn schaudert. Sein Fund entpuppt sich als ein poliertes, metallenes Kästchen von grauer Farbe. Auf einer Seite sind Zeichen einer fremdartigen Schrift eingeprägt; an einer Schmalseite ist ein dünner Schlitz. Weil Little Joe so etwas noch nie gesehen hat, läßt er es unter sein Hemd gleiten. Es ist die reine Neugier, daß er es an sich nimmt. Dann findet er auch eine geeignete Stelle für seine Taschenlampe, nun auf breiten Strahl eingestellt, und kann anfangen, seine Pyramide zu bauen. Der erste Meter aus den Plastbetonplatten und der Schaumstoffkiste, die er der Stabilität halber mit Abfall füllt, ist einfach. Als er hinaufsteigt, kann er den Rand der Grubenöffnung erreichen, doch zerbrechen die morschen Planken, sobald man kräftig zupackt. Er steigt wieder von der Pyramide, holt den Kasten der Klimaanlage und benutzt ihn als Rammbock, um die wachsweichen Holzreste loszuschlagen, bis er auf festes Material stößt. Aber nun ist das Loch so groß geworden, daß der feste Rand weitab von seiner Pyramide liegt. Er steigt herunter, flucht leise vor sich hin und bringt das Gerumpel Stück für Stück in eine neue Position. Obenauf legt er den Kasten der Klimaanlage. Während er wieder hinaufklettert, fühlt er kal- 46 ten Schweiß seinen Rücken herunterrinnen. Wenn er nicht aus diesem Loch herauskommt, könnte er hier glatt verhungern, bevor ihn jemand findet jemand, der nicht verrückt ist. Aber zu verhungern wäre immer noch besser als das, was er von einigen der Verrückten zu erwarten hatte, wenn sie ihn als unerwünschten Besucher betrachteten. Zwar kann er jetzt den Rand der Öffnung erreichen, aber der Winkel ist noch immer ungünstig, und so beschließt er, noch etwas zu suchen, das er auf die Pyramide legen kann. In der Ecke, in der er das geheimnisvolle Kästchen gefunden hat, liegt auch ein feuchtgewordener Karton. Als er ihn aufhebt, löst er sich in seinen Händen auf. Er riecht muffig wie nach modrigen Pilzen. Er läßt das Zeug fallen und macht einen Schritt zurück. Es ekelt ihn, er wischt sich die Hände an seiner Jeans ab. »Verdammt, was ist das?« Der Gegenstand liegt auf dem Boden in einer Pfütze aus silbrigem Schlamm, der nach verdorbenem Weinessig riecht. Es ist vielleicht ein Meter lang und sieht aus wie das Bein eines Rieseninsekts. Mit einer Chitinschicht, mehreren Gelenken und einem Paar Greifzangen am Ende. Kurz hinter den Zangen spannt sich ein metallenes Band um das Bein, und an dem Band befindet sich ein kreisrunder Gegenstand, der ein wenig einem Chronometer ähnelt. Obwohl Little Joe nie ein College von innen gesehen hat, weiß er genug über die Welt, in der er lebt, um zu erkennen, daß dieses Bein zu keiner Spezies gehört, von der man in der Republik oder in den angrenzenden Imperien je gehört hat. In seiner Phantasie sieht er drei Meter große Insektenwesen vor sich, die aus den düsteren Tiefen des Planeten hervorkrabbeln. Bestien, die seit Urzeiten voller Mordlust dort lauern. Als Junge begeisterte sich Little Joe an Horrorfilmen der schlechtesten Sorte; damals fand er das lustig. Aber das würde er jetzt nicht mehr so sehen. Mit einem erstickten Aufschrei springt er auf die Müllpyramide, bekommt den Rand der Öffnung zu fassen und bau- 47 melt jetzt hin und her. Verzweifelt versucht er, mit den Füßen an der Wand der Grube einen Halt zu finden. Seine Arme schmerzen, er ist am Ende seiner Kraft. Schweiß brennt in seinen Augen. Schon geben die mürben Planken unter seinen zerschundenen Fingern nach, und hinter sich hört er ein Rascheln, ein Scharren: Insektenbeine, das muß es sein. Sie kommen, aus der Tiefe kommen sie herauf gekrochen. Er nimmt all seine Kräfte zusammen und zieht sich in die Höhe, schon ist er halb aus dem Loch, um Kopf und Schultern bläst die frische Nachtluft; doch die Planken geben nach, und länger kann er sich nicht mehr festhalten. Jammernd, fast in Tränen, fällt er zurück. Als er über die Schulter blickt, sieht er die Augen einer Ratte im Licht der Taschenlampe rot aufleuchten. Noch ein Versuch, noch ein Klimmzug - und dieses Mal packt etwas von oben seine Handgelenke. Little Joe schreit laut auf. »Ich bin' doch!« Es ist Sallys Stimme, und sie macht sich lustig über seine Angst. »Ich und Ibrahim ... wir haben dich gesehen und wollen dir helfen. Also halt dich fest! ... Halt dich an mir fest, du Esel, und nicht an diesem dämlichen Brett und dem andern Zeug!« Keuchend tut Little Joe, was man ihm sagt. Eine große weiße Frau kniet am Rand des Lochs und streckt ihm ihre Arme entgegen, kräftige Arme, denn sie ist eine Karateka. Sie sagt, er solle ihre Arme oberhalb der Ellbogen greifen. Dieses Mal hat er besseren Halt. Mit den Füßen scharrt er an der Wand, und Sally zieht ihn hoch. Hinter ihr hockt Ibrahim, der ihre Waden fest gegen den Boden preßt, damit sie nicht fällt. »Scheiße«, sagt Little Joe. »Das ist das einzig richtige Wort: Scheiße!!« »Wie, zum Teufel, bist du da reingekommen?« Sally läßt ihn los und bleibt noch einen Augenblick sitzen, um sich den Staub von ihrer lavendelfarbenen Bluse zu klopfen. »Hat dich die Polizeipatrouille da reingescheucht?« »Diese Bretter haben nachgegeben, Mensch, als ich vor den Bullen weggerannt bin. Da unten muß mal jemand gewohnt haben.« »Wir haben dich gesucht«, sagt Ibrahim. »Und dann kam dein Kopf hier aus dem Loch geschossen, wie ein Sandwurm, der Insekten fängt. Wir dachten, daß du in Schwierigkeiten bist.« »Ach ja, eine brillante Idee. Daß du darauf überhaupt gekommen bist!« »Wir können dich ja wieder reinwerfen, wenn dir irgendwas nicht paßt.« »Ihr zwei Blödmänner, haltet bloß eure Klappe!« Sally ist ärgerlich. »Hast du die Kohle?« »Sicher. In republikanischen Zwanzigern, wie du es wolltest. Wo ist der Stoff?« »Komm mit. Ich habe auch eine Thermoskanne Kaffe. Du siehst aus, als könntest du welchen brauchen.« »Allah sei mit dir.« »Danke! Ich brauche selber eine Tasse. War wirklich eine blöde Nacht. Als ich unterwegs war, um den Stoff zu besorgen, da begegnete mir doch ein Kerl, ein Blanco, der sich mitten auf der Straße die Kleider vom Leib reißt! Er hatte darunter noch Hemd und Hose an, und es sah aus, als wollte er das Zeug in den öffentlichen Recyclingbehälter stopfen.« Little Joe nickt zustimmend. Er überlegt, ob er ihnen von dem Kästchen mit der fremden Schrift und dem Insektenbein erzählen soll, aber er kann sich nicht dazu entschließen. Seit drei Jahren schon macht er Geschäfte mit Sally Pharis und Ibrahim, in Drogen - aber in Polar City zahlt es sich nicht aus, zuviel zu reden, außer natürlich, wenn man dafür bezahlt wird. Der Autopsiebericht über Imbeth ka Gren ist einfach und klar: Der Carli war bei bester Gesundheit; er hatte nicht die geringste Spur irgendwelcher Drogen in seinem Blut, nicht 48 49 einmal ein Bier hatte er getrunken. Es gab keine Prellungen ein Hinweis, daß er nicht gefallen war, sondern aufgefangen und vorsichtig zu Boden gelegt wurde. Der Hals war von rechts nach links durchschnitten worden, und zwar von einem Wesen, das extrem kräftig war und überhaupt nicht zitterte: Der Schnitt war völlig glatt und gerade. Weil man sich das meiste davon denken konnte, wenn man nur die Leiche richtig angesehen hatte, löscht Bates ärgerlich den Bildschirm und holt sich die Aufstellung über die Utensilien des Toten, die man bei der Einlieferung in die Gerichtsmedizin gemacht hatte. Das meiste, was er bei sich trug, war ganz gewöhnlich und unbedeutend, bis auf eines: Er hatte über tausend Dollar in der Währung der Republik bei sich, die ziemlich leichtsinnig in eine Innentasche seiner Robe gestopft waren. Weil die Republik der einzige Staat im bisher erforschten Raumsektor war, in dem noch mit Bargeld bezahlt werden konnte, gingen ausländische Besucher mit richtigem Geld gewöhnlich recht sorglos um: Sie konnten nicht recht glauben, daß es, anders als ihre elektronischen Kreditkarten, wirklich weg war, wenn es gestohlen wurde. Bates überdenkt kurz die beiden Theorien Ka Prals, Glücksspiel oder Spionage. Geld paßte zu beidem, doch ist der Polizeichef geneigt, auf die Andeutungen Ka Prals einzugehen und das Geld als Entgelt für einen Informanten zu betrachten. Weil es sich nun in einem versiegelten Umschlag in der Leichenhalle befindet, ist anzunehmen, daß Ka Gren getötet wurde, bevor er seinen Kontaktmann traf, vielleicht auf dem Weg zum Treffpunkt. Zog man eine gerade Linie von der Botschaft der Konföderation bis zum Fundort der Leiche, dann ergab das einen Pfeil, der direkt in die übelste Gegend von Porttown zeigte. Bates seufzt, er hätte es wissen müssen. Er löscht das Bild und denkt an die >A-bis-Z-Unternehmungen< und an Lacey, die eigentlich immer weiß, was gerade so läuft in dem größtenteils weißen Ghetto. Aber noch ist er zu stolz und beschließt, es erst einmal ohne sie zu versuchen; klein beigeben und sich auf den Weg zu Lacey 50 machen, das kann er schließlich immer noch. Er brauchte einen gutgetarnten Mann in Porttown, und zwar schnell. Als er nach dem Telefon greift, zögert er. Wen will er eigentlich anrufen? Naheliegend wäre natürlich das Sittendezernat, denn die kennen sich in Porttown aus - aber es gibt nichts Korrupteres im Polizeidienst als diese Kerle, und er hat es bis heute nicht geschafft, dort für Ordnung zu sorgen. Die meisten Beamten dieser Abteilung waren Proteges von Politikern, die so für unsaubere Gefälligkeiten belohnt wurden, denn nirgendwo sonst konnte man so leicht den einen oder anderen ebenso unsauberen Dollar verdienen. Als Bates sein Amt übernahm, schärfte ihm der Commissioner ein, daß das Sittendezernat nicht in seiner Zuständigkeit läge. Dann erinnert er sich an die Anweisungen aus dem Büro der Präsidentin und lächelt genüßlich. Die Staatspolizei sollte sich also in die Ermittlungen einschalten? Sehr schön. Dann sollten sie mal selber in Porttown nachsehen und herausfinden, wer Ka Gren Informationen verkaufen wollte, die einen Mord wert waren. Um diese Zeit der Nacht kommt so langsam Leben in Kellys Bar und Restaurant. Es ist ein recht buntes Publikum, hier am Rand von Porttown; da sind die wohlhabenderen Ghettobewohner auf der einen Seite und auf der anderen die Geschäftsleute - Schwarze und Lizzies -, die etwas Slum- Atmosphäre schnuppern wollen und außerdem von Kellys guter Küche angelockt werden. Eine Hälfte des Lokals ist für das Restaurant reserviert, es ist geschmackvoll zurechtgemacht mit Tischdecken und Servietten aus echter Baumwolle, über die Wände rundherum zieht sich ein Gemälde: eine Raumregatta im Asteroidengürtel. Die andere Hälfte gehört der Bar, der Plastbeton ist von Hand bearbeitet, daß man glaubt, gemasertes Holz vor sich zu haben. Kelly ist ein untersetzter Mann, der dank des Verjüngungsmittels scheinbar bei dreißig stehengeblieben ist, wenn man auch 51 einige graue Strähnen im dunklen Haar sieht. Wie gewöhnlich geht er unruhig hin und her, rückt Tischdecken und Servietten zurecht, starrt mißtrauisch auf die Robotkellner an der Bar, als ob man befürchten müsse, daß sie jederzeit sich selbständig machen könnten; dann wischt er ein Stäubchen von dem Kaukraut-Automaten und streicht ein Hologramm an der Wand glatt. Ein buntes Publikum. Viele der Leute an der Bar hat Kelly noch nie gesehen. Doch die meisten Gäste kennt er, sie kommen regelmäßig, darunter zwei Assistenten von der Finanzbehörde, die etwas zu stolz ihre Miniterminals am Gürtel tragen. Aber wie alle Stammkunden sind sie Baseballfans und verschmähen auch nicht die Spiele der Semiprofi-Liga. »He, Kelly«, sagt Nkrumba. »Ich hab' gehört, daß die Mac's Discount Mamuders Jack Mulligan einen Vertrag gegeben haben.« »Mensch, du mußt aber auch alles ausplaudern!« sagt Kelly mit einem Grinsen, um seine Enttäuschung zu verbergen. »Ich wußte nicht, daß er zu haben ist, vielleicht hätte ich ihn in mein Team geholt.« »Man sagt, daß er ein Para ist. Vielleicht kannst du Protest einlegen.« »Ach was, was soll das? Und wenn er schon vorher weiß, wohin der Ball fliegen wird fangen muß er ihn trotzdem, oder? Außerdem frage ich mich, ob es nicht viel eher ein Handicap ist, wenn man hellsehen kann. Du mußt dich zwingen, auf den Ball zu achten, anstatt in die Zukunft zu sehen, nicht wahr?« »Da könntest du recht haben. Ich sehe ihn wirklich gern auf dem Spielfeld. Für einen Weißen ist er verdammt gut.« Kellys Grinsen wird etwas säuerlich. Seiner Meinung nach ist Mulligan als Shortstop genauso gut wie irgendein schwarzer Spieler, aber er möchte keinen Ärger mit der schwarzen Kundschaft. Also schweigt er. Einer der Zufallsgäste, ein blonder Weißer, mittelgroß, aber ausgesprochen muskulös, mischt sich beiläufig ein. Ein Raumfahrer höchstwahrscheinlich, denkt Kelly. »Entschuldigung, was war das für ein Team, das Jack engagiert hat?« »Die Mac's Discount Marauders.« Kelly spricht es langsam und deutlich aus, es sind seine Erzrivalen in der Semiprofi-Liga, und darum macht es ihn etwas ärgerlich. »Mistkerl. Ich meine Mac, nicht Mulligan.« »Nicht übel.« Der Fremde nickte beifällig. »Wann ist das nächste Spiel?« »Die Saison beginnt erst nächste Woche, mein Lieber. Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?« »Draußen im Asteroidengürtel.« Der Mann schenkt ihm ein kurzes Grinsen. Ein Raumfahrer, also doch. »Nächste Woche?« »Ja, am Donnerstag. Wir haben die Ehre, meine Sportskanonen und ich. Wird sicher ein gutes Spiel.« »Prima. Werde versuchen, mir die Zeit dafür zu nehmen.« Er lächelt, dann weicht er Kellys Blick aus. »Ich kenne Mulligan ein wenig. Wird mich freuen, ihn wiederzusehen, wenn ich ihm nicht schon früher über den Weg laufe ... man wird sehen.« »Es lohnt sich immer, ihm zuzusehen«, sagt Nkrumba. »Gehört eigentlich in die Profiliga, der arme Kerl. Aber wenn wir schon von weißen Shortstops reden, da wird es nie wieder einen geben, der es mit Wally Davies von der alten Nationalliga aufnehmen könnte.« Das führt zu einer ermüdenden, nicht enden wollenden Diskussion, was der Fremde dazu nutzt, seine Zeche zu bezahlen und sich davonzumachen. Etwas an ihm hat Kelly gestört. Einige Zeit später fällt ihm ein, was es war: An seinem linken Ärmel waren Flecke, Bier oder vielleicht Kaffee. Und weil Kelly nichts höher schätzt als Sauberkeit, stört ihn das. Diese verdammten Raumfahrer sind allesamt Schmutzfinken, und dieser eine bringt noch seine weißen Brüder in Verruf. 52 53 Weil jedermann in den weniger feinen Gegenden von Polar City weiß, daß Lacey immer bereit ist, für eine gute Geschichte gutes Geld auszugeben, ist sie keineswegs überrascht, als Little Joe Walker bei ihr auftaucht und verkündet, daß ihm etwas wirklich Ungewöhnliches passiert sei. Um diese Zeit, etwa Mitternacht, hat Mulligan es geschafft, in seinen wilden Träumen von der Couch zu rollen und sich in einer Ecke des Zimmers zu verkriechen. Lacey überlegt, ob sie ihn wecken soll, damit er sich einen anderen Platz zum Schlafen sucht, aber da sich Little Joe offensichtlich nicht gestört fühlt, läßt sie es sein. Mulligan hat sich um das Kissen in seinen Armen herum zusammengerollt, den Kopf in einem unmöglichen Winkel nach vorn geknickt wie eine schlafende Katze. So, wie Little Joe spricht, hastig, in abgehackten Sätzen, kann Lacey erkennen, daß er wirklich aufgeregt ist, und nachdem sie die Geschichte gehört hat, ist sie mit ihm der Meinung, daß ungewöhnlich tatsächlich das richtige Wort dafür ist. »Aber nun hör mal, mein Lieber.« Lacey lehnt sich in ihrem Sessel zurück und schwingt die Beine auf den Computertisch. »Wenn du behauptest, daß da etwas aus der Tiefe kam und sich über dich hermachen wollte, dann mußt du doch einen Grund haben! Du bist doch nicht irgend eo ein Blödmann, der nicht merkt, wenn er phantasisert!« »Gracias.« Es schien von Herzen zu kommen. »Ich wußte schon gar nicht mehr, wer ich war, da unten im Loch.« »Ach Mensch, jeder würde kalte Füße kriegen, der in einer Höhle festsitzt, während oben die Bullen rumschwirren und neben ihm Leichenteile herumliegen - ich denke, daß man etwas als Leiche bezeichnen kann, das ein Chronometer trägt oder ähnliches. Aber jetzt reiß dich zusammen und denk nach. Geh alles noch einmal durch.« Little Joe beißt in einen Apfel und macht es sich auf dem Sofa gemütlich, während er denkt. Lacey hat die Computertastatur auf dem Schoß und legt einen neuen File für Little Joes Bericht an. Buddy läßt eine Frage über den Monitor huschen. »Keine akustische Eingabe? Ist noch jemand im Zimmer?« »Ja, ein Freund, aber ich weiß nicht, wie weit ich ihm vertrauen kann.« »Verstehe. Ich bin bereit.« Während Little Joe noch immer vor sich hingrübelt, tippt sie eine gute halbe Seite, einen groben Bericht über sein Erlebnis, bis hin zu seinen panischen Versuchen, aus der Grube zu entommen. »Ich hab's! Du hast recht, Lacey. Wenn ich an das Bein denke der Boden war weich, als wäre er vor kurzem umgegraben und wieder eingeebnet worden.« »Dachte ich mir.« »Schau dir das hier mal an. Ich habe das verrückte Ding dort gefunden.« Er reicht Lacey das metallene Kästchen, und sie betrachtet es eingehend. Die Schriftzeichen sind ihr fremd. Sie schiebt das Kästchen in die Öffnung ihres Schreibtischs, hinter der sich Buddys Scanner befindet, dann drückt sie rasch einige Tasten. »Überprüfen, ob es sich um Schriftzeichen handelt. Wenn ja, identifizieren und übersetzen. Gib die Funktion dieses Gegenstands an.« Eine ganze Weile hört man Buddy nur summen. »Befehle undurchführbar. Habe keine Daten, die einen Vergleich ermöglichen.« »Keine, Buddy?« »Nicht ein einziges Byte, Programmierer in. Ich kann nur einige logische Schlüsse ziehen: Dieser Gegenstand wurde von einer unbekannten Rasse hergestellt. Er ist Produkt einer fortgeschrittenen Technologie, deren Computertechnik aber noch auf Siliziumchips basiert. Sein ...« »Das reicht. Solche Schlüsse kann ich selber ziehen. Bitte bleib in Bereitschaft. Ich muß mich erst um meinen Besuch hier kümmern.« 54 55 Little Joe, der sie die ganze Zeit beobachtet hat, bekommt einen gierigen Blick. »Was Interessantes?« »Ja, sehr interessant. Was willst du dafür haben?« »Kommt drauf an, was es ist.« »Buddy kann uns nicht ein einziges verdammtes Wort darüber sagen.« »Oh.« Für einen Augenblick sieht Little Joe besorgt aus. »Sag bloß, du glaubst, daß das Ding gefährlich ist?« »Nicht sehr vertrauenswürdig, bestimmt.« »Mir ist es auch unheimlich. Hör mal, Lacey, jeder weiß, daß du reell bist. Kann ich es dir hier lassen, auf Kredit sozusagen? Ich meine, du gibst mir das Geld, wenn du weißt, was es ist.« »Damit es im Falle eines Falles vor meiner Nase in die Luft fliegt und nicht vor deiner, richtig?« »Heh, so habe ich das nicht gemeint!« »Ja sicher, aber ich werd's auf jeden Fall behalten. Einstweilen wird dich interessieren, daß Nunks frischen Apfelwein auf Flaschen gezogen hat.« »Was? Sag bloß, kann ich ein paar Liter haben, dafür, daß ich dir die Geschichte erzählt hab' ...« »Das läßt sich machen, Amigo. Und schönen Dank.« Lacey bringt ihn die Treppe hinunter und gibt ihm seinen Lohn. Als sie zurückkommt, ist Mulligan aufgewacht und sitzt in seiner Ecke. Verschlafen reibt er sich die Augen. »Bist du okay?« »Ich bin mir nicht sicher. Verdammt, ich hab' den übelsten Mist geträumt, den man sich denken kann. Jemand wollte mich totschlagen. »Tatsächlich? Wer?« »Keine Ahnung. Ich konnte sie nicht einmal deutlich sehen, sie waren unheimlich, mit ihren kaputten, verquollenen Gesichtern, und wie sie angezogen waren ...« »Menschen?« »Zwei davon waren Menschen, aber auch ein ekliger Lizzie war dabei.« Als er aufschaut, kann sie sehen, daß seine Augen rot und verquollen sind; ansonsten ist sein Gesicht von einer ganz eigenartigen Blässe. »Was würdest du von einer Dusche halten?« »Herr im Himmel, darf ich? Mensch, das wäre super. Das ist was anderes als dieser Ultraschallmist, kannst du mir glauben.« »Gern, und du siehst wirklich aus, als könntest du etwas heißes Wasser vertragen. Aber ich warne dich: Ich werde mit dem Computer nachprüfen, wieviel du verbrauchst. Keine Dauerdusche, klar?« »Sicher. Ich werde brav sein.« ' Abwechselnd gähnend und fluchend arbeitet sich Mulligan in die Höhe, bis er schließlich auf die Beine kommt. Eine Weile bleibt er dann stehen und reibt sich das Genick. »Ich hab' ein frisches Hemd für dich. Du hast es hier vergessen, als du das letzte Mal betrunken warst.« »Danke, keine schlechte Idee.« Er sieht sie mit diesem typischen Grinsen an, das sein etwas schiefes Gesicht unwiderstehlich macht. »Du bist wirklich ein Schatz, im Ernst.« »Ja? Warum nicht.« Sie unterdrückt schon im Ansatz das Lächeln, das ihr fast entschlüpft wäre. »Du warst oft genug hier, um zu wissen, wo du ein sauberes Handtuch findest.« Während Mulligan duscht, läßt sie Buddy noch einmal die geheimnisvollen Schriftzeichen abtasten, damit er einen Ausdruck machen kann. Es sind sechs Zeichen: ein dick gezeichneter rechter Winkel, der einen dünnen Halbkreis schneidet; ein weiterer rechter Winkel, dessen Spitze auf der Wölbung eines Halbkreises ruht; dann ein Zeichen aus zwei kunstvollen Schnörkeln, als würden dreiköpfige Schlangen sich paaren; dann dieselben Schnörkel mit einem schmalen Zwischenraum; schließlich ein letztes Paar, zwei eckige Spiralen, die zueinander Spiegelbildlich verlaufen. 56 57 »Drei Paare, nicht wahr? Ich könnte wetten, daß sie AN und AUS bedeuten.« »Das ist keine schlechte Idee, Programmiererin. Es sind ja | auch einfache Symbole.« »Genau. So einfach, daß jedes Kind damit umgehen könnte. Ein Wesen mit einer Greifklaue als Hand jedenfalls ! würde das Gerät bedienen können, wenn man diese Felder berühren muß. Aber vielleicht ist es nichts weiter als ein \ Name: >Dr. Summ-Summ's Chitinpolitur, Patent angemeldete« Sie legt das Kästchen in die oberste Schreibtischschublade. »Bitte sichere diese Schublade, Buddy.« »Befehl ausgeführt. Kraftfeld eingeschaltet. Meinst du, daß dieses Kästchen wertvoll ist?« »Ich weiß es nicht. Aber lieber sichergehen als nachher Haare raufen.« Heißes Wasser und echte Seife - ein so überwältigender Luxus muß doch seinen Kater mit einem Streich hinwegwischen. Sein Bewußtsein erscheint ihm wie eine Landschaft; es hat eine Ausdehnung, und seine Gedanken und Vorstellungen haben einen festen Platz darin - nur, daß alles ein wenig weitläufiger als in irgendeiner gewöhnlichen Landschaft ist. Ein Problem zu lösen - ein ganz gewöhnliches oder eines, wofür er sein Psi-Talent einsetzen muß -, das bedeutet für Mulligan, daß er die richtige Stelle in der Landschaft seines Bewußtseins aufsucht, wo er die nötigen Hilfsmittel vorfinden wird. Wenn er das Vorleben eines anderen Menschen lesen soll, stellt er sich vor, daß er einen langen, dunklen Korridor hinuntergeht, bis er vor einer Tür mit der Aufschrift >Archiv< angekommen ist. Dort drinnen sind Millionen von Datenboxen, doch findet er leicht die richtige Box, wenn er nur an die Person denkt, die er durchleuchten soll. Also braucht er sich nur an ein Sichtgerät zu setzen und diese Box einzulegen - aber was er auf dem Bildschirm sieht, sind nicht Wörter; denn nun kommt der nicht erlern- bare Teil seines Talents zum Tragen: Eine Flut von Bildern strömt wie in einem Traum auf ihn ein, und das Leben eines anderen Menschen läuft vor seinen Augen ab. Hat er sich durch reichlich Alkohol einen Kater eingehandelt, dann erscheint ihm auch dieser Schmerz so konkret wie ein materieller Gegenstand, etwa ein großer, gefährlicher Glassplitter in seinem Körper - und wenn es ihm gelingt, sein Unwohlsein zu überwinden, dann ist ihm, als würde er den Splitter herausziehen. (Leider funktioniert es nicht immer; sein Talent ist manchmal stärker, manchmal schwächer und verweigert sich manchmal auch ganz und gar.) An diesem Morgen empfand er seinen Kater als einen Berg Müll, der sich um ihn angehäuft hatte, und das Wasser unter der Dusche spülte all den Unrat beiseite. Erleichtert und guter Dinge pfeift er vor sich hin, während er sich Laceys Bürste nimmt und sein wirres Haar zu glätten versucht; die natürliche Farbe ist fahles Blond, wie verdorrtes Gras. Ohne die farbigen Kontaktlinsen sind seine Augen grau. Die Barthaare hat er sich vor langer Zeit schon dauerhaft entfernen lassen, wie es die meisten Weißen machen. Etwas zögernd zieht er seine schmutzigen Shorts wieder an; er hat nie das Geld, sich Unterwäsche zu kaufen. Dann macht er sich in Laceys Schlafzimmer auf die Suche nach dem frischen Hemd. Ein karg eingerichtetes Schlafzimmer: ein schmales Bett, darüber eine graue Decke, so sauber geglättet und untergeschlagen, daß man eine Münze darüber rollen könnte; eine ebenfalls graue Kommode und ein Schrank, dessen Tür niemals unordentlich offensteht. Der einzige Schmuck an der Wand ist der Säbel von Laceys Galauniform, der an einem Nagel aufgehängt ist. Mulligan findet sein Hemd, glatt und weiß mit einigen Schlitzen am Rücken, an einem Haken an der Innenseite der Schranktür. Er zieht es an und bleibt einen Augenblick stehen, Laceys Kleider haben es ihm angetan. Zärtlich streicht er über ihre Blusen, er beneidet sie, weil sie ihrer Haut so nahe sind. Mit einem Seufzer wendet er sich ab, ohne sich um die offene 58 59 Schranktür und sein schmutziges Hemd auf dem Fußboden zu kümmern. Als er durch den Flur geht, hört er Stimmen aus Laceys Büro - Lacey und Buddy, aber da ist noch eine Frauenstimme: Carol. Auf der Stelle bleibt er stehen und überlegt, ob er sich im Bad verstecken soll, bis sie gegangen ist. Aber sie ist doch Laceys beste Freundin - sie haben zusammen in der Flotte gedient -, also würde es vielleicht Stunden dauern, und das Bad war ziemlich eng. Er reißt sich zusammen und betritt das Zimmer so selbstverständlich, als wäre er hier zu Hause. Carol trägt noch den hellblauen Hosenanzug der Mediziner, sie muß direkt von der Arbeit kommen; und so, wie sie sich auf der Couch räkelt, ist sie auch ziemlich müde. Sie ist groß und kräftig; sie könnte durchaus mit widerspenstigen Patienten fertig werden, wenn es sein müßte. Das schwarze Haar fällt bis über ihre Schultern, eine Kaskade von Rastafari-Zöpfchen und Locken umrahmt ihr dunkelbraunes Gesicht. Sie wirft Mulligan einen kritischen, leicht angewiderten Blick zu, als würde sie notgedrungen eine eben entdeckte Art von Darmparasiten betrachten. »Du hier? Dann muß es bald Essen geben!« Mulligan bringt ein müdes Lächeln zustande und hockt sich auf den Fußboden, in die Ecke neben Laceys Computertisch. Dann geht ihm auf, daß es ein Hund nicht anders machen würde, aber es ist zu spät, Carol hat es längst bemerkt. »Ach Lacey ... wenn du wirklich einen Hund brauchst, dann schenke ich dir einen zum Geburtstag.« »Ach, laß ihn in Ruhe!« Aber Lacey muß doch lächeln, als sie sich jetzt ihm zuwendet. »Was macht dein Kater?« »Vorbei«, sagt er mürrisch. Er mag es nicht, daß man vor Carols neugierigen Ohren über seinen Alkoholkonsum redet. »War kaum der Rede wert. Ich werde nachher ein paar Kilometer laufen, dann ist es vergessen.« »Sehr gut. Dann kannst du nach dem Essen mit uns zum Rattennest kommen.« »Wie bitte? Bist du von allen guten Geistern verlassen?« »Von wegen! Habe ich ganz vergessen: Du hast ja von Little Joes Besuch nichts mitbekommen. Hör dir mal das an, das ist vielleicht eine Geschichte ...« Die Nacht geht langsam zu Ende, die Morgendämmerung ist nicht mehr weit, und Sally betritt die sündhaft teure Bar nicht weit vom Rathaus. Hier trifft sie ihre Kunden, es ist ihr Stammplatz. Wenn der Morgen kommt, dann geht auch die Bürozeit zu Ende, und die Verwaltungsmenschen und Geschäftsleute trudeln ein. Ganz hinten in der Bar sitzt Sally auf einem Hocker, sie trägt ihr apartes graues Minikleid aus Seide und schwarze Stiefel, die bis an die Oberschenkel reichen, und nippt an ihrem Mineralwasser. Sie sieht zu, wie Ibrahim Drinks serviert; diese Sorte Mensch hier, Männer und Frauen, wäre beleidigt, wenn ein Robotkellner sie bedienen würde. Ihre Stammkunden wissen, daß sie sie hier finden können, wenn sie ihre speziellen Dienste in Anspruch nehmen wollen. In dem riesigen Spiegel hinter der Bar kann sie zwischen den Flaschen ihr Spiegelbild sehen, und sie wendet den Kopf hin und her, um ihre neue Frisur betrachten zu können: das naturblonde Haar aufgetürmt und mit einem Hauch von Blau getönt. Anders als viele Biancas in ihrem Gewerbe hat Sally nie versucht, ihre Haut stark zu bräunen und die Haare schwarz zu färben; sie hat herausgefunden, und daß weiße Haut einen gewissen exotischen Reiz haben konnte, für bestimmte Männer jedenfalls. Es ist ein recht gewöhnliches Publikum in der Bar, und es ist auch recht gewöhnlich gekleidet: graue oder dunkelblaue knielange Shorts, glatt oder in Falten, dazu makellos weiße oder hellblaue Hemden mit Knopfleiste. Hier und da sieht man sogar noch einen eigensinnigen älteren Mann, der trotz der Sommerhitze eine Weste oder eine Fliege am Hemd trägt. Der gutaussehende, muskulöse Blanco in dem rot- 60 61 braunen Overall, der jetzt durch die gläserne Drehtür^ kommt, paßt überhaupt nicht hierher. Er stört, das ist Sallys erster Eindruck. Ein wenig besorgt beobachtet sie, wie Ibra-1 him ihn herüberwinkt, um ihm etwas zu sagen. Der Fremde sieht aus wie ein Raumfahrer, und betrunkene Raumfahrer waren bekannt dafür, daß sie die elegantesten Bars in Stücke schlagen konnten, wenn man ihnen die gute Laune verdarb. Doch nach ein paar Worten wirkt Ibrahim sichtlich entspannter, er lächelt sogar, und der Weltraumcowboy bestellt ein Glas Wasser und verdrückt sich in eine ruhige Ecke. Anscheinend ist er noch nüchtern genug, um die Spielregeln zu verstehen. Sally versteht nicht, warum er sie so beschäftigt vielleicht ist es der muskulöse Körper, der sich unter dem Overall abzeichnet. Irgendwie kommt er ihr auch bekannt vor, wie jemand, den man vor langer Zeit einmal kannte. Er schaut sich um in der Bar, öfter bleibt sein Blick an einer jungen Frau hängen bis er Sally bemerkt. Und nun wendet er den Blick nicht mehr ab, starrt sie an, den Kopf merkwürdig zur Seite geneigt. Und dann spricht Ibrahim kurz mit ihm und eilt zu ihr herüber. »He, ich hab' was für dich.« »Der Skipper? Willst du mich auf den Arm nehmen!« »Nee. Er kommt gerade vom Asteroidengürtel und hat jede Menge Geduld. Hat bestimmt seinen Lohn für das letzte halbe Jahr auf einmal gekriegt, mach' ich jede Wette. Jedenfalls ist es so üblich.« »Na gut. Mal etwas Abwechslung. Und die Figur ist nicht übel.« Ibrahim ist gekränkt, sie tätschelt ihm die Hand. . »Nimm's nicht persönlich, Kleiner. Du hast dafür anderes zubieten.« Sie nimmt ihre Handtasche und geht, mit gesenktem Blick und einem spröden Lächeln zu dem Mann hinüber. Er läßt sie die ganze Zeit nicht aus den Augen. Der Polizeihypnotiseur ist eine Frau mit Namen Linda Jefferson, eine Bianca in den besten Jahren, etwas mollig um die Hüften und mit durchdringend rot gefärbtem Haar, das sie zu einem riesigen Knoten aufgetürmt hat, der durch Haarspray zusammengehalten wird. Nun gut, wenn sie damit die Aufmerksamkeit ihrer Opfer auf sich lenken konnte, denkt Chief Bates. In ihrem dämmrigen Büro sitzt sie auf einem harten Stuhl mit gerader Lehne Corporal Ward gegenüber, der es sich auf einem Sofa gemütlich gemacht hat. Leise Musik rieselt aus den Lautsprechern, synthetische Streicherklänge, schwebend und verschwommen, und überlagert jedes Geräusch, das von draußen hereindringen könnte. Bates schaltet den 3-D-Recorder an und nimmt sich einen Stuhl, von dem aus er beide im Auge behalten kann, als Linda einen tropfenförmigen Kristall an einer Goldkette aus der Brusttasche ihres Uniformhemds zieht. »Okay, Chief, sehen Sie bloß nicht nach dem Kristall, sonst werden Sie auch noch in Trance geraten. Ward, haben Sie die Erklärung unterschrieben?« »Sicher. Aber es ist doch nur, um mein Gedächtnis aufzufrischen.« Er wendet sich zu Bates. »Ich weiß, daß ich die Frau auf der Plaza gesehen habe ... aber ich kann mich einfach nicht erinnern, wie sie ausgesehen hat.« »Deshalb sind wir ja hier.« Linda spricht ganz ruhig, wie die Lieblingstante, die verspricht, in einer schwierigen Sache einmal mit den Eltern zu reden. »Sie müssen jetzt einfach entspannen, Corporal. Lehnen Sie sich zurück und schauen Sie auf den Kristall hier.« Nach einigen Minuten ist Ward in tiefer Trance. Wenn man von dem schlaffen Mund und seinem etwas stumpfen Blick absieht, könnte man meinen, daß er völlig wach ist. Und Linda Jefferson führt ihn, Schritt für Schritt, ganz langsam zurück bis zu jenem Augenblick, als er an der Mauer der Bibliothek lehnte und das Klappern der hochhackigen Stiefel auf der Plaza hörte. »Es ist noch angenehm kühl, sehr angenehm«, sagt er 62 63 brav, fast ängstlich, »bisher ist nichts passiert. Ach, die Lampen gehen an. Ja, da kommt sie, und sie hat es wirklich eilig.« »Wie sieht sie aus, Corporal? Können Sie sie sehen?« »Sicher, ja ... sie ist groß und schlank, aber recht muskulös für eine Frau. Sie trägt Jeans und eine graue Bluse nein, es kann auch lavendel sein, ich habe nicht an die Bogenlampen gedacht. Sie trägt außerdem Stiefel mit den hohen Absätzen. Warten Sie - ich glaube, ich kenne sie. Es ist Sally Pharis, ich habe sie einmal festgenommen. Es kam aber nie zu einer Verhandlung, weil ...« »Das ist jetzt nicht wichtig, Amigo.« Linda Jefferson spricht noch ruhiger, weicher als zuvor, eine Stimme, fast schon klebrig vor Süße. »Sind Sie sicher, daß es Sally ist? Dieses Licht kann doch sehr täuschen, nicht wahr? Sie müssen sich wirklich sicher sein, ganz sicher.« Ward runzelt die Stirn, gehorsam konzentriert er sich. »Nun, ich könnte es nicht beschwören. Aber sie sieht verdammt wie Sally aus.« »Das reicht für den Augenblick«, unterbricht Bates. »Wir werden sie uns vornehmen und ein wenig mit ihr reden. Wecken Sie ihn wieder auf, ja? In ein paar Stunden muß er seine Sergeantenprüfung machen.« Während sich Ward auf den Weg zur Cafeteria macht, um etwas zu essen und ein letztes Mal die Prüfungsfragen durchzugehen, bringt Bates das Magnetband der Hypnosesitzung hinüber zu Data, der es in den Computer überspielen soll. Der Verwaltungsmensch ist ganz aufgeregt, es gibt Neuigkeiten: Die Männer, die die Umgebung des Tatorts durchkämmt haben, haben zehn Straßen weiter einen Stiefel gefunden: einen einzelnen braunen Stiefel, der eines Mannes oder auch eines männlichen Lizzies - mit einem Spritzer Carli-Blut an der Spitze. »Ist er schon im Labor?« »Nein, Chief. Sie haben ihn eben erst gebracht.« »Geben Sie mir sofort das Ergebnis auf meinen Bildschirm, wenn es so weit ist.« »Ja, Sir. Kein Problem.« Bates kehrt in sein Büro zurück, ein stickiges Kämmerchen im zweiten Stock, das gerade Platz für drei Stühle, einen Computertisch und einige Regale bietet, die vollgestopft sind mit Datenboxen, Aktenordnern und Hologrammen abgelegter Fälle. Als Privileg seines hohen Rangs findet man in einer Ecke noch einen Kühlbehälter mit Wasser. Bates gießt sich ein großes Glas von dem importierten Quellwasser ein und setzt sich an den Tisch. Er lehnt sich zurück und läßt den Blick durch die hohen Fenster schweifen, hinaus auf die Plaza, die rechts und links durch blaßgrüne Hochhäuser begrenzt wird. Sie ist hellerleuchtet, es wimmelt von Leben unter dem pulsierenden, knatternden Nordlicht am Himmel. Er befürchtet, daß dieser Arbeitstag noch lange dauern wird, aber es wäre nichts Neues, wenn er bis Mittag arbeitet und erst in der schlimmsten Nachmittagshitze eine Siesta hält. Dann wird er eine Stunde nach Sonnenuntergang wieder an seinem Schreibtisch sitzen. Seit seine Frau ihn vor acht Monaten verlassen hat, gibt es eigentlich keinen Grund, nach Hause zu gehen. Einige Minuten sitzt er da und fragt sich, was ihn wohl dazu getrieben haben konnte, sie auf diesen Hinterwäldlerplaneten zu bringen, auf dem es an allem fehlte. Keine Spur von jenem Komfort, den seine Frau gewohnt war. Hat er jemals im Ernst sich gefragt, wie das funktionieren konnte? Nach zwanzig Jahren hätte er wissen müssen, daß, wenn ihr etwas fehlte, es eine Eigenschaft mit Sicherheit war: Pioniergeist. Mit einem Kopf schütteln verscheucht er seinen Kummer und wendet sich einem anderen Problem zu: Sally Pharis. Obwohl er so sicher ist, wie man ohne konkreten Beweis nur sein kann, daß sie so nebenbei mit Haschisch aus Sarah handelt und außerdem eines der teuersten Callgirls ist, kann er unmöglich glauben, daß sie etwas mit dem Mord an 64 65 Imbeth ka Gren zu tun hat. Er hat sie immer bewundert, wie klug sie sich aus allem heraushielt, was zu Gewalt führen konnte. Ganz zweifellos war sie wegen einer anderen Sache auf der Plaza. Nur war es höchstwahrscheinlich kein legales Geschäft, so daß sie vermutlich abstreiten würde, überhaupt dort gewesen zu sein, obwohl sie vielleicht etwas gesehen oder gehört hat, das für die Aufklärung des Mordes wichtig war. Bates greift nach dem Intercom und gibt Anweisung, Sally Pharis herzubringen, dann fragt er bei der Gleiterstaffel nach, ob man bei der Luftattacke über dem Rattennest etwa den Koch von der Botschaft gefunden hat. Als der Mann von der Gleiterstaffel auf dem Bildschirm erscheint, weicht er seinem Blick aus. »Also gut«, knurrt Bates, »wie habt ihr es dieses Mal versaut?« »Nun, Chief ... wir haben den Carli.« »Das war die gute Nachricht, schön. Und jetzt die schlechte!« »Er ist tot.« »Scheiße. Wieso?« »Nun, die Maschinen haben ihn entdeckt, als er vom Rattennest aufstieg, und folgten ihm. Sie haben ihn aufgefordert, anzuhalten, mit Lichtsignalen und über Lautsprecher, aber er hat Vollgas gegeben. Deshalb ...« »Warte. Haben sie ihn auf Carli oder Merrkan angerufen?« »Carli natürlich. Verdammt, die richtigen Bänder gehören zur Standardausrüstung. Sie haben ihn auf jeden Fall gejagt, und ich fürchte, er konnte nicht richtig umgehen mit dem Ding. Der Gleiter streifte einen Geröllhaufen und kippte über den Rand des Rehydrierungskraters.« »Mist. War er schon tot, als die Leute bei der Maschine eintrafen?« »Hatte das Genick gebrochen, ja.« Obwohl ein Genickbruch eine logische Folge eines Absturzes über dreihundert Meter sein konnte, ist Bates äußerst beunruhigt. Auch der andere Carli hatte Probleme mit seinem Hals. »Ist er im Leichenschauhaus?« »Ja, Chief.« Der Mann sah auf seine Uhr. »Er müßte inzwischen dort sein.« »Werde es mir mal anschauen. Und Sie erzählen Ihren fliegenden Teufelskerlen, daß ich einen vollständigen formellen Bericht wünsche über diesen Unfall! Ich möchte wissen, ob hier jemand Mist gemacht hat. Haben Sie verstanden?« »Ja, Sir!« Mit einem bösen Knurren schaltet Bates das Intercom aus. Er freut sich nicht gerade, Ka Pral mitteilen zu müssen, daß ein weiterer Botschaftsangehöriger tot ist besonders, weil er weiß, daß eine Stelle anzunehmen bei den Carlis fast so viel bedeutet, wie in die Familie des Arbeitgebers aufgenommen zu werden. Obwohl Ka Pral einer hohen Kaste angehörte, Gri Bronno hingegen einer niedrigen, betrachten sie sich in gewissem Sinne als die Söhne des Botschafters und damit als Brüder. Bates beschließt, diese unangenehme Pflicht aufzuschieben, bis er den vollständigen Bericht des Gerichtsmediziners vorliegen hat. Vielleicht ist es Intuition, vielleicht Erfahrung: Etwas scheint äußerst faul zu sein am Unfalltod von Gri Bronno. Carols hellroter Transporter ist fast schon eine fahrbare Klinik: vollgestopft mit Geräten, den wichtigsten Medikamenten und Materialien, dazu noch Datenboxen für jene, die man über die einfachsten Dinge aufklären mußte. Dann ein großer Kühlbehälter mit sterilisiertem Wasser, sogar einen kleinen Brutkasten gibt es, für den Fall, daß man bei einer Frühgeburt helfen muß oder beim Ausbrüten eines kranken Lizzie-Kindes. Obwohl nirgendwo mehr Platz ist, schafft es Lacey, Mulligan und ein Paar Sonnenschutzumhänge in den Raum hinter den Sitzen zu quetschen, zwischen den Com- 66 67 puter und die gestapelten Kisten mit synthetischer Haut. Sie selbst kann sich auf den Beifahrersitz setzen, nachdem sie einen Stapel Krankenakten und eine Tasche mit geheimnisvollen Fläschchen weggeräumt hat. »Warum nehmen wir Mulligan mit?« Carol kümmert sich nicht darum, ob er es hört. »Weil ein Para uns vielleicht weiterhelfen kann. Bist du sicher, daß du mitmachen willst, Carol? Vielleicht ist es gefährlich.« »He, es könnte noch viel gefährlicher werden, wenn ihr beide alleine loszieht.« Da hat sie recht, denkt Lacey, und das ist ja auch der Grund, warum sie Carol gefragt hat. Sie fühlt sich nur verpflichtet, ihrer Freundin Gelegenheit zum Rückzug zu geben, wenn sie das vorziehen sollte. Außer ihr gab es keinen Arzt in der ganzen Stadt, der sich auch nur in die Nähe des Rattennests wagte; tatsächlich fuhr Carol einmal in der Woche dorthin, um die Slumbewohner zu versorgen, die ihre Hilfe brauchten, doch hatte es Monate gedauert, bis sie ihr Vertrauen gewonnen hatte. Wenn sie so etwas wie Vertrauen überhaupt kannten, manchmal zweifelte sie daran. Außer einigen wenigen, die sich im Rattennest vor der Polizei versteckten und nichts weiter zu befürchten hatten, als dingfest gemacht zu werden, gab es eine viel größere Zahl, die in panischer Angst lebten, daß man sie zurück in die Psychiatrie brachte, um sie mit Psychopharmaka gefügig zu machen. Es genügte, daß einer in seiner krankhaften Angst zu weit ging, schon konnte ein Messer im Rücken Carols medizinische Karriere abrupt beenden. Carol startete den Transporter, mit einem Satz erhebt er sich in die Luft und schießt mit beängstigender Geschwindigkeit davon; scharf biegt sie um die Ecke und folgt dann der D-Straße. Von Mulligan hinter den Sitzen hört man einen Aufschrei. Lacey dreht sich um und sieht, daß er sich die Stirn hält. 68 »Alles okay?« Sie muß schreien, um den Motorenlärm zu übertönen. »Sicher, mir ist ja bloß so eine Kiste gegen den Schädel geflogen.« »Paß bloß auf, Mann!« kreischt Carol. »Das Zeug ist teuer!« Mulligan schneidet hinter ihrem Rücken eine Grimasse. Die Sonne geht jetzt auf, eine langwierige Sache auf Hagar, denn sie ist ein roter Riese, der immerhin einen Sehwinkel von fünfundvierzig Grad einnimmt. Lacey drückt auf den Schalter am Armaturenbrett, der den Polarisationsfilter für die Fenster aktiviert. Je heller draußen das Licht wird, desto mehr davon wird automatisch absorbiert. Hin- und herschlingernd flitzen sie durch Porttown und biegen dann auf die südöstlich führende Landstraße ein. Sie ist leer, bis auf den unvermeidlichen Frachtzug, der die Straße entlangröhrt und sie mit seiner Druckwelle ins Schaukeln bringt. Die meisten Gleiter funktionieren nur über einigermaßen planierten Flächen, doch Carols Transporter ist ein geländegängiges Modell, das sie dem schlechten Gewissen einiger Bürokraten der Stadtverwaltung zu verdanken hat: Man kann ihnen jetzt nicht mehr vorwerfen, sie würden nichts für die Leute im Rattennest und die Weißen im Ghetto von Porttown tun. Nach ungefähr drei Kilometern biegt Carol von der Straße ab und schlägt einen Kurs quer durch das öde Hügelland ein. • »Wir dürfen nicht zu lange nach Sonnenuntergang ankommen«, schreit Carol durch das Brummen und Heulen des Motors, »sonst werden sie alle schlafen.« Sie schweben an braunen Abhängen hinunter, überqueren Täler, die einmal Flußbette waren, folgen den geschwungenen Ufern längst vertrockneter Seen. Der Gleiter macht gute hundert Kilometer in der Stunde, und Lacey hängt in den Gurten und fragt sich, ob sie luftkrank wird - ein beschämendes Gefühl für eine Veteranin, die unzählige Kampfeinsätze bei Schwerelosigkeit hinter sich hat. Sie wagt 69 nicht einmal daran zu denken, wie es wohl Mulligan ergeht, der wie ein Stück Fracht hinter den Sitzen eingeklemmt ist. Weil eine Unterhaltung kaum möglich ist, beginnt Carol, vor sich hinzusingen. »Oh, oh, mein Baby, es hat doch keinen Sinn der Polar City Blues, der kriegt dich einfach hin ...« So singt sie mit ihrer heiseren Stimme, in endlosen Wiederholungen. Irgendwann erreicht die lärmende Maschine den schmutzigbraunen Krater des Rehydrierungsprojekts, und etwas widerwillig verlangsamt Carol die Fahrt. Es ist Schichtende, und die Arbeiter trotten hinüber zu den Lastwagen einige Meter neben den unansehnlichen, schmutzigweißen Eisklumpen. Als der rote Transporter über ihre Köpfe fliegt, schauen sie auf und winken. Man kennt Carol hier draußen, denkt Lacey. Vielleicht ist es der Fahrstil. Ein Kilometer weiter sehen sie oben am Kraterrand einen kleinen Fahrzeugpulk, darunter zwei Polizeigleiter, ein Abschleppwagen und ein großer Kran. Carol verlangsamt, damit sie einen Blick auf die Szene werfen können. Am Haken des Krans hängt ein blaugrüner Gleiter mit eingedrückter Front. »Mensch, das ist ein Botschaftsgleiter der Konföderation!« sagt Lacey. »Vielleicht haben sie die Verletzten schon vor Stunden herausgeholt, aber ich sollte trotzdem mal nachfragen.« »Nichts dagegen.« Carol zwingt den schleudernden Gleiter in eine jähe Kurve und stoppt im Schatten eines großen Dornengestrüpps. Hinter den Sitzen hört man Mulligan unflätig fluchen. »Was bist du nur für ein Jammerlappen!« Carol grinst. »Weißt du, was du brauchst? Einen vernünftigen Fitnessplan lange, flotte Spaziergänge, ein bißchen Gewichtheben, eine vegetarische Diät und kalte Duschen, so oft es nur geht. Komm mal zu mir in die Praxis, dann können wir das eingehend besprechen.« Mulligans Kommentar ist nicht wiederzugeben. 70 Lacey steigt etwas unsicher aus, dann beugt sie sich hinter die Sitze, um Mulligan herauszuhelfen. Carol ist schon bei den Polizisten, zwei Menschen und ein Lizzie, dessen fahlgraue Haut besonders gut zu der gelbgrünen Uniform paßt. Als Mulligan mit Lacey zu ihr hinübergehen will, verkrampft er sich plötzlich, wirft den Kopf zurück und krümmt sich wie vor Schmerz. »Was, zum Teufel ...« »Ein Toter ... da in dem Wrack. Ich will da nicht näher ran.« »Schon gut, warten wir hier.« Carol kommt schon wieder zurück, sie schüttelt traurig den Kopf, als hätte sie in dem Toten ihren langjährigen Lieblingspatienten verloren. »Nada. Kann für den armen Kerl nichts mehr tun. Ein Carli, haben sie gesagt, und er ist schon im Leichenschauhaus.« »Und was ist mit dem anderen?« fragt Mulligan. »Es waren zwei Personen in der Maschine. Auch wenn nur einer tot ist, der andere müßte sich doch schwer verletzt haben, ganz sicher.« »Tatsächlich?« Jetzt ist Carol sehr interessiert. Was immer sie auch von Mulligan hält - einen Fachmann, der gute Arbeit leistet, respektiert sie. »Die Polizei weiß nichts von einem zweiten Mann, du solltest es ihnen sagen.« »Ich geh' da nicht näher ran, ich kann es nicht.« Carol hat schon seinen Arm gepackt und hätte ihn unweigerlich hinübergeschleppt, aber der Lizzie- Polizist kommt ihnen jetzt entgegen. Eine gedrungene Masse, ein Meter achtzig groß, bewegt sich schlurfend auf sie zu. Eine plumpe, unbewegliche Spezies, doch in der Morgenhitze ist der Mann von einer fast manischen Erregtheit. Die lange Schnauze kräuselt sich, er zeigt lächelnd die Zähne und streckt Mulligan die Hand mit den blauen, sorgfältig polierten Klauen entgegen. »He, Mulligan, du kommst wieder mal gerade richtig, 71 was? Kannst du uns was sagen? Ich sorge dafür, daß du das übliche Honorar kriegst.« »Da waren zwei Personen im Gleiter/bevor er in den Krater stürzte.« Mulligan redet sehr leise, er sieht ihn nicht an, sein Blick ist in eine unbestimmte Ferne gerichtet. »Sie waren Todfeinde. Sie haben gekämpft. Mehr kann ich von hier aus nicht erkennen, ich werde auf keinen Fall näher rangehen. Das letzte Mal, als ich für die Polizei gearbeitet habe, bin ich in der Notaufnahme wieder aufgewacht.« »Was?« Der Polizist sieht ihn an. Er ist erstaunt. »Nun ja ... dies ist ein freies Land, nicht? Um deine Bezahlung werd' ich mich kümmern, okay? Zwei Kerle ... ich wette, das wird den Chef mächtig interessieren.« Bates ist gerade in der Leichenhalle, als ihn Offizier Zizzistres Anruf erreichte. Er hört sich aufmerksam an, was Mulligan herausgefunden hat, und läßt Zizzistre das Ganze wiederholen, damit er es in das Terminal an seinem Gürtel einspeichern kann. Er darf auch nicht vergessen, daß der Mann für sein schnelles Schalten eine Belobigung verdient hat. »Aber sag' mir noch eins, Izzy. Was, zum Teufel, hatte Mulligan dort draußen zu suchen?« »Keine Ahnung, Chief. Er war mit Dr. Carol gekommen, vielleicht hat jemand im Rattennest einen Para gebraucht?« Er gestattete sich einen kleinen, zischenden Lizzie-Lacher über seinen Witz. »Ach so, da war noch diese Lacey bei ihnen.« »Da haben wir also die Bescherung! Aber das ist nicht dein Problem. Danke, Izzy, das war gute Arbeit. Das wär's dann.« Als er das düster graue Gebäude der Gerichtsmediziner verläßt und zu seinem Gleiter geht, ist Bates ziemlich stolz auf sich. Seine Intuition, was Gri Bonno anging, hat ihn nicht getäuscht. Der Bericht des Gerichtsmediziners ist eindeutig: Die meisten äußerlichen Verletzungen waren dem Mann beigebracht worden, als er schon tot war. Kein Gericht 72 konnte anders befinden, als daß er schon vor dem Absturz tot gewesen war. Und wer immer ihn getötet hat, ist ein lausiger Amateur, der keine Ahnung hat, wie man einen Unfall vortäuscht. Dafür spricht auch Mulligans Hinweis auf einen Kampf zwischen den beiden Insassen des Gleiters. Aber blitzartig kommt es Bates in den Sinn, ob es nicht doch einen Zusammenhang zwischen den beiden Morgen gibt. Der Mörder Ka Grens war sicher kein Amateur. Auf der anderen Seite ist aber die Wahrscheinlichkeit, daß in einer einzigen Nacht zwei Angehörige der gleichen Botschaft ganz zufällig ermordet werden, schrecklich gering. Zwei Mörder - eine Verbindung zwischen beiden Taten scheint ihm ziemlich sicher. Bates klettert in seinen Gleiter und tippt die Koordinaten für die Botschaft der Konförderation. Es wird Zeit, daß er zu Ka Pral geht und ihm die allerneueste schlechte Nachricht überbringt. Die Große Psi-Mutation, wie sie genannt wird, hatte sich rund zweihundert Jahre zuvor ereignet, in einem Land der guten alten Erde, das Kalifornien hieß. Zwar hatte es immer schon Menschen gegeben, die die - rezessiven - Gene für sogenannte übernatürliche Fähigkeiten in sich trugen, und wenn zwei von ihnen ein Paar wurden, dann konnte eines ihrer Kinder ein mehr oder weniger ausgeprägtes Psi-Talent entwickeln. Doch hatten diese Menschen es meist recht schwer: Die eine oder andere gerade dominierende Religion verfolgte und unterdrückte sie, und selbst in aufgeklärteren Zeiten gab es von Seiten der Wissenschaft nur Spott und Hohn. Auch jene, die der Verfolgung und Ächtung entgin- 73 gen, hatten kaum Gelegenheit, ihre Begabung voll zu entwickeln. Sie waren Sonderlinge, lebten zu weit entfernt von ihresgleichen und mußten ihr Talent verbergen. Keine Frage, daß es so keinen Austausch von Wissen gab und keine Möglichkeit, dieses Talent weiterzuentwickeln und nutzbar zu machen. Gegen Ende jenes Jahrhunderts, das man in der alten Zeitrechnung das >Zwanzigste< nannte, war jenes Kalifornien ein dichtbesiedeltes Land, in das Einwanderer aus buchstäblich jeder Ecke des Planeten geströmt waren. Sicher war es nicht verwunderlich, daß sich bei solcher genetischer Vielfalt viel häufiger jene seltenen rezessiven Gene paaren konnten, bis tatsächlich um die Mitte dieses 21. Jahrhunderts ein beachtlicher Teil der Bevölkerung über Psi-Fähigkeiten verfügte. Und weil dieses Kalifornien einer der tolerantesten Staaten überhaupt in der Geschichte war, brauchten sich diese Paras nicht zu verbergen; sie konnten in aller Öffentlichkeit ihr Talent beweisen, sich treffen und austauschen, und schließlich ernsthafte Forschung an diesem so lange vernachlässigten menschlichen Potential treiben. Natürlich gab es viele Betrüger und Menschen, die sich selbst etwas vormachten, doch hielten sich die echten Talente von ihnen fern; sie schätzten dagegen den engen Kontakt untereinander und siedelten sich bevorzugt im nördlichen Kalifornien an, hauptsächlich bei einem Berg mit dem Namen Shasta und in der Stadt San Francisco. Als die Lage auf der alten Erde während des 21. Jahrhunderts immer unerträglicher wurde, hörte man aus den Reihen dieser Paras immer wieder Warnungen vor einer drohenden Katastrophe, lange bevor der Lebensraum Erde endgültig zerstört war. Nach dem ersten Zusammentreffen mit außerirdischen Intelligenzen, nachdem die junge Menschheit von den uralten Zivilisationen im benachbarten Weltraum in die Geheimnisse der interstellaren Raumfahrt eingeweiht worden war, bewarben sich ganze Gemeinschaften von Paras um die Erlaubnis zum Auswandern. Und als die 74 Katastrophe kam, waren sie auf einem der Planeten der von Menschen dominierten Republik in Sicherheit. Dort war man froh über jeden Einwanderer und empfing sie mit offenen Armen, auch jene, die von der Allianz und der Konföderation, wo Außerirdische das Sagen hatten, abgewiesen worden waren. Gewöhnliche Menschen machten meist einen Bogen um die Psi-Begabten, so daß sie unter sich heirateten, besonders in der ersten Zeit, und ihr Talent an die Kinder weitergeben konnten. Natürlich haben nicht alle Psi-Begabten auch Eltern mit solchen Fähigkeiten. Das galt auch für Mulligans Eltern, und auch bei seinen vier Brüdern fand sich nicht die Spur eines Psi-Talents. Er hatte eben die rezessiven Gene auf die schlichte altmodische Art mitbekommen. Es gab jedoch nicht den geringsten Zweifel, daß Mulligans Talent einzigartig war. Auch in der qualvollen Enge hinter den Sitzen des Transporters, während er sich zwingen muß, seinen durchgeschüttelten Magen vor dem Schlimmsten zurückzuhalten, empfängt er Psi-Signale. Es ist eine Menge, was auf ihn einströmt: undeutliche Bilder, Gefühle, Wortfetzen und ganze Sätze - das, was er als >Hintergrundrauschen< bezeichnet. Und manchmal ist es sogar ein überdeutliches Bild oder ein so starkes Gefühl, daß es sich wie ein Alp auf seine Seele legt: Angst und Entsetzen. Und obwohl er wünscht, niemals hierhergekommen zu sein, weiß er genau, daß er Lacey nicht allein hätte gehen lassen. Und selbst wenn Carol ihn für nutzlos hält - er möchte dabei sein, um nach Kräften helfen zu können, anstatt sich irgendwo zu verkriechen. Doch trotz seiner Entschlossenheit ist die Furcht allgegenwärtig, so stark, daß er sich schließlich einredet, es wäre die auf ihn übertragene Furcht eines anderen Paras und nicht seine eigene. Er konzentriert sich und empfängt ein starkes, aber undeutliches Signal - ein Geist, der aus zwei Ichs zu bestehen scheint; vielleicht auch zwei Wesen, die sehr eng verbunden sind ... Er kann erkennen, daß eines von ihnen sehr hungrig ist. Da macht der Gleiter einen Schlenker und bäumt sich leicht auf, er verliert den Kontakt. 75 Vergeblich versucht er dieses doppelte Bewußtsein wiederzufinden, es geht nicht. Das Signal ist im Rauschen untergegangen. Im Zentrum des Rattennests liegen die Überreste einer Startbahn, rissig und uneben, die sich wie eine graue Narbe durch diese Anhäufung von Ruinen und Müll zieht. Die Hitze des späten Vormittags läßt die Luft über dem Beton zittern. Carol stoppt neben einem rostigen Laternenmast. Lacey seufzt; es klingt, als wäre sie erleichtert. »Das ist mein Stammplatz«, sagt Carol. »Man muß feste Gewohnheiten entwickeln, wenn man mit solchen Leuten zu tun hat. Überraschungen verkraften sie nicht - und einige können sich ganz einfach nicht an dich erinnern, wenn du was Ungewohntes tust.« Mulligans anfängliche Erleichterung ist schon verflogen. Wie immer bedrückt ihn die Gegenwart seelisch kranker Menschen er spürt ihr Leid ganz unmittelbar; ihre Schmerzen schneiden auch in sein Herz. Als Carol und Lacey aussteigen, bleibt er in der Maschine hocken und wünscht sich sehnlich, statt Baseballspieler ein Karateka zu sein. »He, Mulligan!« fährt Carol ihn an. »Bist du eingeschlafen? Kannst du mal die Schutzumhänge reichen?« Er reicht Lacey den blauen Sonnenschutz, den sie beim Start neben ihm verstaut hat, und findet nach einigem Suchen auch den von Carol, weiß mit einem roten Kreuz, an dem man Ärzte und Sanitäter erkennt. Er reicht ihr auch die Arzttasche, dann zögert er wieder, schaut zu, wie sie sich die festen Helme in der Mitte der Reflektorplane über den Kopf ziehen. »Ich hab' auch einen für dich mitgenommen«, sagte Lacey. »Er muß genau neben dir liegen.« Nun war der Augenblick gekommen. Er könnte sagen, daß er mit dieser verrückten Sache nichts zu tun haben wolle, daß er im Transporter bleibe, und zwar bei geschlossenen Türen aber Lacey mustert ihn prüfend durch die Sicht- 76 platte ihres Helms. Wenn er jetzt kneift, wird sie ihm das ewig übelnehmen. »Bin schon unterwegs. Wenn ich mich erst herausgefädelt hätte ... verdammt eng hier.« »Du kannst auf dem Rückweg meinetwegen vorn sitzen.« »Nein, so hab' ich's nicht gemeint. Laß nur.« »Nun laßt das Getue und beeilt euch!« sagt Carol. »Ich will endlich die Kiste abschließen. Sonst stehlen sie mir die Medikamente. Einige von diesen Typen würden alles schlucken, wenn es nur wie eine Pille aussieht.« Mulligan springt mit einem Satz heraus und zieht den Sonnenschutz hinter sich her. Er findet die Helmöffnung unter dem endlosen, bauschigen Gewebe und schlüpft rasch hinein. Das war ratsam, denn Hargars Sonne kann auf der bloßen Haut schon nach wenigen Minuten Blasen erzeugen. Als er die weiße Reflektorplane aufgefaltet und bis zu den Füßen ausgebreitet hat, drückt er auf den Schalter innen am Helm, und sobald die Sonnenzellen aufgeladen sind, die in langen Reihen auf der Rückseite des Umhangs angebracht sind, beginnt der Ventilator zu laufen, der die Luft im Helm zirkulieren läßt. Es dauert noch ein bißchen, bis die Sichtscheibe wieder klar ist, die der Schweiß auf seiner Haut hat beschlagen lassen. »Nun komm endlich, Mulligan«, keift Carol. »Willst du hier Wurzeln schlagen?« »Laß ihn doch in Frieden!« Lacey ist etwas verärgert. Mulligan freut sich, daß sie ihn in Schutz nimmt, dann erst kommt ihm der Gedanke, daß er ja eigentlich sich selber zur Wehr setzen müßte. Stärker noch als sonst fühlt er sich als Laceys kleines Hündchen. Aber er folgt ihnen jetzt die holprige Betonbahn entlang, die wie ein Pfeil aus dem Herz des Rattennest zu ragen scheint. »Irgend jemand hat sicher gesehen, daß wir angekommen sind«, sagt Carol. »Die Leute hier sind immer auf der Hut, sie stellt Wachen auf, und einige von ihnen kennen mich sogar. Es gibt hier eine Frau, Del heißt sie, mit einem Baby, 77 das keinen Namen hat. Gewöhnlich taucht sie bei jedem meiner Besuche auf. Nicht einmal Paranoia kommt gegen Mutterliebe an, könnte man meinen.« »Ein Baby?« Lacey ist schockiert. »Wird es gesund sein?« »Wer weiß ... Im Moment ist es noch gesund. Ich glaube, wenn die Mutter der Meinung wäre, daß das Kind hier nicht gut aufgehoben ist, dann würde sie es mir in die Stadt mitgeben.« »Ich dachte nicht an diese Art von Gesundheit. Ich meine, wie es sich geistig entwickeln wird, wenn es hier aufwächst.« Carol zuckt die Achseln, daß die Reflektorfolie raschelt. Darauf hat auch sie keine Antwort. »Wer ist der Vater?« fragt Mulligan. »So ein riesiger Blanco, den sie hier John Hancock nennen. Das ist natürlich ein Witz. Aber ich würde trotzdem nicht über ihn lachen. Er sieht aus, als könnte er einem mit einer Hand den Kopf abreißen.« »Du meine Güte«, sagt Lacey. »Und wovon leben diese Leute überhaupt?« »Ganz genau weiß man es nicht. Sie fangen Ratten. Sie machen auch Geschäfte mit den Leuten im Krater. Es finden sich immer wieder antike Gegenstände in den Ruinen, die recht wertvoll sind. Manche bauen in den Schluchten, in denen es noch etwas Wasser gibt, Obst und Gemüse an. Aber das alles reicht eigentlich noch nicht. Mir scheint, daß sie allerlei kleine Geheimnisse haben. Trotzdem habe ich den Stadtrat dazu gebracht, daß man ihnen Vitamin- und Mineraltabletten spendiert.« »Ist sicher schwerer als Kinderkriegen«, murmelt Lacey. »Kannst du mir glauben. Politiker sind ein egoistisches Pack. Doch schließlich brauchte ich jemanden zum Tyrannisieren. Darum hab' ich die Sache angefangen. Wenn man erst mal pensioniert ist und keine Untergebenen mehr um sich hat ... Ich habe mich entsetzlich gelangweilt.« Mulligan hört Carol, die so ganz selbstverständlich, ganz sachlich von ihrer Arbeit spricht, eigentlich einer Mission, die sie aus freien Stücken auf sich genommen hat: diese Irren am Leben zu erhalten, für ihre Gesundheit zu sorgen, so gut es eben geht. Er hat plötzlich Schuldgefühle. Was hat er denn je für einen anderen Menschen getan ... Am liebsten würde er jetzt wieder anfangen zu trinken, besonders, da er unter dem Sonnenschutz schwitzt und sein Kater zurückzukehren scheint. Er ist jetzt ein ganzes Stück hinter den anderen zurück, er ist immer langsamer geworden, während sie sich vorarbeiten, vorbei an zerborstenen Rohren, Gleiterwracks, Kisten und Plastikteilen und natürlich immer wieder auch an frischen Abfallhaufen. Ganz unvermittelt wird ihm bewußt, daß er die beiden Frauen nicht mehr sehen kann, daß er ganz allein ist. Außerdem ist er auch nicht mehr im Rattennest. Er wandert durch ein Gebirge, wie er es noch nie im Leben gesehen hat. Große grüne Pflanzen bedecken die Hänge, das müssen diese Bäume sein, die er von Holos von der alten Erde kennt. Weit unter ihm in einer Schlucht windet sich ein silberner Bach durch sein felsiges Bett. Die Gipfel sind von einem weißen Zeug bedeckt, das wahrscheinlich Schnee ist. Und dieses merkwürdige Sonnenlicht, gelblich, fast farblos. Er macht einen Schritt zurück von dem Abgrund und hört, wie sich jemand hinter ihm höflich räuspert. Er dreht sich um und sieht einen alten Mann, der sich auf einen langen Krummstab stützt. »Buenos dias«, sagt Mulligan, denn sonst fällt ihm nichts ein. »Schöne Aussicht hier, nicht wahr?« Der alte Mann lächelt, dann verschwindet er. Erst wird er durchsichtig, dann verflüchtigt sich immer mehr von seinem Körper. Jetzt bemerkt Mulligan, daß das Ganze eine Halluzination ist. »Verfluchter Mist, Lacey braucht mich vielleicht. Ich muß damit aufhören!« Aber die Vision ist hartnäckig, und so beschließt Mulligan, erst einmal den Abgrund hinter sich zu lassen und tal- 78 79 wärts zu steigen. Je weiter er geht, desto schneller sinkt die Sonne, bis er schließlich zu einem großen flachen Gelände oder einer Wiese kommt, die in dem Purpurlicht der Dämmerung kaum zu übersehen ist. Aber mitten hindurch fließt ein Fluß. Klares Wasser, das über die Felsen plätschert, ein angenehmes Geräusch. Fast ehrfürchtig kniet er nieder und schöpft sich eine Handvoll Wasser aus dem Fluß. Er trinkt. Es ist kalt, schmeckt frisch und sauber. Trotzdem weiß er sofort, daß er das Trinken hätte lassen sollen jetzt ist er dazu verdammt, für alle Ewigkeit hier weiterzuwandern, unter den wachsamen Augen der alten Frau, die nun plötzlich erschienen ist, sich neben ihn kniet und ihm über das Gesicht streicht. Dann gibt sie ihm noch mehr zu trinken; aus einer gesprungenen alten Tasse flößt sie ihm eine ranzig schmeckende Flüssigkeit ein. »Er kommt zu sich, Dr. Carol, sehen Sie? Er kommt zu sich. Die alte Hexe weiß, wie man das macht.« Alt sieht diese Frau tatsächlich aus; das Gesicht zerknittert wie eine alte Papiertüte, und mit Säcken unter den Augen, so groß wie Nüsse des Dornenbaums, und kaum weniger schwarz ist ihre Haut. Das graue Haar hat sie sich in einem dünnen, schmuddeligen Zopf um den Kopf gewickelt. Hinter ihrer Schulter kann er Carol erkennen, die besorgt, mit einer Spritze in der Hand, wartet. »Lacey?« flüstert er. »Hier bin ich.« Jetzt bemerkt er, daß sie direkt neben ihm auf dem unebenen, nicht sehr angenehm riechenden Berg aus Kissen sitzt und seine Hand hält. Daß sie seine Hand hält, daß echte Sorge in ihrem Gesicht zu lesen ist, dafür allein hat sich dieser gräßliche Ausflug zum Rattennest gelohnt. »Mulligan, bist du okay?« fragt Carol. »Ich kann dir eine Spritze geben, wenn es nötig ist.« »Er braucht Ihre Spritze nicht, Doktor Carol«, sagt Meg und saugt schmatzend an ihren Zahnstümpfen, »ich hab' ihn zurückgeholt.« »Ja, genau.« Mulligan versucht sich aufzurichtendes macht keine Schwierigkeiten. »Sie hat recht.« »Ich mußte es tun, mein Junge. Hab' dich mit dem Kartenspiel eingefangen. Tut mir leid, war nicht meine Absicht. Ich war nur auf der Suche, das ist alles.« Lacey und Carol tauschen einen wissenden Blick aus. »Was für Karten?« fragt Mulligan. »Kann ich sie sehen?« »Ob du sie sehen kannst?« Meg kichert. Die Frage macht ihr unerhörten Spaß. »Ich kann sie holen, ohne Frage, aber ob du sie sehen kannst das weiß ich nicht.« Als sie aufgestanden ist und davonschlurft, kann Mulligan sehen, daß sie in einer Hütte sind, die aus einer Vertiefung im Boden, nicht mehr als ein Meter, besteht, über der man ein Dach aus Schrotteilen und Plastbetonplatten errichtet hat. Die Polster, auf denen er sitzt, stammen offensichtlich aus ausrangierten Gleitern. Eine Hälfte einer Blechtonne dient als Herd. Megs Kleidung besteht aus mehreren Schichten übereinander gelegter Stofflappen, alle ziemlich schmutzig. Sie öffnet einen löchrigen Karton, während Lacey und Carol mit wachsender Verwunderung zusehen. »Wenn wir erst in der Stadt sind«, flüstert Carol, »werd' ich dich mal genau unter die Lupe nehmen, mein Lieber.« »Bleib mir vom Leib!« Mulligan ist überrascht, wie gut es tut, zu widersprechen. »Hör bloß auf damit!« Bevor noch Carol ihn angiften kann, ist Meg zurück. Obwohl das kleine Bündel, das sie trägt, in ein schmutziges, schon mürbe gewordenes Unterhemd eingewickelt ist, kann Mulligan sehen - im übertragenen Sinn -, daß von dem Inhalt eine starke Kraft ausstrahlt, einem Lichtenstein vergleichbar. Als er danach greifen will, reißt Meg es zurück. »Du faßt es nicht an, Weißer, ich sagte, du kannst es sehen. Von Anfassen habe ich nichts gesagt.« »Entschuldigung, tut mir wirklich leid. Natürlich faß ich es nicht an.« Mit einem zufriedenen Grunzen kniet sie sich wieder zu 80 81 ihm hin und öffnet das Bündel; zu sehen ist etwas wie ein Kartenspiel, fettig und abgegriffen. »Karo«, sagt Meg, »dieses Spiel ist uralt und heißt Karo. Es kommt von der alten Erde.« Mit raschen Bewegungen, wie ein Profi, mischt sie die Karten, dann macht sie wieder einen ordentlichen Stapel und legt ihn auf das Stück Sackleinwand, das in der Hütte als Teppich dient. »Also, du kannst abheben, wenn du willst«, sagt sie mit einem schalkhaften Augenzwinkern zu Mulligan, »aber ungefähr in der Mitte!« Widerwillig läßt er Laceys Hand los. Als er nach dem Kartenspiel greift, zittern seine Hände, als fürchte er, daß er sich daran verbrennen könnte. Mit einem energischen Kopfschütteln rafft er sich auf und teilt den Spiegel; Meg kichert wieder. Dann dreht sie den oberen Stapel um und zeigt ihm die Karte, die nichts anderes darstellt als seine Vision: ein hellhaariger junger Mann am Rand eines Abgrunds im Hochgebirge. »Aber da war kein Hund bei mir«, sagt Mulligan und zeigt auf etwas, das aussieht wie ein Spaniel, fast untergegangen in einem Fettfleck. »Nein? Bist du sicher, mein Junge?« Und jetzt wird Mulligan klar, daß er selbst der Hund ist, zumindest hat er diesen Gedanken gehabt, kurz bevor die Vision begann. »Du hast recht. Er war da.« »Dachte ich mir.« Lacey und Carol starren sich an, es ist nicht nur Verwirrung - Mulligan wird klar, daß sie Angst haben. Er hat keine Angst, und das macht ihn stolz. Meg legt die Karten wieder zusammen und verteilt sie dann einzeln auf vier Stapel, ohne sie aufzudecken. Die schmutzigen Karten rascheln aneinander. Als sie fertig ist, deckt sie die oberste Karte auf jedem Stapel auf, von rechts nach links. Oben auf dem zweiten Stapel ist wieder der hellhaarige junge Mann, aber dies- 82 mal reitet er auf einem Pferd am Rand einer riesigen Wasserfläche ein Meer, vermutet Mulligan. »Das bist du.« Meg legt ihren knochigen Finger auf den Reiter. »Du hast immer Ärger mit der Liebe, hab' ich recht?« Als nächstes zeigt sie auf die Karte rechts daneben, zehn lange Stäbe, die sich kreuzen. »Hast es nie zu etwas gebracht, nicht wahr? Hattest immer schon verloren, bevor das Spiel begann.« Links von dem blonden Reiter ist eine ganz besondere Karte zu sehen: ein ziegenköpfiger Mann, auf einem Stein hockend, mit einem nackten Menschenpaar vor sich. Meg zögert, dann wendet sie sich rasch dem vierten Stapel zu. Fünf antike Münzen sind auf der Karte zu sehen. »Du wirst nie Geld haben, es sei denn, du heiratest nach Geld.« Als sie die Karten zusammenschieben möchte, hält Mulligan sie am Handgelenk fest und läßt nicht los, selbst als sie zu schimpfen beginnt und sich loszureißen versucht. »Was ist das für ein Kerl auf dem Stein, Meg? Du mußt es mir sagen.« »Ich sag's nicht. Laß mich los, Weißer! Dr. Carol, er soll mich loslassen!« Als Carol einen Schritt auf sie zu macht, steht Lacey hastig auf und stellt sich ihr in den Weg. Drohend schüttelt sie den Kopf. Mulligan zerrt an Megs Arm. »Du mußt es mir sagen!« »Es ist der Teufel. Da - jetzt ist es gesagt, und wir werden es alle büßen müssen.« Ihre Stimme wird zu einem Flüstern, sie beugt sich vor zu Mulligan, ist wieder ganz ruhig und freundlich, eine Komplizin. »Sie haben ihn umgebracht, mußt du wissen. Vor zwei Tagen war es. John Hancock, wilder Mann und alter Veteran. Sie haben gesehen, wie er dahergeschlichen kam, da haben sie ihn getötet. Den Schädel haben sie ihm eingeschlagen, und es hat zum Himmel gestunken, sagte mir wilder Mann. Haben ihn begraben, ja. Den Teufel begraben!« Sie lacht. »Ist das nicht ein guter Witz, Weißer? Den Teufel begraben?« 83 Mit einem Knurren läßt Mulligan sie los und lehnt sich zurück. Er sieht zu, wie sie die Karten einsammelt, dann folgt das ausgedehnte Ritual, sie mit einem Lappen einzuwickeln. Obwohl er Lacey und Carol aufgeregt flüstern hört, kann er seine Augen nicht von dem schmutzigen Bündel abwenden. »Besorg dir selber welche«, führt ihn Meg an. »Meine kriegst du nicht.« »Ich käme nie auf die Idee, sie zu stehlen. Aber du hast recht, ich hätte gern so ein Kartenspiel.« »Dann viel Glück. Du hast ja gehört, sie kommen von der guten alten Erde. Sicher gibt es nicht mehr viele davon, aber du mußt dir schon deine eigenen suchen. Du hast mich doch verstanden? Meine kriegst du nicht!« Weil er sieht, daß sie immer aufgeregter wird, zwingt er sich, den Blick abzuwenden, und steht auf, und plötzlich spürt er, daß sein Kopf schmerzt: ein dumpfes Klopfen irgendwo zwischen Nacken und den Ohren. Lacey und Carol beobachten ihn, besorgt, aber auch mit einer gewissen Bewunderung. »Vamos«, sagt er zu ihnen. »Danke, Meg.« »Gern geschehen. War vielleicht gar nicht so falsch, dich mit meinen Karten einzufangen. Mir tut die Frau des Teufels leid ... so seinen Mann zu verlieren.« Mulligan hebt seine Sonnenpelerine vom Boden auf und klettert aus der Hütte. Nicht, daß er gehen will - aber es war zu befürchten, daß Meg noch durchdrehen würde in ihrer Angst um die Karten. Es ist ihm klar, daß sie eine Para ist, mit sehr ausgeprägten Fähigkeiten, nur eben total verrückt. Aber sie spürte verdammt gut, wie sehr er die Karten haben wollte. So sehr, wie er sich noch nie etwas gewünscht hat, nicht einmal den zweihundert Jahre alten Baseball mit dem Autogramm von Willie Mays, den er einmal im Museum von Polar City ansehen «konnte: Verwirrt und unzufrieden geht er rasch davon, ohne auf den Weg zu achten; überall liegt Unrat, Gerumpel. Aber nun hört er Lacey, die ihm ärgerlich etwas zuruft, und gehorsam bleibt er stehen, bis die beiden Frauen ihn eingeholt haben. Immer noch denkt er an die Karten, daran, daß man vielleicht in einem Antiquitätenladen solche Karo-Karten bekommen könnte, und auch daran, wie er das Geld dafür zusammenbringen könnte. Denn er hat schon alles von Wert verkaufen müssen, was er je besessen hat. Obwohl sie es sich ungern eingesteht Lacey macht sich Sorgen über Mulligan. Sie hat schon früher erlebt, wie er in Trance fiel, aber daß es auch passieren konnte, während er so dahinging ... Sie hatte sich einmal umgedreht und gesehen, daß er ihnen folgte. Und keine Minute später sah sie ihn am Boden liegen, und die alte Meg kam aus ihrer Höhle, um ihn aufzulesen wie ein Beutestück. So weit sie das Gespräch nach seinem Erwachen verstanden hatte, hatte ihn Meg auf irgendeine Weise, aber versehentlich, in diese Lage gebracht. Sie nahm sich vor, ihn nach der Rückkehr in die Stadt zu fragen - und nachdem er sich erst einmal ausgeschlafen hatte. »Carol, sollten wir ihn nicht direkt nach Hause bringen?« »Ach, der verträgt mehr, als man meint. Außerdem mache ich jede Wette, daß dieser komische Teufel etwas mit dem Bein zu tun hat, das Little Joe gefunden hat.« »Na ja, so etwas hab' ich mir auch gedacht.« Lacey hat einen Lageplan dabei, eine grobe Skizze jenes Teils des Rattennests, in dem sich die Höhle befindet. Sie holt sie aus der Tasche ihrer Bluse und schiebt sie durch den Schlitz der Sonnenpelerine, damit Mulligan und Carol sie sehen können. »Little Joe ist nicht gerade ein Künstler, aber man kann gut erkennen, daß er durch die Straße Richtung Süden hereingekommen ist. Weil er rannte wie der Teufel, als die Polizeigleiter kamen, weiß er natürlich nicht mehr genau, wie weit er kam; doch nachdem Sally und Ibrahim ihn herausgeholt hatten, hat er sich gründlich umgeschaut und diesen halbzerfal- 84 85 lenen Turm gesehen, keine zwanzig Meter entfernt. Wir müßten diese Schlangengrube schnell gefunden haben.« »Schnell gefunden!« Carol knurrt ärgerlich. »Ich hab' nicht das Gefühl, daß irgend etwas hier so einfach klappt. Bist du nicht diejenige, die mir dauernd erzählt, wie gefährlich unsere Expedition ist?« »Na, wenn schon.« Lacey legt die Hand auf die Reflektorfolie. »Ich hab' meinen alten Dienstlaser eingesteckt, und er ist voll geladen.« »Ach, du lieber Himmel!« Carol verdreht die Augen. »Daß du mir bloß nicht für neue Kundschaft sorgst! Ich hab' schon genug hoffnungslose Fälle von hier bis Porttown zu verarzten.« In diesem Teil des Rattennests ragen schief und krumm große Blöcke aus hellgrauem Plastbeton aus dem Boden, von Mauern aus Ziegelsteinimitation sind lange Haufen geblieben. Es besteht immer die Gefahr, daß ein Hohlraum unter einer Ruine nachgibt und sie hinunterstürzen. Darum gehen sie langsam, Carol voraus, Lacey als Nachhut mit der rechten Hand unter dem Umhang, dort, wo die Laserpistole steckt. Sie hält die Augen offen, schaut immer wieder nach hinten, denn es könnten ja Slumbewohner auftauchen, die nicht so freundlich wie die alte Meg sind. Dieses netto Trio, John Hancock, wilder Mann und alter Veteran vielleicht ..... Unangenehm, denkt Lacey, wenn sie uns für des Teufels Gehilfen halten würden. Nach einem Kilometer etwa kommen sie auf eine kleine Anhöhe und können unter sich den zerfallenen Turm sehen, eine gezackte Ruine aus weißem Plastbeton, vielleicht einmal ein Signalturm für die Shuttlelandungen jener Zeit. Sogar nach über hundert Jahren, in denen der Wind daran scheuerte und die grelle Sonne alle Farbe verblassen ließ, kann man eine verwitterte Schrift daran entziffern: Ein Teil eines N, dann ein A und ein S, wieder ein bruchstückhaftes A. Zwei Meter hohe Buchstaben. Man kennt sie von anderen Ruinen und Altertümern, überall in der Republik. Man sollte einmal einen gelehrten Menschen fragen, was es bedeutete. »Also gut.« Lacey zieht noch einmal ihre Skizze hervor. »Da ist der Turm ... dann müßte das Loch dort südlich davon sein. Seht mal, da ist es!« Gleich neben einem mannshohen Berg aus Schaumstoffabfällen klafft ein dunkles Loch, etwa drei Meter im Durchmesser. Vorsichtig nähern sie sich. Der Boden gibt nicht nach. Am Rand der Grube legt sich Lacey auf den Bauch und starrt hinunter. »Ich wette, daß nach Little Joe noch jemand anders hier war. Da sind komische Spuren auf dem Boden, und der Gerümpelhaufen da unten scheint noch höher zu sein. Ich geh' jetzt runter. Ihr bleibt hier, um mich rauszuziehen.« Noch bevor jemand widersprechen kann, hat sich Lacey aufgesetzt und ist auf den Berg von Gerumpel gesprungen; kleinere Stücke rollen davon. Sie zieht ihre Pistole, dann springt sie auf den Boden der Grube und beginnt zu suchen. Der Geruch leitet sie. Ein Geruch von Moder, dabei scharf wie Essig, kommt von der Stelle, wo Little Joe das Bein oder was auch immer gesehen haben muß. Aber es ist nicht mehr da, jemand scheint den Boden sogar gekehrt und festgetreten zu haben; ein Kreis aus langen, schmalen, ovalen Spuren führt um die Stelle - eine Hand, die den Boden glätten wollte? Füße, die trauernd ein Grab umrundeten? In der Nähe der Grubenwand ist eine Plastbetonplatte in den Boden gerammt, auf die mit irgendeinem Strahler seltsame Zeichen eingebrannt wurden. »Herr im Himmel!« sagt Lacey. »Das war kein Tier, was sie da getötet haben.« »Sollen wir das arme Schwein wieder ausbuddeln?« Carol hockt auf Händen und Knien am Rand des Lochs. »Nein. Wir müssen es der Polizei melden, das ist nichts für Amateure.« »Lacey, komm sofort raus!« Es ist fast ein Schrei, wie Mul- 86 87 ligan es hervorstößt. »Komm raus! Die Fresser sind da unten, sie wollen dich kriegen! Bitte ... komm sofort raus!« »Was? Hast du ein Signal aufgeschnappt?« »Ja, verdammt! Lacey ...« »Okay, beruhige dich. Zieht mich raus!« Gleich hat Lacey wieder festen Boden unter den Füßen, trotz der Behinderung durch die wehende Sonnenpelerine. Sie streift den gröbsten Schmutz ab und wendet sich Mulligan zu, der leichenblaß geworden ist und zittert. »Also, was ist das mit diesen Fressern?« »Weiß ich nicht. Da unten ist ein Bewußtsein, irgendein Tier, kein intelligentes Wesen.« Er macht eine Pause, noch immer zittert er. »Ich hab' es jetzt abgeblockt, aber es könnte mich glatt wahnsinnig machen. Fressen, fressen, fressen das ist alles, was es denkt ... wenn man das denken nennen kann.« Schaudernd wendet er sich ab und geht einige Schritte voraus, in Richtung des Gleiters. Lacey denkt angestrengt nach. Eigentlich müßte sie die Polizei noch in der Sekunde benachrichtigen, in der sie zu Hause ankommen. Aber werden sie nicht unangenehme Fragen stellen? Woher sie denn wisse, daß da eine Leiche gelegen habe! Aber da hört sie schon Mulligan laut und hemmungslos schluchzen. »Das darf doch nicht wahr sein«, schimpft Carol. »Was ist denn jetzt wieder!« Mulligan zieht den Helm vom Kopf und hockt sich auf den Boden, verkriecht sich unter der Pelerine. Wie ein Fallschirmspringer, der beim Landen von seinem Schirm zugedeckt wird. Lacey kann ihn nicht sehen, aber man hört ihn laut und deutlich weinen. Lacey tritt einen Schritt zurück, sie fühlt sich mit einemmal völlig hilflos. Carol muß sich sichtlich überwinden, als sie sich neben ihn kniet. »He, du. Was ist denn los? Was hast du? Bist du müde? Du hast schon allerhand mitgemacht heute.« »Hat nichts mit mir zu tun«, hört man seine gedämpfte Stimme unter der Plane. »Wer immer dieses Wesen begraben hat, hat es geliebt, verdammt geliebt.« Und mit einem kalten Schauer erinnert sich Lacey, was die alte Meg über die Frau des Teufels gesagt hat. Nunks macht sich Sorgen. Mulligans Trauer hat ihn mitten im schönsten Schlaf aufgeweckt, dann war das Signal verschwunden, so schnell, wie es gekommen war. Und weil er sehr müde ist nach der harten Gartenarbeit einer ganzen Nacht, ist er auch etwas ärgerlich. Manchmal mochte man glauben, daß Kleiner Bruder immer in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte und daß niemand außer ihm ihn da herausbringen konnte. Eine Weile wälzt er sich in seinem Bett hin und her - eine riesige, quadratische Matratze, mit dicken Kissen an den richtigen Stellen -, aber so sehr er sich auch bemüht, er kann nicht mehr einschlafen. Er steht auf, justiert das Polarisationsfilter am Fenster, damit ein wenig Licht hereinfällt, dann fängt er an, seinen Pelz mit einer steifen Bürste zu bearbeiten, bis er sich halbwegs wach fühlt. In der winzigen Kochecke macht er sich eine Tasse Kräutertee und überlegt, was er jetzt tun soll. Wenn man nicht sprechen kann, kann man ja nicht einfach einen Freund anrufen und um Hilfe bitten. Auf einem Planeten mit sprechenden Wesen zu leben, konnte höchst frustrierend sein; aber als politischer Emigrant kann er nicht nach Hause zurückkehren nicht, so lange das derzeit regierende Herrscherhaus auf seinem Heimatplaneten an der Macht ist, und das kann noch sehr, sehr lange dauern, vielleicht sogar noch Generationen. Er leert die Tasse und zieht seine alte, grüne Shorts an, dann trottet er hinaus in den Garten. Er liegt im Schatten, Sonnensegel aus Musselin, die vom Computer gesteuert werden, schirmen die grelle Sonne ab. Nunks kontrolliert die Einstellung jedes einzelnen Segels. Obwohl Mulligan seine Gedanken ins Merrkan übersetzt, so daß er Buddy 89 haargenau seine Anweisungen geben kann, mißtraut er dem . Computer. Er mißtraut jedem Bewußtsein, das nicht über Psi-Talent verfügt, oder wenigstens über richtige Emotionen. Und Buddy haßt er noch mehr als die anderen intelligenten Maschinen, weil >er< über einige, sehr oberflächliche Gefühle verfügt, Arroganz zum Beispiel, und weil er sich einseitig an Lacey gebunden fühlt. Wenn es nach Nunks ging, dann sollte eine intelligente Maschine eine Maschine sein und nichts anderes. Er setzt sich in den dichten Schatten eines Apfelbaums, lehnt sich bequem an den Stamm und macht sich auf die Suche nach Mulligan. Er ist bei vollem Bewußtsein, nichts in seiner Umgebung, was ihm entgeht, und doch gelingt es ihm, einen Teil seines Bewußtseins loszulösen und, indem er sich vorstellt, er würde einen Lichtstrahl aussenden, auf die Suche nach dieser überwältigenden Trauer zu schicken, die ihn aufgeweckt hat. Nach wenigen Minuten findet er Mulligan, der wie ein Murmeltier schläft. Er kann sich in dessen Körper einfühlen, und so erfährt er, daß Mulligan eingezwängt in einen engen Raum sich befindet und daß sein Körper unwillkürlich Erschütterungen und Bewegungen kompensiert, wie man ihnen in einem fliegenden Apparat ausgeliefert ist. Nunks überlegt, wie gut es zu Mulligan paßt, daß er ihn zuerst weckt und anschließend selbst einschläft. Aber er kann diesen durchdringenden Schmerz, geradezu ein Aufschrei, den er gespürt hat, nicht vergessen. Es muß ein Schmerz gewesen sein, den Mulligan von einem anderen Wesen empfangen hat, nicht sein eigener. Nunks versucht Mulligans Spur zurückzuverfolgen, zu der Stelle, von der der Aufschrei kam. Weit entfernt, sehr schwach -ja, da ist der Schmerz. Der Schmerz eines Wesens, das einen bitteren Verlust beklagt und seinen Schmerz anderen Psi-Wesen mitteilen möchte. Nunks versucht, ein Gefühl der Sympathie auszusenden, doch zuckt das andere Wesen zurück, es empfindet entsetzliche Furcht, gemischt mit Ver- 90 zweiflung. Aber warum sich fürchten, wovor sein Leben schützen wollen, scheint dieses Bewußtsein jetzt zu sagen, in einem Universum, das so grausam und schrecklich ist wie dieses? Nunks versucht, ein Gefühl von Hoffnung, Liebe und etwas wie Freude über das Erscheinen des Lichts nach einer langen Nacht zu übermitteln, aber das Wesen unterbricht den Kontakt. Nun ist er wieder allein. Einige Zeit sitzt er da und denkt nach. Nicht einmal die kleine Maria, die der Vater, ein Trinker, ins Bordell verkaufte und die von ihrem Zuhälter fast totgeschlagen wurde, strahlt eine solche Verzweiflung aus wie dieses fremde Wesen. Er ruft sich in Erinnerung, was ihm übermittelt wurde, und erlebt noch einmal die tiefe Trauer, ja, das ist der Kern der Sache, aber es ist eine doppelte Trauer, zwei Dinge sind verwoben durch etwas Schreckliches ... Es ist schwer, so fremdartig sind die Gedanken, aber er kann es in Worte fassen: ein grausamer Scherz! Irgendwie scheint dieses fremde Wesen zu glauben, daß sein Verlust ein böser, verrückter Scherz ist, den ihm das Universum als Ganze gespielt hat. Eine Welle von Mitleid bemächtigt sich Nunks', es wird immer stärker, bis seine Brust schmerzt und sein Atem schwer geht. Er versucht, seine Gedanken so zu formulieren, daß Mulligan sie Lacey übersetzen kann. Irgendwie mußten sie dieses Wesen finden und ihm helfen. Kurz vor Mittag sitzt Bates an seinem Schreibtisch und arbeitet sich durch einen Stapel Papiere. Zwei Morde, das heißt zwei ausführliche Autopsieberichte, dann der Bericht über die technische Untersuchung des Botschaftsgleiters, mit dem Gri Bronno seinen Ausflug zum Rattennest machte. Bates' Intuition hat rechtbehalten: Gri Bronno ist ermordet worden. Jemand hatte den Autopiloten des Gleiters programmiert, bevor er ihn mit einem Toten am Steuer in die Nacht hinausschickte. Der Kampf, den Mulligan tele- 91 pathisch erfaßte, muß schon eine Stunde vor dem >Unfall< stattgefunden haben. Beunruhigend ist vor allem die Kurzmeldung einer Streife, die ihm mitteilt, daß Sally Pharis nicht mehr an der Adresse wohnt, die sie zuletzt, angegeben hat. Theoretisch sind nun alle Streifenpolizisten alarmiert und halten nach ihr Ausschau, aber wenn er daran denkt, daß sie Gri Bronno auch erst gefunden haben, als er tot war ... Er braucht Sally dringend, um so mehr, als der Laborbericht über den braunen Stiefel bestätigt, daß das Blut von Ka Gren stammt -und er wurde dort gefunden, wo Ward Sally gesehen hat. Am interessantesten ist jedoch, was Sergeant Parsons bei der Befragung des Botschaftspersonals herausgefunden hat. Bates leitet zwar die Ermittlungen in wichtigen Fällen, aber er verschwendet nicht seine Zeit mit Routinearbeiten. Sergeant Parsons' Bericht ist wie immer von peinlicher Sorgfalt. Zusammen mit zwei anderen Beamten ist er jeder erdenklichen Spur nachgegangen und hat eine Unmenge Details zusammengetragen; darunter fand sich auch das erhoffte Bindeglied zwischen den beiden Morden: Zu Gri Bronnos Arbeit als Hilfskoch gehörte es auch, nach dem Abendessen die Abfälle wegzubringen, was er genau in jenem Augenblick tat, als Imbeth ka Gren das Gebäude durch die Hintertür verließ. Zufällig sah eines der Serviermädchen aus dem Fenster und bemerkte, daß Ka Gren mit dem Hilfskoch sprach; allerdings konnte sie nicht hören, was gesprochen wurde. Bates würde darauf wetten, daß es irgendeine harmlose Bemerkung war, der man entnehmen konnte, wohin Ka Gren ging. Parsons zog daraus den Schluß, daß der Mörder zur Botschaft gehörte und auch wußte, daß Ka Gren mit Gri Bronno gesprochen hatte. Aber Bates möchte ihm so weit nicht folgen, bloß keine voreiligen Schlüsse. Er fordert vom Computer einen Grundriß des Botschaftsgebäudes an; auf dem Monitor sieht er bestätigt, was er vermutet hat: Die Recycling-behälter stehen gleich neben der Hintertür, die in 92 jenem Augenblick sicher weit offen war. Die Hintertür führt auf eine der Belebtesten Straßen dieser Gegend. Es war gut möglich, daß der Mörder dort wartete, einer von zahlreichen Passanten auf den Transportbändern und den Gehwegen, und sah, daß sein Opfer die Botschaft verließ. Dann konnte er ebensogut gesehen haben, wie Ka Gren mit dem Koch sprach - was dessen Todesurteil bedeutete. Auf der anderen Seite darf er nicht den Gesichtsausdruck des toten Carli vergessen, der von Furcht keine Spur zeigte. Er muß den Mörder gekannt haben, und es gab für ihn keinen Grund anzunehmen, daß ihm Gefahr drohte. Bei diesem Gedanken wird Bates etwas bewußt, was ihm schon eine ganze Weile im Magen liegt. Die Kehle des Carli war bis auf den Knochen aufgeschlitzt. Er muß gesehen haben, wie der Mörder das Messer zog, und erst recht, wie er kräftig ausholte. Warum lief er nicht weg? Warum schrie er nicht, oder erschrak? Und es fällt Bates auch ein, daß, weil die Halsschlagadern der Carlis kaum dünner sind als die der Menschen, der Mörder von purpurrotem Carli-Blut nur so triefen mußte. Selbst wenn die Plaza zu jener Tageszeit menschenleer war, irgendwer hätte es schon bemerkt, wenn ein Mensch oder sonst ein Wesen blutüberströmt vorbeigekommen wäre. Oder ist das der Grund, warum von Sally Pharis keine Spur zu finden ist? Verdammt! Wenn er Gri Bronno nur wegen einer hingeworfenen Bemerkung getötet hat ... Er greift zum Intercom ein und gibt Alarm für alle Dienststellen; fast schreit er seinen Befehl in das Mikrophon: Jeder einzelne Beamte, der nur Augen im Kopf habe, solle nach Sally Pharis Ausschau halten. Diesmal weist er auch darauf hin, daß ihr Leben möglicherweise in Gefahr ist. Und als er sich wieder beruhigt hat, wird ihm klar, daß er wieder bei seiner alten Idee angelangt ist, daß es für beide Morde nur einen Täter gibt. Was sprach dagegen? Wenn der Mörder ein Profi war, dann wußte er auch, wie man eine Sache so anstellte, daß es nach einem Amateur aussah. Ein Profi. 93 Lange sitzt Bates an seinem Schreibtisch und starrt aus dem Fenster; er überdenkt alles noch einmal, versucht, jenes entscheidende Detail zu finden, jenen entscheidenden Schritt zu tun, der ihm noch nicht gelingt. Doch er spürt, wie es in ihm arbeitet. Er beschließt, es sein zu lassen und erst einmal essen zu gehen, als das Intercom summt. Er schaltet ein. »Bates.« »Hallo, Bates.« Es ist Akeli von der Staatspolizei. »Haben Sir irgend etwas herausgefunden, das von Interesse ist?« »Ich wußte gar nicht, daß Sie mein Vorgesetzter sind.« Akelis fettes Gesicht grinst vom Bildschirm. »Meine offizielle Funktion ist natürlich nur die eines Verbindungsmannes zwischen Ihnen und dem Präsidialbüro.« Er muß es ihm auch noch unter die Nase reiben, dieser Bastard. Laut sagt Bates: »Nun, Sie werden der Präsidentin sagen müssen, daß wir hier nichts Neues haben. Und Sie? Wie sieht's aus mit der Botschaft der Allianz und dem Kontaktmann von Ka Gren?« »Das, was ich habe, eignet sich nicht für eine Übermittlung auf diesem Weg. Wenn Sie vielleicht in meinem Büro vorbeischauen, so gegen acht heute abend? Adios.« Er schaltet ab, bevor Bates noch etwas sagen kann. Ein paar Minuten bleibt der Polizeichef an seinem Computertisch sitzen und grübelt voller Groll über die gleich mehrfachen Beleidigungen in diesem kurzen Wortwechsel nach, besonders die infame Unterstellung, daß alle Informationen, die er zu bieten hat, ohne weiteres über das normale Telefonnetz gehen könnten, während Akelis unglaubliche Resultate unter vier Augen ausgetauscht werden müssen. Aber er zwingt sich, ruhig zu bleiben, und so gelingt es ihm dann tatsächlich, aus seinem Büro zu gehen, ohne die Tür hinter sich zuzuschlagen. Mitten am Tag ist das Hauptquartier wie ausgestorben. Die Cafeteria ist zwar geöffnet, aber man bekommt nichts als Synkaffee, muffige alte Sandwichs und Sojagulasch, das 94 von der Hauptmahlzeit um Mitternacht übriggeblieben ist. Bates nimmt sich ein paar Brote mit Eipaste und einen großen Kaffee und setzt sich an einen Tisch neben dem Eingang. Während er ißt, schaut er dem Angestellten zu, der mit einem feuchten Lappen die Robotkellner abwischt; so, wie der Lappen aussieht, hat man den Eindruck, daß es hygienischer wäre, wenn er sie nicht abwischen würde. Bates hat gerade das erste Brot gegessen, als er spürt, daß jemand ihn beobachtet. Er schwingt sich herum auf seinem Stuhl und sieht eine junge Frau am Eingang stehen, schlank und hübsch, mit bronzefarbener Haut und rabenschwarzem Haar, das zu dünnen Zöpfchen geflochten ist. Sie kommt ihm auch irgendwie bekannt vor. »Chief? Ich wollte sie nicht stören, aber ich mache mir so große Sorgen, und sonst habe ich hier niemanden getroffen.« Die weiche Stimme hilft seinem Gedächtnis auf die Sprünge: Cindy, die Verlobte von Corporal Ward; er hat sie letzten Winter bei dem jährlichen Picknick zum Unabhängigkeitstag kennengelernt. »Nur keine Umstände! Was haben Sie auf dem Herzen?« »Ich kann Bastian nirgends finden. Er hatte doch sein Examen heute, er wollte nach Hause gehen und sich umziehen und mich danach anrufen. Wissen Sie, wir kennen uns seit zwei Jahren, und er hat noch nie vergessen, mich anzurufen, wenn er es mir versprochen hatte. Deshalb habe ich gedacht, daß die Prüfung vielleicht länger gedauert hat, und bin hierhergekommen, um ihn abzuholen. Die Prüfung war aber vor vier Stunden zu Ende.« Das Sandwich, das Bates gegessen hat, scheint sich in einen Stein zu verwandeln. Er stößt den Teller von sich und springt aus. »Kommen Sie mit. Wir geben eine Meldung an alle Streifen und Reviere durch, dann sehen wir in seiner Wohnung nach. Könnte es zufällig sein, daß sein Türschloß auch auf Ihre Hand reagiert?« 95 Ihr Gesicht ist grau geworden. »Sicher tut es das.« Doch sie müssen feststellen, daß Ward nie zu Hause angekommen ist. Ein Streifenpolizist hat ihn gefunden, in einer Gasse zehn Straßen vom Hauptquartier entfernt. Man hat ihn unter einen Schuttcontainer geschoben, seine Kehle ist durchschnitten worden. Während die Leiche abtransportiert wird, steht Bates in der blendenden Sonne und schwört Rache. Im Polizeigleiter weint Cindy leise vor sich hin. Als Carol sie endlich am späten Nachmittag bei A-bis-Z-Unternehmungen abgesetzt hat, ist Mulligan so müde, daß er Lacey kaum folgen kann, als sie ihm in den kühlen, schattigen Garten vorausgeht. Sie wird ihn wohl den ganzen Tag da schlafen lassen müssen, denkt sie, aber letzten Endes ist sie ja diejenige, für die er sich so verausgabt hat. Das mindeste, was sie ihm schuldet, ist ein Plätzchen zum Ausruhen. Zwar hat er nichts davon gesagt, aber langsam kommt ihr der Verdacht, daß sein Vermieter ihn wieder einmal rausgeworfen hat. Mit Nunks' Hilfe schafft sie ihn die Treppe hoch und aufs Sofa. Dann gießt sie sich ein Glas ein, während Nunks unruhig an der Tür hin- und hergeht. »Du willst mich etwas fragen?« Er nickt, aber seine riesigen Hände winken traurig ab. »Es ist kompliziert, und wir müssen warten, bis Mulligan wieder aufwacht?« Wieder ein Nicken. »Aber es ist so dringend, daß es keinen Aufschub duldet!« Genau. Sie hätte es wissen müssen. Zwar ist sie versucht, Mulligan wachzurütteln, doch ein Blick auf sein totenblasses Gesicht hält sie davon ab. Er schnarcht schon und hat sich wieder um ein Kissen gerollt, wie er das immer tut, auch wenn es noch so schrecklich unbequem scheint. Lacey gähnt, auch sie ist müde nach einem Tag ohne Schlaf. »Gut, ich sag' dir Bescheid, wenn er aufwacht. Oder willst 96 du hier bei mir warten? Vielleicht gibt es im Fernsehen irgendein Ballspiel.« Nunks schüttelt seinen riesigen Kopf und stapft aus dem Zimmer. So laut hallen seine Schritte auf der Treppe, daß Lacey klar wird, daß es kein unbedeutendes Problem ist, was ihn beschäftigt. Sie nimmt einen Schluck und geht hinüber zum Computertisch, wo sie sehen muß, daß Buddys Signalleuchte heftig blinkt. Mit einem Seufzer der Erleichterung setzt sie sich in den Sessel. Das ist endlich etwas anderes, als in Carols Transporter zu sitzen. Dann drückt sie einige Tasten. »Ich freue mich sehr, daß du zurück bist, Programmiererin. Es ist einiges an neuen Daten angekommen.« »Ordne sie nach Dringlichkeit, dann laß hören.« »Hier die Schlagzeilen in chronologischer Reihenfolge. Die Programmiererin kann dann über die Dringlichkeit entscheiden: Ich habe eine mögliche Ursache für die Schmerzattacke der Einheit Mulligan gefunden. Chief Albert Bates von der hiesigen Polizei hat angerufen. Das Leben von Sally Pharis ist sehr wahrscheinlich in Gefahr. Mulligans Leben könnte in Gefahr sein. Die Sicherheit der Republik ist möglicherweise betroffen.« »Du lieber Himmel! Fang mit Mulligan an, dann sprich über Sally.« »Beider Leben ist in Gefahr, weil sie etwas über den Mord an dem Carli Imbeth ka Gren wissen. Die Einheit Mulligan versuchte, am Tatort telepathisch tätig zu werden. Die Einheit Sally kam höchstwahrscheinlich zufällig am Tatort vorbei.« »War es das, was Bates gesagt hat?« »Ein guter Schluß. Er möchte dich auch sehen, vor acht Uhr heute abend, wenn irgend möglich. Er sagte nicht, warum.« Lacey ist ein wenig irritiert. Wenn Bates kein Polizist wäre, dann fände sie ihn gar nicht übel. Aber wie alle Angehörigen der Flotte, die zum großen Teil ihren mageren Sold 97 durch Schmuggel aufbesserten, hat sie eine instinktive Abneigung gegen jede Art von Polizei, gleich auf welchem Planeten. Auf der anderen Seite mußte wegen des ermordeten fremden Wesens im Rattennest etwas geschehen. »Ruf Bates an, Buddy.« Eine Weile summt und klickt es. Dann meldet sich Buddy: »Ich habe die Verbindung, er ist aber nicht da.« »Dann hinterlaß ihm diese Nachricht: Lacey ist zu Hause und will mit Ihnen sprechen, wann immer Sie können.« »Erledigt, Programmiererin.« »Gut. Dann der nächste Befehl. Frag beim Raumhafen an, ob das Handelsschiff >Montana< schon das System erreicht hat. Wenn ja, wende dich an Sam Bailey - kannst du dich an ihn erinnern?« »Natürlich. Ein Freund von dir, erstaunlich tüchtig, außerdem durch und durch seriös.« »Na, wenn das von dir kommt, dann muß es ein Kompliment sein. Aber zur Sache: Frag ihn, ob er irgend etwas Ungewöhnliches im Bereich unseres Systems bemerkt hat, besonders etwas, was man als Hinweis auf die Gegenwart eines fremden Schiffs werten könnte. Wenn er irgend etwas weiß, dann soll er es sofort in Grün-04 senden. Und sag ihm, ich brenne drauf, ihm einen Drink zu spendieren.« »Befehl verstanden, doch muß ich meine Programmiererin darauf aufmerksam machen, daß der Code Grün-04 seit fünfzehn Jahren nicht mehr benutzt wird.« »Und das ist genau der Grund, warum Sam ihn benutzen soll. Wir beide kennen ihn auswendig, aber ein Lauscher wird ihn erst identifizieren müssen. Wollen wir wetten, daß fast niemand mehr das Dechiffrierprogramm in seinem Computer hat?« »Das wäre ein logischer Schluß, Programmiererin.« Mit einem Mal ist sie entsetzlich müde, sie kann das Gähnen nicht länger unterdrücken. Sie schüttelt heftig den Kopf, um sich wachzuhalten. »Verdammt, Buddy, ich muß jetzt schlafen. Paß auf Mulli- 98 gan auf, leg eine Lichtschranke über ihn und gib Alarm, wenn er sich davonmachen möchte, während ich schlafe. Und weck mich auch, wenn Bates sich meldet.« »Wie du möchtest.« Buddy hört sich ein wenig verstimmt an. Kurz bevor sie richtig eingeschlafen ist, fällt ihr ein, daß er ja noch mehr Neuigkeiten für sie hatte. Aber da ist sie schon zu weit hinüber, um sich noch einmal aufzuraffen. 99 Erstes Zwischenspiel: Der Jäger Wohin er auch geht, diese tödliche Wut folgt ihm immer auf dem Fuße. Sie ist sein Lebensinhalt. Tomasos Wut ist immer zugegen, vielleicht verborgen wie ein zusammengerolltes Tier in seinem Bau, vielleicht unsichtbar in der nächtlichen Schwärze seiner abgründigen Seele. Doch läßt die Wut niemals seine Hände zittern, wenn er tötet, läßt ihn nie ungeduldig fluchen, wenn er ohne einen Laut, reglos in seinem Versteck wartet. Nie erlaubt er seiner Wut, daß sie sich auch nur in einem Zucken seiner Lippen verrät. Doch wenn er unterwegs ist auf seiner mörderischen Reise, dann folgt ihm die Wut wie ein treuer Begleiter, läßt ihn mit kaltem Blick die Menschen, denen er begegnet, mustern: Er sucht Opfer, lohnende, ihm Genuß verschaffende Opfer wenn nur seine Arbeit es ihm erlauben würde. Manchmal spricht die Wut zu ihm, aber er weigert sich, zuzuhören, denn er haßt diese Stimme. Das hohe, schrille Jammern eines verängstigten Kindes. Viel eher mag er den Gedanken, daß dieses Kind nicht mehr existiert, weil seine Seele ununterscheidbar mit jener des Mannes, der er geworden ist, verschmolzen sein muß. Es durfte nicht mehr existieren, dieses nach der Mutter winselnde und bettelnde Gör, wie es schrie und weinte und um sich schlug bei der Nachricht vom Tod der Mutter. Getötet durch jene Hände, die den Kleinen durch öde, kalte Korridore zerrten und ihn in ein Zimmer sperrten, auch wenn er noch so sehr an die Stahltür hämmerte und seinen ganzen Haß hinausschrie. Er erinnert sich sehr gut an dieses Zimmer, auch an die Blutflecke an der Tür, von den kleinen zerschundenen Händen, die hämmerten und hämmerten, unaufhörlich, so endlos wie der Schrei aus Furcht und Wut. Der Fußboden des Zimmers war mit einem abgewetzten blauen Teppich ausgekleidet. Ein Fenster gab es nicht, nur ein großes Hologramm an einer Wand, das eine Gebirgslandschaft mit einem Wasserfall zeigte. Endlos schäumte die weiße Gischt zu Tal, endlos kräuselten sich die weißen Wolken, ohne sich je von der Stelle zu bewegen. Sonst gab es nichts in diesem Raum: kein Bett, kein Fernsehgerät, keinen Stuhl, kein Buch oder Tonband. Als der Kleine aufgehört hatte zu schreien, schob ein Roboter durch eine Klappe in der Tür ein Tablett mit Essen herein. Er richtete seine Sensoren auf die blutigen Hände, doch niemand kam, um sich um ihn zu kümmern und ihn zu verbinden. Schließlich wusch er sie in dem Badezimmer nebenan und wickelte Klopapier darum. Es war das erste Mal, daß er sich um seine Gesundheit selbst kümmern mußte, aber nicht das letzte Mal. Das Essen bestand aus einem Kanten Brot, einer Schale Suppe und einem Glas wäßriger weißer Flüssigkeit, die er nicht kannte. Es war viel zu wenig, doch weil er nie zuvor hatte hungern müssen, glaubte er, daß der Roboter ihm mehr bringen würde, wenn er darum bat. Doch nahm er nur das Tablett mit sich und schlug die Türklappe hinter sich zu. Der Kleine wartete an der Tür eine ganze Weile, doch gab es erst am nächsten Tag wieder zu essen. In dieser Nacht versuchte er, so gut es ging, auf dem Fußboden zu schlafen, während sein knurrender Magen ihn quälte. Er schlief und träumte doch nur von seiner Mutter. Tränenüberströmt wachte er auf. Die Zeit verging, und nur ein Gedanke beschäftigte ihn, wurde zur fixen Idee: Essen. Nie wußte er, wann der Roboter kommen würde, wußte auch nicht, wieviel er ihm zu essen brachte. Manchmal gab es mehrere reichliche Mahlzeiten hintereinander, dann wieder saß er tagelang, wie es ihm schien, hungrig in seinem Gefängnis. Essen. Noch ein anderer Gedanke ließ ihn nicht los: die Zeit. Er versuchte, eine Möglichkeit zu finden, die Zeit zu messen, doch es gelang ihm nicht. Unmöglich zu sagen, wie lange er weinte, wie lange er schrie, wie lange er stumm in einer Ecke lag. Eines Tages kamen zwei Menschen durch die Tür, ein Wächter mit einer Betäubungspistole und ein anderer Mann, der seiner schwarzen, glänzenden Uniform nach ein wichtiger Beamter sein mußte. Tomaso wünschte sich, sie hassen zu können, doch es waren Menschen, Gesichter, menschliche Gesichter, die zu ihm in sein einsames Gefängnis gekommen waren. Der Wächter sagte kein Wort. Der gepflegte schwarze Bart des Beamten hüpfte ein wenig, wenn er sprach. »Willst du ein braver Junge sein, Tomaso?« »Ihr habt meine Mutter getötet!« »Wir waren es nicht. Die Meister haben es getan. Willst du ein braver Junge sein? Wenn nicht, werden sie auch dich töten. Deine Mutter war eine Para, auch du hast Psi-Talent. Weißt du, was das ist, Tomaso?« »Ich habe gespürt, wie sie starb.« Der Beamte brachte vor Unsicherheit das Wort nicht heraus, das ihm auf der Zunge lag. Nur sein Mund öffnete sich, ein feuchter Fleck Rosa inmitten des schwarzen Barts, und sein Blick war einen Augenblick lang traurig. Doch als der Wächter ihn ansah, faßte er sich. »Dann weißt du, wie es sein wird, wenn man auch dich tötet.« Nein, er schrie nicht, er weigerte sich einfach zu schreien, während er sich immer mehr zusammenrollte. Den Schrei konnte er unterdrücken, aber er konnte nichts dagegen tun, daß diese Stimme immer weiter in seine Ohren drang. »Nun, Tomaso, wenn du ein braver Junge bist, werden sie dich nicht töten. Statt dessen wirst du etwas Besonderes werden. Weißt du, was die Meister mit dir vorhaben? Sie werden dich auf eine sehr gute, sehr besondere Schule schicken, wo du lernen wirst, deine Begabung richtig zu gebrauchen. So besonders ist diese Schule, daß die meisten Leute gar nicht wissen, wo sie ist. Es ist ein Geheimnis, und du wirst zu diesem großen Geheimnis gehören. Ich denke, daß dir das gefallen wird.« Alles, wirklich alles würde besser sein als dieses Zimmer. 102 Jede Aussicht mußte angenehmer sein als dieser bis zur Übelkeit sich ihm aufdrängende Wasserfall mit dem unaufhörlich auf der Stelle fließenden Wasser. Tomaso streckte sich auf dem Boden aus und betrachtete den Beamten. »Gibt es zu essen an dieser Schule?« »Sicher, so viel du magst.« Der Mann hockte sich neben ihn. »Und weißt du was? Deine Mutter hat die Meister belogen; das ist der Grund, warum sie sterben mußte.« »Sie hat mir erzählt, daß sie jede Frau töten, die eine Para ist. Sie hat mir gezählt, daß sie auch alle Jungen töten.« »Nein, das ist nicht wahr.« »Du lügst! Ich kann immer sehen, wenn jemand lügt.« »Ich hätte daran denken müssen. Also gut, sie hatte recht. Sie haben sie getötet, sobald sie sie gefunden hatten. Aber sie töten nicht alle Jungen, sondern nur die kränklichen. Aber du bist doch ein kräftiger Bursche, aus dir kann ein richtiger Mann werden, nicht wahr? Also, was hast du vor willst du sterben oder tun, was sie von dir verlangen?« »Erst will ich wissen, was ich auf dieser Schule lernen soll!« »Du gefällst mir, Kleiner. Du redest, als ob du eine Wahl hättest.« Der Mann lächelte, es war ein ehrliches Lächeln. »Also gut, du wirst lernen, wie man Menschen tötet, heimlich und unauffällig. Hast du je das Wort Assassinen gehört?« In seiner Überraschung setzte er sich auf, zog die Beine an und legte die Arme darum. »Ich habe davon gehört. Sind diese Geschichten wahr, die man sich erzählt?« »Nur zu wahr. Nun, was meinst du würde deine Mutter wollen, daß du stirbst? Würde sie dir nicht raten, ja zu sagen!« »Na ja ... ich glaube, das würde sie tun.« Und die Stimme des Jungen erstickte in einem Weinkrampf. Es war noch an demselben Tag, nachdem er gebadet hatte und mit einem guten Essen und neuen Kleidern versorgt 103 worden war, daß er zum ersten Mal einen der Meister sah. Im Imperium der Allianz gab es zwei den Menschen vorbehaltene Planeten, und nur, wer sich als besonders vertrauenswürdiger Diener der Meister erwiesen hatte, durfte auch die übrigen betreten. Zwar hatte Tomaso während seines ganzen Lebens (immerhin sieben Jahre) von den Meistern gehört, hatte Bilder von ihnen gesehen doch hatte er nie einem von ihnen gegenübergestanden. Das lag zweifellos daran, daß er sich mit seiner Mutter auf der Farm der Großmutter versteckt hielt, bis zu jenem Tag, an dem sie von der Polizei aufgespürt wurden. Denn die H'Allevae scheuten keineswegs den Kontakt zu ihren menschlichen Untertanen, obwohl immer wieder einer ihrer Beamten ermordet wurde. Der Mann mit dem schwarzen Bart, Senor von Hartzmann, schärfte ihm ein, sich ja nicht daneben zu benehmen, und brachte ihn in einen großen Kuppelbau, der höchst seltsam eingerichtet war: Streben, Plattformen und Leitern aus Aluminium, die alle miteinander verbunden waren, bedeckten die Wände. Auf den Plattformen und waagerechten Streben saßen vielleicht zwanzig H'Allevae, jeder etwa eineinhalb Meter groß, mit langen, dünnen Armen und sehr kurzen, eigenartig gebauten Beinen. Sie trugen reichverzierte Gewänder, die geradezu übersät waren mit Edelsteinen und Muscheln. Auf ihren haarlosen Gesichtern wölbten sich große Facettenaugen über langen, beweglichen Nasen von weißer Farbe. Die Lippen darunter erinnerten so sehr an einen menschlichen Mund, daß man meinen mochte, Menschen, die Masken trugen, vor sich zu haben. Auf der untersten Plattform, die immer der Platz des Anführers war, weil dies die verwundbarste Position war, saß ein besonders prächtig geschmückter H'Allev'jan. Als er sprach, war jedoch nichts Menschliches an dieser Stimme: ein auf- und abschwellendes, wie aus Kicherlauten bestehendes Singen. »Eure Methoden haben ihn nicht brechen können, Senor von Hartzmann?« »Dieser Kleine, Sir, hat mehr Mumm als viele Erwachsene. Er ist widerstandsfähig, er dürfte es schaffen.« Der Meister drehte den Kopf einmal rasch hin und her, um Tomaso mit den smaragdgrünen Nebenaugen zu mustern, die an jeder Kopfseite unmittelbar über den von Haarkränzen umgebenen Ohröffnungen lagen. Er zog ein Sprühflakon aus einer Tasche seines roten und violetten Gewands und hüllte den Jungen in eine Wolke aus süßlichem, blumenartigem Duft. Jahre später erst erfuhr Tomaso, daß dieses Duftsignal bedeutete, daß er von jenem Tag an zum Clan dieses Meisters gehörte. In primitiven Zeiten, als die H'Allevae noch kichernd und heulend durch die Berge streiften und von Früchten und Insekten lebten, hätte der Anführer ihn jeden Morgen mit seinem Urin markiert. Nur ein so ausgezeichnetes Clanmitglied konnte am Abend seinen Anteil an der Nahrung bekommen, die man den Tag über gesammelt hatte. Nun waren die Meister (sie hatten dieses Wort nicht ohne Ironie einer irdischen Sprache entnommen) Herren über ein Drittel des erforschten Raumsektors; zu essen gab es, soviel man wollte, und markiert wurde ein Clanmitglied nur ein einziges Mal, und zwar mit erlesenem Parfüm. Doch an jenem Tag hätte Tomaso am liebsten geniest. Er haßte den süßen Geruch nicht weniger als das schmuckbehängte Wesen, das ihn eingesprüht hatte. Und in der Nacht, als er sich in einem richtigen Bett in den Schlaf weinte, da wurde der Duft eins mit der schluchzenden, verängstigten Kinderstimme, so daß selbst Jahre später, immer wenn er den kleinen Jungen tief da drinnen wimmern hörte, auch diese Süße in seine Nase zu steigen schien. Aber er achtet nicht mehr auf diese Stimme, vielleicht manchmal beim Einschlafen. Für einen kurzen Augenblick spürt er dann den Schmerz in den blutigen kleinen Händen, hört den heiseren Schrei des Hasses, doch nur so lange, bis sein in solchen Dingen geübtes Bewußtsein diese Störung wie auf Knopfdruck ausschaltet. Klick, dann war angenehme Stille. Wenn er wach ist, so wie jetzt, während er die 104 105 H-Straße entlanggeht, nachdem er Sally Pharis' Überreste in ' einen Müllbehälter hinter einem Restaurant geworfen hat, , da erinnert er sich nicht. Er weigert sich einfach, sich an diesen Jungen zu erinnern. Aber die Wut, das ist etwas anderes. Diese Wut ist ein Freund, ein hilfreicher Begleiter, der seinen Geist klar und wach hält und ihn seine Bestimmung nie vergessen läßt: zu töten. Als die Zeit kam, um die Mittagsstunde, da tat es ihm leid, daß er Sally nach den schönen Stunden, die sie ihm bereitet hat, töten mußte; aber es war die Wut, die sie tötete, die sein Messer dafür benutzte. Er bleibt vor dem Schaufenster eines nun geschlossenen Ladens stehen, das polarisierte Glas macht es zu einem idealen Spiegel, und rückt den Helm der Sonnenpelerine zurecht. Dieser Sonnenschutz ist eine perfekte Tarnung. Solange er nicht sprechen muß, ist er so gut wie unsichtbar, nur eines dieser weißvermummten Gespenster, die durch die fast menschenleeren Straßen unter der Glut der späten Nachmittagssonne huschen. Sollte die Polizei Sallys Leiche finden, bevor ihr Körper in der Recyclinganlage verwertet worden ist, die das kostbare Wasser wiedergewinnen soll, wer könnte dann sagen, welches der weißen Gespenster der Täter war? Die schweren Stiefel, die unter der Pelerine hervorlugen, konnten ebensogut einem Lizzie wie einem Menschen gehören, obwohl er natürlich für einen Carli oder einen Hüpfer (wie die anderen Spezies etwas respektlos die H'Allevae nennen) zu groß ist. Mit einem Grinsen hinter der reflektierenden Sichtscheibe geht er weiter, ein gewöhnlicher Bürger dieser Stadt, der nichts zu verbergen hat und darum auch keinen Grund zur Eile. Als er in die Gasse zu dem billigen Hotel einbiegt, in dem er seine Ausrüstung zurückgelassen hat, fragt er sich, ob überhaupt jemand die Leiche finden wird. Wahrscheinlich schon ... Die Recyclingleute paßten auf, gut möglich also, daß ihnen der merkwürdige Geruch bei jenem Behälter auffällt. Er bemerkte ihn erst, nachdem er Sally darin verstaut hatte; doch als er wegging, da zog es wie ein Schwaden hinter ihm her, ein schar- 106 fer Geruch, wie nach verdorbenem Essig. Wahrscheinlich veranlaßte das die Abfalltechniker, den Inhalt zu überprüfen, denn es konnte ja etwas in dem Behälter sein, das den ganzen Inhalt verdarb und für die Wiedergewinnung von Proteinen untauglich machte. Während er darüber nachdenkt, steigt ihm dieser Geruch noch immer in die Nase, vielleicht haftet er noch an seinen Händen oder dem Overall. Er nimmt sich vor, die hohen Gebühren für eine Extradusche in Kauf zu nehmen, obwohl er alle diese Kleinigkeiten verabscheut, die unausweichlich dazu führen, daß man im Computer registriert wird und die Aufmerksamkeit der Hotelangestellten erregt. Als er das kleine, ärmliche Zimmer betritt, ist der Geruch noch stärker geworden. Er wirft die Sonnenpelerine auf das Bett, kickt seine Stiefel über den Boden und zieht den rotbraunen Overall aus. Das seidenartige Gewebe ist sehr dicht, so daß er den ganzen Tag tüchtig schwitzen mußte -und jeder Tropfen Schweiß scheint nach Essig zu riechen, mit einem kleinen Hauch von Parfüm. Sallys Parfüm. Er wirft den Overall auf den blaugekachelten Fußboden des Bads, das kaum größer als ein Kleiderschrank ist - bloß nicht auf den Teppichboden des Zimmers, damit er nicht den Geruch annimmt. Aus seiner Reisetasche holt er einen Plastikbeutel; der Overall läßt sich zu einem kleinen und leichten Bündel zusammenrollen und paßt mühelos in den Beutel. Später würde er sich seiner entledigen. Die Dusche und viel Seife haben den Geruch verschwinden lassen; er fühlt sich gut jetzt, ist so entspannt, wie er eigentlich immer ist. Sallys Gesicht hat er schon beinahe vergessen, und die Wut hat jedes Gefühl des Bedauerns überdeckt. Er zieht sich an, graue Shorts und ein weißes Hemd, und stellt fest, daß er immerzu ans Essen denkt. Nicht, daß er hungrig wäre - nein, es sind nur flüchtige Bilder: Beißen, Kauen, Schlucken, die ihm immer wieder durch den Kopf gehen. Als er sich darauf konzentriert, bemerkt er, daß er ein Psi-Signal empfängt. Es kommt aus nächster Nähe. Er 107 setzt sich auf die Bettkante, er öffnet sich den Signalen, die auf ihn eindringen. Wer oder was auch immer dies sendet, es ist ein so primitives Wesen, daß es nicht einmal über Worte zu verfügen scheint. Nur Bilder gehen von ihm aus und dumpfe, wirre Sinneseindrücke, die nur von Essen, Schlucken, Verdauen handeln. Das Zimmer ist doch leer, hier ist niemand außer ihm aber dieses Wesen ist nah, sehr nah. Dieser Vielfraß, er schmatzt, knirscht mit den Zähnen. Die Unersättlichkeit in Person. Das erste Mal seit vielen Jahren fühlt er Panik aufsteigen, kalte Finger auf seiner Haut oder sind es Zähne, die an ihm nagen? Er blockt den Gedanken ab, dieses verdammte Bild, was für ein Unsinn ... Kauen, Saugen, Schlucken, diese ewige Suche nach Nahrung ... Lange genug hat er trainiert, seinen Geist zu kontrollieren. Nichts zu fühlen, wenn es sein mußte, nichts sich vorzustellen, nichts zu formulieren, nur an seinen Atem zu denken und sonst nichts. Aber jetzt erscheint ihm sein Atmen wie Essen, ein Verschlingen von Luft, ein Einsaugen und Verdauen von Sauerstoff. Die Panik bemächtigt sich seines Verstandes. Mit einem lauten Fluch springt er auf die Füße, doch auch der Fluch beschreibt nichts anderes als die Tätigkeit der Verdauung, die Ausscheidung. Das äußere, sichtbare Resultat der unsichtbar im Körper ablaufenden Verdauung. Das Signal wird stärker. Er zittert nun, ganz allein in diesem Zimmer mit dem abgewetzten Teppichboden, den Purpurblumen auf den Vorhängen, die die Stoffbahnen hinunterrieseln zu scheinen, ohne sich doch zu bewegen. Der Essiggeruch ist wieder da. Er weiß es noch nicht, aber alle Umstände, die es braucht, sind eingetreten, daß der Wahnsinn Besitz von ihm ergreifen kann. 108 Von Laceys Anruf erfährt Bates erst eine Stunde vor Sonnenuntergang, als er in sein Büro zurückkehrt; er hat sich nicht nehmen lassen, den Autopsiebericht über Ward eigenhändig beim Gerichtsmediziner abzuholen. Eigentlich hat er vorgehabt, ein wenig zu schlafen, doch öffnet er statt dessen die mit einer Sperre versehene Schreibtischschublade und nimmt sich einige von den verbotenen Pillen ein Überbleibsel von jenem Schlag gegen einen Drogenring, einige Monate zurück. Das wird genügen, ihn für den jetzt beginnenden Arbeitstag wach und bei Konzentration zu halten. Er spült sie mit Mineralwasser hinunter und bespricht sich mit dem Mann in der Einsatzzentrale. »Okay, Ricardo. Ich muß da einer Sache nachgehen, bei A-bis-Z-Unternehmungen. Das ist in einer Seitenstraße der D-Straße, gleich bei den Toren zum Raumhafen.« »In Ordnung, Chef. Ich werde alle Meldungen an Ihr tragbares Terminal durchgeben.« Während er in Richtung Porttown fährt, fragt er sich, ob es richtig ist, sich an Lacey zu wenden. Er haßt es, Lacey fragen zu müssen weil ihre Hilfe so nützlich ist, daß er sie nicht über Gebühr beanspruchen möchte. Er weiß auch genau, daß sie auf die Polizei nicht gut zu sprechen ist und möglicherweise jede weitere Zusammenarbeit verweigert, wenn er ihr lästig wird. Außerdem - wenn sich herumsprechen sollte, daß sie der Polizei Tips gibt, dann würde ein guter Teil ihrer Quellen versiegen. Auf der anderen Seite geht es um Mulligan, einen Freund von ihr, und er kann auf die Gefahr hinweisen, in der er schwebt, wenn sie sich sträubte. Als er beim Lagerhaus angekommen ist, führt Nunks ihn gleich herein und bringt ihn durch den Garten zur Treppe von Laceys Wohnung. Durch das üppig wuchernde Grün zu spazieren ist erholsam, verschafft ihm eine kleine Atempause. Ein Glück, daß die meisten denkenden Wesen ganz 109 andere Interessen als Mord und Totschlag haben ... Am anderen Ende des Gartens erblickt er ein atemberaubend schönes Mädchen, ein Purpurschimmer auf dem Haar, das eifrig damit beschäftigt ist, Tomatentriebe an Drähten zu befestigen. Bates bleibt stehen, kann den Blick kaum abwenden von ihr, doch Nunks läßt ein leises Brummen hören und drängt ihn mit unwirscher Geste, weiterzugehen. »Schon gut, mein Lieber«, sagte Bates, »ich habe kapiert. Ich soll sie in Ruhe lassen ... Ein Jammer.« Nunks' Brummen wird zu einem bösen Knurren, und Bates läßt das Thema fallen. In einer Ecke von Laceys Wohnzimmer schnarcht Mulligan vor sich hin; wie ein Bündel schmutziger Wäsche liegt er auf dem Fußboden. Nur kurz fragt sich Bates, wie ein menschliches Wesen derart zusammengekrümmt schlafen kann, dann wendet er sich Buddy zu, der ihn anblinkt und summt, denn seine Butler-Funktion ist jetzt aktiviert. »Guten Abend, Chief Bates. Ich habe Laceys Wecker eingeschaltet, sie wird gleich hier sein. Bedienen Sie sich doch an der Bar, wenn Sie möchten.« »Danke, Buddy, diesmal verzichte ich. Hat sie dich beauftragt, etwas über diesen Carli-Mordfall herauszufinden?« »Meine Programmiererin hat mich nicht ermächtigt, darüber zu sprechen.« »Klar. Erst will sie sich ein Pfund von meinem Fleisch herausschneiden, nicht?« Buddy blinkt ganz aufgeregt. »Ich denke nicht, daß meine Programmiererin zum Kannibalismus neigt.« »War nur ein Scherz. Vergiß es ... Kannst du mir sagen, ob Mulligan schon lange hier ist?« »O ja, das sind keine vertraulichen Daten. Er ist hier, aktiviert und inaktiviert, seit insgesamt neunundzwanzig Stunden.« »Gut. Wenn er aufwacht, dann laß ihn nicht gehen.« 110 »Meine Programmiererin hat mir einen ähnlichen Befehl gegeben.« In diesem Moment kommt Lacey aus ihrem Schlafzimmer geschwankt, die Haare wie Stroh nach allen Richtungen, die Augen rotumrandet. »Keine Zeit zum Schlafen, Lacey?« »Nur zwei Stunden, höchstens zweieinhalb. Setzen Sie sich, Chief. Mulligan scheint das Sofa ja nicht mehr zu brauchen.« »Schläft er immer wie so ein Gummiakrobat?« »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen?« »Ach, Entschuldigung ... So hab' ich's nicht gemeint.« Sie wirft ihm einen wirklich bösen Blick zu und stolpert zur Bar hinüber, dreht den Wasserhahn auf und benetzt sich das Gesicht. Und Bates verflucht sich im stillen für seine Taktlosigkeit. Das mußten die Hyperpillen sein, die nun langsam zu wirken begannen. »Was kann ich für Sie tun, Chief?« Sie kommt zurück und läßt sich auf den Lehnstuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. »Geht es um die beiden Carli-Morde?« »Genau das. Aber inzwischen gibt es noch eine Leiche, diesmal ein Mensch. Einer meiner besten Beamten, verdammt!« »Tut mir leid für Sie.« Nun schwingt Mitgefühl in ihrer Stimme, ebenso spontan und echt wie ihre Verärgerung eine Minute zuvor. »Einen guten Mann zu verlieren ist hart.« »Ja, das ist es.« Er blickt zur Seite. »Ich werde Sie nicht fragen, was Sie wissen, und auch nicht, woher Sie es wissen.« »Gracias. Dann können wir vielleicht ins Geschäft kommen. Ich denke, daß das der Grund für Ihren Besuch ist.« »Ja sicher, aber ich kann nicht handeln, was den Preis angeht. Wir haben feste Tarife für unsere Informanten.« »Oh, an so etwas Gewöhnliches wie Geld habe ich gar nicht gedacht.« »Woran denn sonst?« 111 Sie wirft ihm ein kurzes, belustigtes Lächeln zu, das sie wie eine Fünfzehnjährige aussehen läßt. " »Es genügt mir vorerst, wenn Sie in meiner Schuld stehen. Ich werde dann bei Gelegenheit darauf zurückkommen.« Nun ist die Falle zugeschnappt. Bates zögert. Wenn er etwas überhaupt nicht mag, dann ist es so ein Damoklesschwert über seinem Kopf; aber weigert er sich, dann könnte sie ihn abblitzen lassen. »Nun ... Dann machen wir es auf diese Art. Wissen Sie, was Ihr Problem ist, Lacey? Sie langweilen sich, seit Sie im Ruhestand sind. Warum, in aller Welt, kommen Sie nicht zu meiner Truppe, da gibt's Arbeit genug.« »Vielleicht tu ich das eines Tages. Also, was wollen Sie wissen?« »Das weiß ich noch nicht so genau, am besten fangen wir mit Sally Pharis an. Sie ist möglicherweise eine wichtige Zeugin.« »Ach ja, Buddy hat mir gesagt, daß Sie um ihr Leben fürchten. Haben Sie sie gefunden?« »Nein, wir haben nicht die geringste Spur von ihr.« »O nein ... Herr im Himmel.« »Genau das meine ich, verdammt.« »Gut, dann wäre es das beste, wenn ich mich auf die Suche nach ihr mache.« »Ich habe gehofft, daß Sie das sagen werden, genau das. Auch Mulligan steckt mit drin, doch dürfte er hier einigermaßen sicher sein. Nunks würde bestimmt niemanden hereinlassen, der seinem Freund gefährlich werden kann.« »Außerdem kann Mulligan auch selbst spüren, wenn jemand hinter ihm her ist. Aber was ist mit Ihrem Beamten passiert?« Es schmerzt, darüber zu reden, doch Bates erzählt die Geschichte ruhig und ohne Stocken und läßt auch die Feststellung des Gerichtsmediziners nicht aus: daß der Täter ungewöhnlich kräftig sein mußte, um die Kehle mit einem Schnitt so tief aufzuschlitzen. Und dann kommt er in Fahrt 112 und berichtet Lacey alles, was er über den Fall weiß. Während er redet, huschen ihre Finger über diese altmodische Vorrichtung, eine Tastatur. Der Bildschirm läßt merkwürdige Lichtreflexe über ihr Gesicht tanzen. »Haben Sie das Fernsehen informiert? Kommt es in den Abendnachrichten?« fragt sie schließlich. »Am hellen Tag sind nicht viele Leute unterwegs, und dieser Killer müßte doch aufgefallen sein, madre! Was für eine Methode, Leute umzulegen! Wer ihn gesehen hat, wird ihn in Jahren nicht vergessen, das wette ich.« »Für den Rest seines Lebens nicht! Ich frage mich, ob es einen Grund gibt, daß er ausgerechnet ein Messer benutzt ... Es ist lautlos, aber das sind die Laser des Militärs auch, und ich bezweifle nicht, daß man sie auf dem Schwarzen Markt kaufen kann, wenn man die richtigen Verbindungen hat.« Lacey lächelt kurz und wendet sich wieder dem Bildschirm zu. »O Mann!« sagt sie unvermittelt. »Danke, Buddy.« Sie dreht sich zu Bates. »Er hat mich gerade an etwas erinnert, das vielleicht wichtig ist. Sie erinnern sich an Mulligans Anfall? Als er versuchte, bei dieser ersten Leiche zu lesen?« »Sicher. Hat Buddy herausgefunden, was schiefging?« »Er hat ins Schwarze getroffen. Ist über eine Veröffentlichung des Nationalen Parapsychologischen Instituts gestolpert, in der zu lesen ist, daß es nicht ausgeschlossen ist, direkt auf die Psi-Fähigkeiten anderer Paras einzuwirken, sie zu blockieren und auch noch die Erinnerung an die Blockade auszulöschen. Mulligan konnte sich nicht an das geringste erinnern, als er zu sich kam.« »Du lieber Himmel! Aber muß nicht jemand ziemlich nahe sein, um so auf einen anderen Para einwirken zu können?« »Verdammt nahe. Nicht weiter als irgendein Gaffer in der Menge um den Tatort.« Bates läßt einen knappen, aber um so unbeschreiblicheren Fluch hören. Als sein Blick auf Mulligan fällt, bemerkt er, 113 daß er wach geworden ist und sich aufsetzt, um ihnen zuzuhören. Sein Gesicht ist totenblaß, die Augen geweitet wie die eines staunenden Kindes. »Versuche mich zu erinnern, wissen Sie«, sagt er. »Es schmerzt höllisch.« »Ja, Buddy hat gesagt, daß das die Folge der Blockade ist.« »Dann muß es jemand sein, der seinen Eid gebrochen hat.« Mulligan wird ganz aufgeregt. »Ich meine: Wenn man registriert wird, muß man die Eidesformel unterschreiben. Und der erste Satz heißt, daß man nie jemanden durch seine Psi-Fähigkeiten verletzen wird.« »Als ob einer, der rumläuft und Kehlen durchschneidet, sich wegen eines lausigen Eids den Kopf zerbrechen wird«, sagt Bates schroff, und sofort tut es ihm leid, als er sieht, wie Mulligan zusammenzuckt. »Nun, jedenfalls scheint es ein einzelner zu sein und keine ganze Bande.« »Ja, aber ich glaube, Mulligan ist da einer wichtigen Sache auf der Spur, Chief. Sehen Sie, dieser Aufsatz aus dem Parapsychologischen Institut ist doch sehr theoretisch, jedenfalls keine Gebrauchsanweisung. Das könnte doch heißen, daß wir es mit einem Para zu tun haben, der nicht hier in der Republik ausgebildet wurde?« . »Wo dann? Auf einem Planeten, von dem wir noch nie gehört haben bei den kleinen grünen Männchen vielleicht? Das wird ja immer schöner! ... Tut mir leid, ich hab' diesen Tag kein Auge zugemacht, ich wollte euch nicht kränken.« »Kein Schlaf und eine Purpurpille, hab' ich recht?« Lacey wirft ihm ein Lächeln zu. »Da sollte man ein bißchen vorsichtig sein, Chief. Es hat doch sicher einen Grund, daß sie verboten sind, nicht wahr?« Bates macht ein finsteres Gesicht. »Aber zur Sache«, fährt Lacey fort, »es macht Sinn: ein Mörder mit Psi-Fähigkeiten. Das ist der Grund, warum er die Leiche mitten auf der Plaza zurückgelassen hat; sie sollte rasch gefunden werden, so hatte er auch Gelegenheit, den von der Polizei herbeigerufenen Para zu manipulieren. Ich meine, je länger er sich dort aufhielt, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, daß er jemandem auffiel. Also mußte der Tote möglichst bald entdeckt werden. Und da kam auch schon der arme Ward, gab Alarm, dann tauchte Mulligan auf - besser konnte es gar nicht funktionieren. Er versetzte Mulligan diesen Schock und verschwand dann in der Menge. Und Sie standen da und trauten sich nicht, einen anderen Para an diese riskante Sache ranzulassen.« »Ja, natürlich, wie konnte ich! Mulligan, ich habe fast einen Herzschlag gekriegt ... So weit, so gut. Dann hat er Ward getötet, denn es war ihm nicht entgangen, daß der Sally Pharis gesehen hatte und sie als Zeugin benennen konnte ... Nein, es geht nicht auf. Das konnte er nicht wissen!« »Sie haben doch sicher eine Meldung an alle Dienststellen und Streifen durchgegeben? Eine Menge Leute hört den Polizeifunk ab.« »Ja, aber es ist doch unlogisch, daß er Ward getötet hat, nachdem er Sally identifiziert hatte.« »Verdammt richtig!« »Wenn er ein Para ist«, meldet sich Mulligan zu Wort, »braucht er nicht den Funkverkehr abzuhören, um an Sally heranzukommen.« Als Lacey und Bates sich zu ihm umdrehen und ihn anstarren, verstummt Mulligan verlegen. »Nun mach schon«, sagt Lacey, »wie meinst du das?« »Na ja ... nehmen wir an, er macht sich nach der Tat aus dem Staub. Er bemerkt, daß Sally ihn gesehen hat, aber er kann für den Augenblick nichts tun vielleicht, weil Ward gerade auftaucht oder andere Leute. Also merkt er sich Sallys Aura. Es ist nicht leicht zu erklären; man kann sich eine Vorstellung von einem fremden Bewußtsein machen, die so unverwechselbar ist wie ein Geruch. Jeder hat so eine Aura, man kann sie sogar aus einer Menschenmenge herausfiltern. Also hat er sich erst um mich gekümmert, dann hat er sich auf den Weg gemacht, Sally zu finden. Er konnte aber nicht wissen, daß Ward Sallys Namen schon weitergegeben hatte, so etwas ist unmöglich.« »Dann sind wir also wieder bei unserem Killer mit Psi-Talent«, sagt Bates. »Shit.« »Wirklich übel«, sagt Lacey. »Aber es hat den Vorteil, daß wir nur für einen einzigen Mord ein Motiv finden müssen, nämlich den Mord an Ka Gren. Durch die anderen beiden Morde wollte der Killer seine Spuren verwischen.« »Gut. Damit könnten wir recht haben, ich möchte es fast glauben. Aber sicher habe ich nicht die geringste Chance, euch zum Stillschweigen zu verpflichten?« »Warum? Weil Ka Gren von der Konföderation bei der Allianz herumspioniert hat und Sie diplomatische Verwicklungen fürchten?« »Woher, zum Teufel, wissen Sie das?« »Bis eben wußte ich es nicht. Es war nur logisch, und Sie sind mir prompt in die Falle getappt.« Einen Moment ist Bates sprachlos; er weiß nicht, ob er wütend sein oder diese Frau bewundern soll. »Nun tun Sie nicht so. Darauf hätte doch jeder kommen können. Dieser ganze verfluchte Planet weiß doch, daß die von der Allianz und der Konföderation fast nur zu dem Zweck hier sind, um sich gegenseitig auszuspionieren.« Lacey unterbricht sich, um Buddy etwas einzutippen. »Warum regen Sie sich denn auf?« Bates holt tief Luft und sagt sich, daß sie ja recht hat. Einige Minuten ist sie damit beschäftigt, einen Text auf dem Bildschirm zu lesen, und Mulligan läßt sie nicht aus den Augen. »Okay, Chief«, sagt sie schließlich, »ich habe was für Sie wenn Sie die Hand auf einen ganzen Stapel Bibeln legen und schwören, daß Sie nicht fragen werden, woher ich es habe. Es sind sogar zwei Dinge.« »Zwei Stapel und noch einen Koran obendrauf.« »Fein.« Sie macht eine Pause, tippt, liest, gibt wieder 116 etwas ein. »Erstens: Seit einigen Wochen verfolgen die Alliierten die Spur eines Objekts, das sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne befindet. Mein Informant weiß nicht genau, was es ist. Was seine Geräte messen können, läßt auf einen Kometen oder etwas, das sich auf einem Kometen befindet, schließen. Nehmen wir an, daß Ka Gren davon wußte und mehr herausfinden wollte. Das ist sicher weit hergeholt, klar, aber es ist unsere einzige brauchbare Vermutung.« »Es reicht jedenfalls aus, um bei seiner Botschaft ein paar Andeutungen machen zu können. Und was ist das andere?« »Es hat vielleicht mit den Morden nichts zu tun, aber ich wette, daß es mit der anderen Sache zusammenhängt. Draußen im Rattennest gibt es ein frisches Grab. Ein paar dieser Irren haben ein Vernunftwesen getötet, und ich wette alles, was ich habe, daß es zu einer noch nie gesehenen Spezies gehört. Können Sie dafür sorgen, daß es exhuminiert wird?« »Nichts leichter als das! Können Sie Buddy sagen, daß er für mich telefonieren soll? Ich will es sofort erledigen. Woher wissen Sie ... Entschuldigung, ich werde mein Versprechen halten.« »Gut. Dann werde ich Ihnen einen Plan geben, mit dem Sie die Stelle finden können. Und vergessen Sie nicht, genug Bewaffnete mitzunehmen. Die Irren werden glauben, daß Sie den Teufel wieder ausgraben.« Nunks ist überrascht, wie ausdauernd Maria arbeitet. Es hat etwas Energisches, fast Wildes, wenn sie sich über einen Tomatenstock bückt und mit vor Konzentration grimmigem Gesicht die Klettertriebe am Maschendraht befestigt zuerst herumwindet, dann mit einer dünnen Schnur festzurrt. Als wäre diese Arbeit das Heilmittel, das sie braucht, um die Erinnerung an ihr früheres Leben loszuwerden. Weil sie gewisse Psi-Fähigkeiten hat, kann Nunks einiges aufschnappen, was in ihrem Kopf vorgeht; ein wahrer Tumult, ein Hin und Her aus Ängsten, die letztlich darin gipfeln, daß 117 ihr Zuhälter auftauchen wird, um sie aus diesem eher gewöhnlichen Leben, das ihr wie eine Idylle erscheinen muß, zu reißen und sie in die muffige kleine Absteige am anderen Ende von Porttown zurückzubringen. Nunks möchte sie gerne beruhigen, aber sie kann natürlich seine Gedanken nicht lesen noch nicht, jedenfalls. Das macht ihn nervös, und in seiner Ungeduld sucht er nach einem Signal von Mulligan, findet heraus, daß er wach ist und daß Chief Bates noch immer in Laceys Büro ist. Nachdem Mulligan ihm erklärt hat, daß die Polizei sich von den Zuhältern bestechen läßt, ist er auf Bates sehr schlecht zu sprechen. Wenn er nur schon verschwunden wäre ... Mulligan hat jedoch seinen Kontaktversuch bemerkt und meldet sich jetzt. Großer Bruder: Braucht mich? Muß mit Lacey reden. Aber: Polizei muß weg. Gut. Aber: Wenn Polizist geht, Lacey geht. Verärgerung. Kann Lacey warten? Kann nicht warten. Großer Bruder: Frau mit Namen Sally, Freundin von Lacey, in großer Gefahr. Angst. Messer, Kehle. Lacey muß finden, unbedingt finden, bevor. Schock. Verstehe, kleiner Bruder. Später reden mit Lacey. Mit dir früher oder auch später reden ? Früher. Sie gehen. Ich bleibe. Erleichterung. Nunks überläßt die Tomaten der fleißigen Maria. Langsam geht er durch den Garten, der fast reglos- leblos in der späten Abenddämmerung liegt. Bald wird er die Schwebelampen aufsteigen lassen, damit seine Helfer ihre Nachtarbeit nicht unter dem Geflacker des Nordlichts tun müssen, doch für den Augenblick genießt er den Sonnenuntergang aus Orange und Aprikosengelb, mit einigen roten Tupfen dazwischen. Der junge Rick, der Deserteur der Allianz-Flotte, kommt die Treppe herunter, er gähnt und streckt sich. Heute abend ist er pünktlich, kein Wunder nach diesem Rüffel, den Lacey ihm gestern verpaßt hat. Zwar ist der 118 Junge Nunks äußerst unsympathisch, doch macht es die Aussicht erträglicher, daß er sich in ein, zwei Tagen mit seinen falschen Papieren davongemacht haben wird. Er hat auf der Montana einen Posten als Kommunikationstechniker bekommen. »Was soll ich heute nacht machen, Nunks?« Nunks zeigt erst auf eine Schaufel, die an der Wand lehnt, dann auf den Komposthaufen, der umgeschichtet werden muß. Rick stöhnt und macht sich an die Arbeit. Nunks sieht ihm eine Weile zu: ein sehr großer Bursche, mit kräftigen Schultern und langen Armen. Er besitzt eine Laserpistole, die er bei seiner Flucht hat mitgehen lassen. Eigentlich sollte er einen hervorragenden Beschützer für Maria abgeben, wenn tatsächlich ihr von Drogen aufgeputschter Zuhälter auftauchen sollte. Dafür mußte gesorgt sein, denn Nunks hat vor, mit Mulligan und Lacey zum Rattennest hinauszufahren, sobald das übrige erledigt war. Noch immer spürt er diese Verzweiflung des fremden Wesens, es ist wie der metallische Nachgeschmack eines Giftes in seinem Mund. Kurz darauf kommen Bates und Lacey geräuschvoll die Treppe herab. Sie läßt den Chief vorauseilen und bleibt stehen, um mit Nunks zu reden. Ihre Lippen sind sehr schmal, so aufgeregt und beunruhigt hat er sie noch nie gesehen. Über Shorts und Bluse trägt sie eine dunkelblaue Jacke, ein Teil ihrer Flottenuniform. Darunter kann sie sehr gut ihre Laserpistole verbergen. »Nunks, mir ist eingefallen, daß du mir etwas sagen wolltest. Kann das warten?« Er nickt, macht eine wegwerfende Handbewegung, damit sie versteht, sie solle sich darüber keine Gedanken machen. »Gracias. Mulligan hat mir gesagt, daß du das von Sally schon weißt, aber es geht nicht nur um sie. Da scheint so ein Irrer in der Stadt herumzulaufen, der reihenweise Leute umbringt. Nunks wirst du bitte auf Mulligan aufpassen und ihn nicht aus den Augen lassen?« Nunks nickt wieder und tätschelt ihr beruhigend die 119 Schulter. Er beschließt, die einzige Tür zum Garten zu verschließen und Rick dort als Wache zu postieren, die Pistole in der Hand. Nach allem, was er weiß, suchen Irre das leichte Opfer und gehen einem Kampf aus dem Wege. Es gab in Porttown zwei Einkaufsviertel. Das eine, nicht weit von A-bis-Z-Unternehmungen, ist für Raumfahrer und Touristen gedacht und bietet alle die Attraktionen, die man überall auf der Welt an solchen Plätzen findet: viel zu teure Restaurants, Souvenirläden, Bars, Sex für jeden Geschmack, und hier und da natürlich auch ein Geschäft, in dem der Reisende nützliche Dinge wie Handtücher und ähnliches kaufen kann. Die Bewohner von Porttown, gleich welcher Spezies, nennen dieses Viertel >Basar< und machen einen großen Bogen darum, wenn sie nicht gerade mit einem dieser Unternehmen zu tun haben, dessen Zweck darin besteht, die Fremden um ihr Geld zu erleichtern. Fuhr man dagegen um den Hafen herum bis zur anderen Seite von Porttown, dann kam man in das andere Einkaufsviertel, größtenteils an der Straße F-Nord gelegen. Dort kaufte man Ultraschallduschen, dort gab es Lebensmittelmärkte, Reparaturwerkstätten für Gleiter und viele andere ganz profane oder schon etwas speziellere Dienstleistungen wie die Kneipe an der Ecke oder den Dealer mit allen nur gebräuchlichen Drogen. Da man an der F-Nord niemals einen Parkplatz findet, läßt Lacey ihren Gleiter zu Hause und fährt mit der U-Bahn. Little Joe hat so eine Bemerkung gemacht, daß Sally gerade umgezogen sei, in eine Wohnung über einem Lizzie-Restaurant, doch hat er nicht gesagt, wie es heißt. Weil diese Restaurants auch bei Menschen sehr beliebt sind, gibt es allein an der F-Nord eine Menge davon, und es ist keineswegs ungewöhnlich, daß oben drüber noch ein paar Wohnungen liegen. Lacey steigt an der Dreiundzwanzigsten Straße aus und geht einen Block weit, bis zu einer Kneipe, die >Freier Fall< heißt und ihrer Tante Maureen gehört. Ihre 120 Tante ist eine große, etwas plumpe Frau mit blonden Haaren und einer ewig roten Unterlippe, weil sie immerzu Kaukraut im Mund hat. Maureen war schon vierzig, als das Verjüngungsmittel endlich einsatzbereit war, so daß sie nun mit Krähenfüßen um die Augen und einigen Falten um die Lippen herum leben muß, doch - wie sie zu sagen pflegte -war das für eine versoffene Schlampe von siebzig gar nicht so übel. Lacey findet sie hinter dem knallroten Plastbetontresen, an dem es noch eine richtig schöne Haltestange aus Messing gibt: Das schafft eine völlig andere Atmosphäre in diesem Raum. Auf dem riesigen 3-D-Fernsehschirm, der eine ganze Wand einnimmt, läuft ein Baseballspiel, eine Übertragung von irgendeinem anderen Planeten, und die meisten Gäste schauen zu, während sie ihr Alfalfa-Bier trinken. Hier und da hört man einen unterdrückten Fluch, wenn ein Wurf danebengeht. Lacey sucht sich ein freies Plätzchen an der Bar, bestellt beim Robotkellner einen Whisky mit Soda und wartet, daß Maureen sie bemerkt. »Bobbie! Donnerwetter! Aber sag mal, bist du krank?« »Wie kommst du darauf?« »Du trinkst den Whisky mit Wasser. Steck deine verdammte Karte wieder ein, das geht auf meine Rechnung. Aber nein, ich werde nicht mit dir streiten! ... Was treibst du denn hier?« »Ich suche eine Freundin. Sie ist gerade umgezogen, und ich habe weder ihre neue Telefonnummer noch die Adresse. Aber ich muß sie unbedingt finden.« »Geschäftlich, ich kenn' dich doch.« »So ungefähr.« Lacey beugt sich zu ihr hinüber und flüstert. »Sally Pharis, weißt du.« »Ich hab' gehört, daß die Grünen wie der Teufel hinter ihr her sind.« »Hör zu, das ist nur zu ihrem Schutz. Sie ist in großen Schwierigkeiten. Ein Killer ist hinter ihr her.« »Oh.« Maureen beginnt sich mit dem rotlackierten klei- 121 nen Finger an der Oberlippe zu kratzen, ohne dabei dem Leberfleck am Mundwinkel zu nahe zu kommen. »Also, kein Mensch weiß, wo sie ist. Ibrahim war hier, gerade als ich aufgemacht habe, und trank ein paar Gläser Gin. Er war stinksauer und sagte, daß sie den ganzen Tag nicht nach Hause gekommen wäre. Vielleicht hat sie einen Kunden für einen ganzen Tag gehabt, sage ich ihm. Ja, sagt er, aber normalerweise ruft sie mich in so einem Fall an. Nun hör mal, sage ich, wie stellst du dir das vor? Daß sie dem Freier sagt: >Nun mach mal Pause, Liebling, ich muß eben telefonieren. Das macht dir sicher nichts aus?< Da hat er ausgetrunken und ist gegangen. Keine Ahnung, wohin.« Von draußen kommt ein langgezogenes, tiefes Grollen: Ein startendes Schiff läßt die Triebwerke an. Sie warten wie gewohnt; Lacey nimmt einen Schluck Whisky. Man brauchte nur den Satz, den man hatte sagen wollen, im Gedächtnis behalten, bis das Schiff verschwunden war. Dann konnte die Unterhaltung ganz normal weitergehen. »Hat ihn jemand gesehen seither?« »Nicht daß ich wüßte.« »Scheiße!« Maureen ist erschrocken; es ist selten, daß Lacey flucht. »So schlimm, Süße?« \ »Genau das. Kann sein, daß sie jetzt beide tot sind. Hör mal, wenn Sally oder Ibrahim hier auftauchen oder irgend jemand, der weiß, wo sie sind, dann sollen sie sich an die Polizei wenden.« »Herr im Himmel, das werd' ich tun. Sallys Wohnung ist über einem Laden, der >Knusperhäuschen< heißt. Ist unten an der Fünfzehnten, gleich an der Ecke zur F. Aber ob sie jetzt da ist ...« »Darauf würde ich auch nicht wetten, aber ich werde reinschauen. Danke für den Whisky.« »Gern geschehen. Du solltest deine arme alte Tante öfter besuchen.« »Werde ich machen.« 122 Lacey winkt und eilt davon. Warum nur geht es ihr so auf die Nerven, daß jemand aus ihrer großen Verwandtschaft sie >Bobbie< nennt, was schließlich ihr richtiger Vorname ist. Aber immerhin fängt Maureen nie mit dem alten Familienkram an, was die Lieblingsbeschäftigung des ganzen übrigen Clans ist und auch der Grund, warum Lacey sich von ihnen fernhält. Die ganzen Jahre hat sie ihre Kindheit so gut es ging verdrängt. Obwohl es in Porttown nicht gerade ein Nachteil war, einen Vater zu haben, der die meiste Zeit im Gefängnis saß - sie haßte es, und sie haßte ihn dafür. Und auch für sein Gerede, diese endlose Großtuerei, diese Pläne, die immer so kläglich endeten: An der Wohnungstür standen Polizisten, um ihn zu holen, oder um seiner Frau Bescheid zu sagen, daß sie ihn schon hatten. Zweimal sogar hatte die Rehabilitationsbehörde ihn für geheilt erklärt; in einer anderen Stadt der Polarregion sollte er, mit einem richtigen Job, ein neues Leben beginnen - und beide Male endete es damit, daß die Familie nach Polar City zurückkehrte, um bei Verwandten Zuflucht zu finden, während er wieder im Knast saß. Als die Mutter endgültig genug hatte, war Lacey erst dreizehn, aber sie kann sich noch gut an das Gefühl der Erleichterung erinnern, als sie wußte, daß Daddy nie wieder nach Haus kommen würde. Damals hatte Tante Maureen sie in ein Restaurant geführt, wo es Hamburger mit echtem Rindfleisch gab, um die Scheidung zu feiern. Sie bleibt einen Augenblick stehen, vor dem Schaufenster eines Gebrauchtkleiderladens der Wohlfahrt: Kleidung, die die wohlhabenden Schwarzen nicht mehr tragen wollten, die weit ab vom Lärm des Hafens mit seinen Abgasen wohnten. Ihre Mutter hatte die Kleidung für die Kinder hier besorgen müssen, wie so viele andere Mütter in Porttown. Auch das war etwas, was Lacey haßte. Die Flotte war die Möglichkeit, dem weißen Ghetto zu entkommen: Am besten meldete man sich, sobald man das Mindestalter erreicht hatte, dann bemühte man sich um musterhafte Führung, danach war der Platz in der Kadettenschule zum Greifen nahe. Sie 123 sieht sich um: die schmutzigen Straßen, die Kinder mit dem Ball, die um den Betrunkenen herumturnen müssen, der der Länge nach vor dem Postamt liegt; dieser müde Blick der Frauen, die an einer Ecke stehen und tratschen. Und sie wundert sich, warum sie nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst nach Porttown zurückgekommen ist, wo ihr doch jeder andere Planet der Republik offengestanden hätte. Vielleicht, denkt sie, hätte sie sich einfach nicht wohl gefühlt, dort, wo das Leben angenehmer war - immer die Angst, ihren gutsituierten Nachbarn nicht fein genug zu sein. Aber vielleicht war Bates der Wahrheit viel näher gewesen, als er dachte: Vielleicht hätte sie sich in einer ruhigen, gepflegten Stadt, deren Bürger sich an die Gesetze hielten, ganz schlicht zu Tode gelangweilt. Und als sie zum Nachthimmel aufschaut, über den Nordlichter unaufhörlich ihre Bonbonfarben Flickern lassen, wird ihr bewußt, daß Polar City einer der wenigen Orte im erforschten Raumsektor ist, an dem man auch bei Nacht die Sterne nicht sehen kann. Vielleicht war es das. Sie mußte nie in einen sternenübersäten Himmel starren und wehmütig an die Weite, die erhabene Großartigkeit des endlosen Alls denken. Mit einem Achselzucken verscheucht sie die trüben Gedanken und geht weiter. Nun ist es ein anderes Schaufenster, ein winziges Lädchen, in dem es Kaukraut, Kekse und ein kunterbuntes Allerlei zu kaufen gibt - alles, was Mister Chen billig hat auftreiben können. Kindersocken (heute besonders günstig), Schreibpapier und Kugelschreiber für die Leute, die sich nie im Leben einen Computer leisten können. Dann kommt sie zu dem Spirituosengeschäft, wo man im Hinterzimmer die Wohlfahrtsschecks gegen eine Provision von zehn Prozent ohne Umweg in Alkohol umsetzen kann. Wieder eine winzige Ladenfront, hinter der sich eine Moschee verbirgt - für die wenigen Jünger Allahs in diesem Morast von Ungläubigen. All das scheint sich seit ihren Kindertagen kaum verändert zu haben, dreißig lange Jahre ist das her. Scheint es nur so, oder änderte sich hier nie etwas? 124 Oder sind die Möglichkeiten der Veränderung jenen vorbehalten, die genug Geld haben, um neue Geschäfte zu eröffnen, neue Läden zu beziehen - nichts für jene, die über die Jahre hinweg die alte Ladentheke, dieselben Waren und auch die Schulden in der Familie weiterreichen. Die Erfolgreicheren konnten sich natürlich auch das Verjüngungsmittel leisten, und so sehen sie noch immer aus wie damals, so wie auch sie noch Gesicht und Körper jenes Mädchens hat, das sich bei der Flotte einschrieb. Niemand sieht ihr an, daß sie auf die Fünfzig zugeht. Einige winken ihr zu, als sie vorbeigeht: He, ist das nicht Bobbie Lacey? Das ist ja ein Ding ... Schön, dich zu sehen. Hast du immer noch Onkel Mels alten Schuppen? Und die Antwort heißt natürlich: Ja, sicher habe ich das, während sie lächelnd weitergeht und sich fragt, ob jemand von diesen Männern und Frauen, oder auch Lizzies, irgend etwas getan oder gesehen hat, das die Aufmerksamkeit von Ka Grens Mörder erregte. Wie Bates ist auch Lacey in großer Sorge, nicht ihretwegen, nein, sie fürchtet für die ganze Stadt. Ein unglaublich geschickter Killer ist entschlossen, seine Spur zu verwischen - koste es so viele Leben, wie es wolle. Das >Knusperhäuschen< ist gleich das dritte Haus in der Fünfzehnten; für ein Lizzie-Restaurant ist es ziemlich groß, mit einer blitzblanken gläsernen Fassade. Lacey bleibt stehen und schaut zu, wie die Leute, die zum Frühstücken hierhergekommen sind, sich in einer langen Schlange an der Theke vorbeischieben. Auf den Tabletts sieht man Sojagulasch, Zwiebelscheiben und Gläser mit Fruchtsaft, Sandwürmer, Klöße aus Insektenmehl, importierte Fischpasteten; damit geht man zu den runden Tischchen mit dem Topf aus siedendem Öl, der in der Mitte eingelassen ist. Das Lizzie-Personal huscht geschäftig umher, ihre Schuppen glitzern im Licht, während sie Brotkörbe und die kleinen Essigkrüge auffüllen, Servietten verteilen und kleine, sparsame Becher mit Wasser auf die Tische stellen. Niemand bemerkt den Zaungast vor dem großen Fenster. Und sicher hätten sie 125 auch nicht bemerkt, wenn irgendein anderer hier gestanden hätte, der Sally auf den Fersen war, um sie zu töten. Zur Treppe nach oben führt ein Durchgang an der Seite des Restaurants, die Eingangstür liegt in einer dunklen Nische; auch hier riecht es nach Gebratenem. Als Lacey klingelt, kann sie das Aufleuchten des Abtaststrahls erkennen, mit dem der Hauscomputer den Besucher registriert. Doch niemand antwortet auf ihr Klingeln. Sie klopft kräftig an die Tür, möglicherweise funktioniert der Computer dieses heruntergekommenen Hauses nicht richtig. Nichts. Sie wartet unschlüssig einige Minuten, möchte am liebsten gehen, aber der Gedanke, daß Sally tot da drinnen liegen könnte, hält sie zurück. Sie nimmt ihr Terminal vom Gürtel und schaltet ein. »He, Buddy?« »Bin schon da, Programmiererin.« Buddys Stimme klingt aus dem winzigen Lautsprecher dünn und spitz. »Gut. Ich muß hier durch eine Tür, aber der Hauscomputer will mich nicht einlassen.« »Dann laß mich mit ihm Kontakt aufnehmen, Programmiererin, und wir werden sehen.« Lacey wirft einen raschen Blick hinter sich; zum Glück ist niemand zu sehen. Dann drückt sie ein winziges Sendemodul gegen den Türbeschlag. Sie hört ein leichtes Summen, als Buddy die Elektronik der Tür aktiviert, am Optiksensor blitzen ein paar Lichter auf. »Ich habe dafür gesorgt, daß der Hauscomputer die Daten über deinen Besuch nicht speichern kann. Du kannst eintreten, Programmiererin.« Auf einen leichten Druck hin geht die Tür auf. Als Lacey in den engen Flur getreten ist, schließt sie sich wieder. Ein warmes, gelbliches Licht leuchtet auf, und die Klimaanlage beginnt zu arbeiten. Sallys Wohnung ist so unaufgeräumt wie immer. Lila Plüschmöbel, leere Flaschen, Porzellannippes, Kartons und Pappteller mit Essensresten. Im Wohnzimmer summt ein 126 staubsaugender Roboter vor sich hin, vergebliche Mühe inmitten dieser Unordnung. Sonst ist es still, zu still. »Sieht aus, als ob sie den ganzen Tag noch nicht hiergewesen ist, Buddy.« »Meine Sensoren geben mir Hinweise auf undisziplinierte Zustände in diesem Haushalt. Würdest du mich mit ihrem Computer verbinden? Vielleicht findet sich dort eine wichtige Information.« »Über das Ende des Universums?« »Habe ich richtig verstanden?« »War bloß ein Witz, Buddy. Entschuldige.« Sallys hellrosa Computer steht in der Küche auf der Anrichte, zwischen Bergen von schmutzigem Geschirr. Lacey schließt ihr kleines Terminal an, dann nimmt sie all ihren Mut zusammen und geht durch den Flur zur Schlafzimmertür. Sie bleibt kurz stehen, um einen flüchtigen Blick ins Bad zu werfen - es riecht nach Parfüm und ist makellos sauber, trotz der achtlos herumliegenden leeren Kosmetikflakons. Die Tür zum Schlafzimmer ist offen; mit ein paar großen, mutigen Schritten ist sie drinnen und seufzt erleichtert auf. Weder auf dem herzförmigen Bett mit dem dunkelroten Satinbezug noch auf dem lavendelfarbigen Teppichboden liegt eine Leiche. Nur schmutzige Jeans und eine plissierte Bluse liegen herum und vor dem Kleiderschrank einige Plastikbeutel mit Haschisch von Sarah. Das beweist, daß Sally noch einmal hier war, nachdem sie im Rattennest war. Ein Beweis. Etwas arbeitet in ihr, was ist es nur? Es hat mit Bates' Bericht zu tun ... Spontan geht sie in die Küche und holt ihr Terminal. »Buddy, aktiviere deine Sensoren und mach eine optische Aufzeichnung dieses Zimmers hier. Wieviel kannst du auf einmal überblicken?« »Nur fünfundvierzig Grad. Du brauchst das Terminal nur ein wenig hin- und herzudrehen.« Während sie so Schlafzimmer und Bad fotografieren, 127 berichtet Buddy ihr, was er von Sallys Computer erfahren hat: nichts von Bedeutung, bis auf jenen anonymen Anruf; jemand hat ihre Nummer gewählt, ohne jedoch auch nur ein Wort zu sagen, nur eine dreiviertel Stunde zuvor. Das konnte natürlich ein Kunde sein, der nicht wollte, daß irgend jemand seinen Namen erfuhr, doch Lacey gefällt das gar nicht. Denn, wie sie Buddy erzählt, sie beginnt langsam zu glauben, daß Sally tot ist. »Das ist zwar ein zulässiger Schluß, Programmiererin, doch haben wir keinerlei Beweis. Und zwischen einem möglichen Schluß und dem Beweis liegt das, was ihr Menschen >Hoffnung< nennt.« »Da hast du recht, Buddy. Okay, ich werde jetzt gehen.« »Dann werde ich abschalten. Ach, Programmiererin?« »Ja?« »Vergiß nicht, deine Fingerabdrücke abzuwischen, und sei vorsichtig.« »Ich werde sehen, was ich machen kann. Als nächstes werde ich zu Carol in die Praxis gehen. Wenn ich mich von dort nicht melde, dann benachrichtige die Polizei.« Es dauert einige Stunden, bis Bates alles für den Trip zum Rattennest zusammen hat: ein zehnköpfiges Kommando auf offenen Einmanngleitern, zwei bewaffnete Transporter (einen für die Gerichtsmediziner, der mit einem Roboter für die Erdarbeiten ausgestattet ist, und sein eigener mit Sergeant Parsons, zwei Technikern und der ganzen Ausrüstung) und schließlich den Exhuminierungsbeschluß, den ein Richter fast unleserlich beim Frühstück unterzeichnet hat. Er möchte mit dem Papier in der Hand gerade aus seinem Büro gehen, als ihm einfällt, noch rasch Akeli zu benachrichtigen. Er macht es so geheimnisvoll wie möglich: Er würde erst später zu ihrem Treffen kommen, einer ganz unerwarteten Entwicklung der Dinge wegen. Und wieder ist er an der Tür, als Buddy ihn anruft, um ihm mitzuteilen, 128 daß Sally Pharis ihre Wohnung vielleicht fünf Stunden nach Mitternacht verlassen hat und seitdem nicht zurückgekommen ist. »Meine Programmiererin befürchtet, daß sie von diesem Killer oder Assassinen getötet wurde.« »Das befürchte ich auch. He, Buddy, warte noch: Erklär mir mal das Wort Assassine.« »Ein Profikiller, der im Dienste einer bestimmten Sache oder einer Regierung steht und der nicht etwa für beliebige kriminelle Auftraggeber arbeitet. Gewisse schwer zugängliche Datenbanken haben Hinweise darauf, daß die Allianz schon seit längerem über ein Korps von Assassinen verfügt, obwohl es nicht bewiesen werden konnte.« »Gewisse schwer zugängliche Datenbanken?« »Ich darf die Quelle nicht nennen. Jeder Versuch, mich dazu zu zwingen, würde zu einer ernsten Störung führen.« »Okay. Besteht die Möglichkeit, daß solche Assassinen Paras sind?« »Die meisten Quellen stimmen darin überein, daß im Herrschaftsbereich der Allianz alle Psi-Talente getötet werden, sobald man sie entdeckt.« »Das wußte ich. Was mich interessiert, ist diese schwer zugängliche Datenbank. Ist sie eventuell anderer Meinung?« »Nicht, daß ich wüßte. Haben Sie einen bestimmten Verdacht, oder folgen Sie Ihrem Riecher, wie meine Programmiererin zu sagen pflegt?« »Genau das tu ich, und da gibt es etwas, was mir keine Ruhe läßt. Irgendeine alte Geschichte, die ich nicht mehr zusammenbringe. Ich habe versucht, meinen Computer darauf anzusetzen, aber er konnte nichts herausfinden.« Bates unterbricht sich und schaltet die Spracheingabe seines Geräts aus. Er wollte es nicht kränken. »Buddy, hör mal ich glaube, du bist ein schönes Stückchen gerissener als so ein Standard-Polizeicomputer.« 129 »Die allgemein bekannten technischen Daten sprechen dafür.« »Hätte deine Programmiererin etwas dagegen, wenn du für mich etwas erledigst?« »Sie hat mir aufgetragen, mit Ihnen zu kooperieren, so weit es möglich ist.« »Prima. Dann suche mir jede Information, die du kriegen kannst, über psi-begabte Assassinen auch in Romanen und im Film. Trag alles zusammen und versuche, herauszufinden, woher dieses Wissen kommt, ob es vielleicht einen wahren Hintergrund gibt.« »Das werde ich tun. Es wird aber einige Zeit dauern.« »Natürlich. Ich werde mich später wieder melden.« Bates schaltet seinen Computer wieder ein, dann eilt er die Treppen hinunter, wo sein Expeditionsteam wartet. Aufgereiht steht der Konvoi in der grauen Höhle der Garage. Sergeant Parsons sitzt schon auf dem Fahrersitz des ersten Transporters, dahinter die Techniker. Bates hievt sich auf den Beifahrersitz und schließt die Tür. »Okay, Sergeant, fahren Sie los, wenn Sie soweit sind.« Die Kompressoren beginnen zu dröhnen, der Transporter hebt vom Boden ab und nimmt Fahrt auf. Die Garagentore gleiten auf, schon sind sie draußen und gewinnen rasch an Höhe. Bates lehnt sich zurück und versucht nachzudenken, aber inzwischen ist die Wirkung der Hyperpillen so stark, daß das Blut in seinen Schläfen nur so dröhnt. Er kann sich nicht konzentrieren. Als ob dieser verzwickte Fall nicht schon schwierig genug wäre! Es ist eines, diese Idee mit dem Psi-Killer aufzubringen, sich ein Motiv und den Tathergang auszudenken, und etwas anderes, einem Täter Gesicht und Namen zu geben, wie man ihn für einen Haftbefehl braucht. Im Augenblick konnte jeder in Polar City dieser Assassine sein, jeder Bürger der Republik, der Allianz oder der Konföderation - eine gute Million, auch wenn man die Kinder und Lizzies nicht mitzählte. Das ist das Problem mit den Profikillern, denkt er, daß sie kein persönliches Motiv für die Tat 130 haben; so gibt es kaum einen Anhaltspunkt, an dem die Ermittlungen ansetzen können. Keine unglückliche Ehe, keine Spielschulden, keinen verhaßten Schwager und keine reiche alte Tante. Ein Killer ist naturgemäß anonym, so anonym wie das Messer in seiner todbringenden Hand. Und jetzt soll er sich auch noch um diese andere Leiche kümmern. Eine Geschichte mit möglicherweise unabsehbaren Folgen, auch politischen. Wenn Lacey recht hat und dieser traurige Vorfall der erste Kontakt mit einer unbekannten intelligenten Spezies ist, dann wird es in Kürze in Polar City von Spionen und Medienleuten von aller Herren Planeten nur so wimmeln. Er hofft zwar, daß er die Sache so lange geheimhalten kann, bis der Mordfall abgeschlossen ist, doch bei der Geldgier der Bürger dieser Stadt kann es nicht lange dauern, bis einer seiner Leute die Information verkauft hat, lange bevor er überhaupt an eine Verhaftung denken kann. Manchmal bereut er, diesen Posten hier angenommen zu haben, obwohl er nur zu gut versteht, daß man für die Polizei in Polar City Leute von anderen Planeten rekrutiert, wo immer es möglich ist. Carols Praxis nimmt den ganzen Keller eines Holo-Kinos am Rand des Basars ein, das vorübergehend geschlossen war, so lange, bis der Besitzer das Geld für die notwendige Dachreparatur hatte. Obwohl er den Keller nie für etwas anders als zum Lagern von Vorräten für die Snackbar benutzt hat, gibt es fließendes Wasser und Toiletten. Als bekannt geworden war, daß Carol eine Praxis für die Armen dieser Gegend aufmachen wollte, fanden sich Helfer ein, die Zwischenwände einzogen und alles herrichteten, so daß es nun eine Reihe von Untersuchungszimmern nebst einem Wartezimmer gab. Verschiedene Religionsgemeinschaften beschafften über Spenden die medizinischen Geräte, und irgendein Schöngeist hatte es sich nicht nehmen lassen, das Wartezimmer mit einer Sammlung Holos von Naturwundern anderer Planeten zu schmücken. Die Schwebeplattform bringt Lacey nach unten. Das Wartezimmer ist weniger voll, als sie erwartet hat. Um diese Tageszeit hat Carol gewöhnlich viel zu tun, doch heute sind es nur ein paar Strichjungen mit hellgrün gefärbtem Haar und hautengen Shorts und ein Lizzimädchen, das etwas sehr Merkwürdiges eingenommen haben muß, denn alle ihre Augenlider flattern unaufhörlich und immerzu gähnt sie und bewegt die lange Schnauze, als versuchte sie verzweifelt, einen Fremdkörper zwischen den Zähnen loszuwerden. Über dem Raum hängt ein Aroma aus Schweiß, Urin, Desinfektionsmittel und billigem Parfüm. Am Empfangsschalter an der Wand gegenüber sitzt ein Mensch, eine Frau. Sie starrt auf einen Fernseher. »Ist Carol da?« »Ach, Sie sind's, Lacey?« Sie blickt nie auf. »Ja, im Sprechzimmer. Sie hat versucht, Sie anzurufen. Wissen Sie das?« »Nein. Kann ich reingehen?« Sie nickt, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. Dort albert ein Paar im Abendkleid und Smoking in einem Brunnen herum, das kostbare Wasser spritzt über den unglaublich grünen Rasen. Was für eine Verschwendung! Carols Sprechzimmer ist genauso vollgestopft wie ihr Gleiter. Berge medizinischer Utensilien, veraltete Geräte und ein wackliger Computertisch in einer Ecke. Daneben ein paar Schaumstoffsessel. Sie sitzt gerade am Computer, murmelt allerlei lange medizinische Wörter vor sich hin, doch ist sie ziemlich aufgeregt; sie starrt auf den Bildschirm, dann knurrt sie ärgerlich und gibt etwas Neues ein. »Lacey! Gott sei Dank, hast du meine Nachricht bekommen?« »Nein. Ich wollte Buddy von hier aus abfragen. Que pasa?« »Es geht um Little Joe Walker. Er muß unbedingt ins Kran- 132 kenhaus, aber er spielt verrückt. Wirklich unmöglich. Ich habe gedacht, du könntest mit ihm reden.« »Was ist denn los mit ihm?« »Wenn ich das wüßte. Genau das ist das Problem. Komm mit.« Carol führt sie durch einen schmuddeligen Korridor, vorbei an rosagestrichenen Stellwänden, bis zu einer Tür, hinter der man Schreie hört. »Laßt mich raus!« Als Carol die Tür öffnet, stürmt Little Joe auf sie los. Aber weil er nichts als ein rosa Kliniknachthemd trägt, das am Rücken offen ist, ist der Versuch halbherzig und nur von kurzer Dauer. »Lacey! Um Gottes willen«, fleht er, »du mußt Dr. Carol zur Vernunft bringen. Ich kann doch niemandem im Krankenhaus erzählen, wo ich mir das hier eingefangen habe.« Er hebt seine rechte Hand. Als sie genauer hinschaut, erkennt sie, daß die ganze Handfläche, die Haut zwischen den Fingern und ein unregelmäßiger Streifen bis hin zum Unterarm wie von Kunststoff überzogen ist. Matt glänzender, ledriger Kunststoff, wie Vinyl. Und von der Hand geht der Geruch von verdorbenem Essig aus; es ist wie ein Echo dessen, was sie in dieser Höhle im Rattennest riechen konnte. »Es sieht im Moment recht harmlos aus«, sagt Carol. »Aber ich hab' keine Ahnung, was als nächstes passiert. Es ist sicher eine Art Bakterium, klar, aber ich kann es weder im Perez-Katalog noch in irgendeiner Datenbank finden. An den Hautproben unter dem Mikroskop konnte man sehen, daß es alle abgestorbenen Zellen frißt, die ihm in die Quere kommen, und die lebenden mit einer Wand umgibt, die so steif wie Kork ist.« »Wo hast du dir das geholt, Little Joe?« »Im Rattennest. Ich hab' etwas vom Grab dieses Insektenmannes angefaßt, wie Folie oder ein Stück Stoff. Ich kann doch keinem Polizisten sagen, was ich da draußen gemacht habe.« Die Angst ist zunächst ein kleines Kribbeln am Ende der 133 Wirbelsäule, breitet sich dann über Laceys ganzen Körper aus. Sie war auch in dieser Höhle, auch sie hat etwas aus der Höhle angefaßt - das geheimnisvolle Kästchen mit den fremden Schriftzeichen. Heimlich wirft sie einen Blick auf ihre Hände: Noch ist nichts zu sehen. »Dann denk dir eine gute Lüge aus«, schimpft Carol. »Ich habe doch schon die Rettungszentrale angerufen, die Ambulanz ist unterwegs.« »Ambulanz?« jammert Joe. »Mit Isolierkabine. Mensch, du hast noch immer nicht kapiert, habe ich recht? Ich weiß nicht, was das für ein Zeug ist. Es reagiert auf keinen Test, es ist in keiner Datenbank zu finden. Wie ich schon sagte, im Moment sieht es nicht so schlimm aus ...« »Es juckt höllisch, Doc!« Es hört sich empört an, als wüßte er sein Leiden nicht ausreichend gewürdigt. »Das ist es, was mich beunruhigt, verstehst du das? Wenn wir nicht herausfinden, wie man es stoppt, dann kann eine Epidemie daraus werden.« »Hör zu!« Lacey zwingt sich, ganz ruhig zu sprechen, »erzähl ihnen doch, daß du nach irgendwelchem altem Kram gesucht hast. Das machen doch viele Leute. Die Antiquitätenhändler auf Sarah zahlen viel Geld für Sachen aus der alten Kolonie.« Little Joe pfeift durch die Zähne. »Warum hab' ich daran nicht selber gedacht?« »Weil du vor Angst nicht mehr klar denken kannst, und das kann man gut verstehen. Übrigens, Carol ich war auch da draußen.« »Ach tatsächlich. Ich werd' mir gleich eine Hautprobe anschauen, warte eine Minute. Aber zu dir, Joe, hör gut zu und denk nach. Ich brauch' die Namen aller Leute wirklich alle -, mit denen du irgendeinen körperlichen Kontakt gehabt hast, seit du da draußen warst, oder denen du etwas gegeben hast, was du angefaßt hast.« Little Joe nickt. 134 »Sag mal, Carol«, fragt Lacey, »ist diese Datenbank wirklich auf dem neuesten Stand? Und ist sie vollständig?« »Aber ja, es war das Quäker-Hospital, wo ich mich einklinken durfte. Warum?« »Wie groß ist die Chance, daß diese Bakterien nicht von hier stammen? Ich meine, ob es eine völlig fremde Lebensform sein könnte?« »Eine Chance nennst du das? Was für eine Chance, zum Teufel, sollte das sein!!!« Mulligan und Nunks sitzen im Garten unter einem Apfelbaum, während Maria ein wenig beiseite kauert und das Leuchten am Himmel betrachtet. Im Schatten neben der Eingangstür wacht Rick, die Laserpistole in der Hand. Mulligan kann schon an seiner selbstbewußt aufrechten Haltung sehen, daß ihm der Wachdienst weit eher liegt als das Wenden von Kompost. Mulligan hat schreckliche Angst. Kleiner Bruder: Beruhigen. Geht nicht. Killer sucht mich, will Kehle durchschneiden. Rick paßt auf. Ich passe auf. Beruhigen. Nein, besser arbeiten, wir beide. Ablenkung. Gartenarbeit? Freude. Keine Gartenarbeit. Geistige Arbeit. Schmerz, Unlust, Zögern. Kleiner Bruder! Ärger. Muß lernen, Talent kontrollieren. Sonst Wahnsinn. Zu spät. Bin schon verrückt. Größte Verärgerung. Einlenken. Es stellt sich heraus, daß Nunks Verbindung zu jenem Bewußtsein aufnehmen möchte, mit dem er an diesem Tag Kontakt gehabt hat. Er möchte Mulligans Gehirn als eine Art Verstärker benutzen, so reichen seine Antennen viel weiter und können dieses fremdartige Bewußtsein genauer beschreiben. Vielleicht bringen sie sogar einen Austausch von 135 Botschaften zustande, wenn dieses Wesen dazu bereit ist. Weil jedes in Telepathie geübte Wesen den Inhalt seines sprachlichen Denkens vollständig auf ein anderes von vergleichbarer geistiger Struktur übertragen kann, hält Mulligan eine Kommunikation durchaus für möglich, auch wenn es sich um eine völlig unbekannte Lebensform handelt. Natürlich muß das andere Gehirn in gewisser Weise gleichartig sein - und er kann nur hoffen, daß dem so ist. Schließlich gab es auch innerhalb des erforschten Raumsektors Spezies, die für die übrigen Intelligenzen telepathisch nicht ansprechbar waren, obwohl es auch bei ihnen Psi-Talente gab. Ihr Wahrnehmungs- und Denkapparat hatte so einzigartige Konzepte entwickelt, daß sie keinerlei Denkkategorie mit den übrigen Bewohnern des Alls gemeinsam hatten, ja, daß allein schon der Begriff >Kategorie< ihnen gänzlich unbekannt war. Daß sie beide, Nunks und er, die Trauer dieses Wesens fühlen konnten, sprach immerhin für gewisse Gemeinsamkeiten. Wie so oft in Psi-Angelegenheiten hat auch diesmal Nunks die Führung übernommen. Mulligan muß lediglich reglos dasitzen und Bilder und Gefühle durch seinen Geist strömen lassen. Obwohl er davor zurückschreckt, diesen abgrundtiefen Schmerz noch einmal zu spüren, stimmt er seinem Mentor zu, daß sie diesem Wesen helfen müssen, das er in Ermangelung des richtigen Namens >Insektenfrau< nennt. Denn so weit sie das beurteilen können, ist dieses Wesen weiblich, und nach Little Joes Bericht muß es sich um , eine insektenartige Spezies handeln. Zwar weiß Mulligan, wie inadäquat solche Begriffe sind, wenn man völlig neue Lebensformen beschreiben will, doch kann er nicht anders, als an ein Insektenpaar zu denken, wenn die Rede von den bedauernswerten Opfern der Verrückten im Rattennest ist. Nunks hat diese Bezeichnung übernommen. Kleiner Bruder: Bereit? Bereit. Signale strömen auf sie ein, zuerst wie ein Zischen und Rauschen; ein Hintergrund aus wirren Gedanken, verschrobenen Bildern, die aus dem Rattennest zu kommen scheinen. Groll und Haß: Mutter hat mich nie geliebt, Vater hat mich geschlagen. Die Ärzte helfen nicht, sie wollen mich mit Medikamenten kaputtmachen. Eine endlose Litanei aus Sorgen, aus Klagen über Lieblosigkeit und Einsamkeit, die sich auf ausgetretenen Pfaden immer aufs neue durch Hunderte von Gehirnen arbeitet. Nunks bleibt unbeeindruckt, als wate er durch seichtes Wasser, Mulligan an der Hand, ihn mit sich ziehend. Sie suchen eine andere, schrillere Stimme. Einmal taucht vor Mulligan ein Bild auf, prächtig bunt wie ein illuminiertes Gebäude im farbigen Licht: eine schöne Frau, hochschwanger, die in einem Rosengarten sitzt; über ihr hängt in der Luft ein Flammenschwert, und sieben goldene Becher schweben dabei, aus denen kleine Gesichter lugen zu Grimassen verzerrt. Dann erkennt er den Geist der alten Meg wieder und weiß, daß sie vor ihren Karten sitzt. Der Schmerz kommt wie ein Schrei, ein verzweifeltes Aufheulen, ein bitteres Aufbäumen gegen die Ungerechtigkeit des Universums, ein Ausbruch von Haß, gerichtet gegen jene, die den geliebten Gefährten getötet haben, und flammend wie das Schwert auf der Spielkarte. Mulligan greift blitzschnell diesen Gedankenstrom auf, doch überwältigt er ihn. Die Verzweiflung wird zu seiner eigenen, Tränen rinnen über sein Gesicht. Doch Nunks bleibt unbeeindruckt; er sendet seinen Wunsch zu trösten, ist jedoch vorsichtig genug, kein bestimmtes Trostwort auszusprechen. Der fremde Geist zögert, ist fast bereit zu sprechen, zieht sich dann aber zurück in die Einsamkeit. Als Mulligan laut aufschluchzt, spürt er eine Reaktion, fast ist das Wesen erschrocken, weil es nicht glauben kann, daß andere an seinem Schmerz Anteil nehmen. Schwester, sendet Nunks, denn das Wesen ist tatsächlich weiblich, nicht alle hier sind Barbaren. Schlechte Wesen, Ver- 136 137 rückte, verwirrte Geister haben getötet. Auch freundliche, gute Wesen hier. Wir helfen. Laß uns helfen. Der fremde Geist zögert wieder, dann läßt sie ein kalter, wütender Schwall von Bitterkeit aufstöhnen. Freundliche Wesen? Ungläubigkeit, Wut. Schaut her, schaut her! So lebendig, als schwebe er in einem Gleiter über der Szene, sieht Mulligan unter sich die Grube im Rattennest. Schwebelampen tauchen sie in blendendweißes Licht. Ringsum die Polizeigleiter, die Männer mit ihren Waffen haben einen Absperrkreis gebildet, während die Techniker an einer Leiter hinuntersteigen zum Grab. Laßt ihn in Frieden1. Laßt ihn ruhen. O ihr meine Götter, laßt ihn doch ruhen. Warum ihn stören? Schwester: Hör mir zu, warte und höre. Sie wollen helfen, die Mörder finden. Sie bestrafen. Dann ein neues Grab, endlich Ruhe. Zweifel, Zögern. Bitte: Glaub uns! Wut. Sie sollen aufhören, dann glaube ich. Ich kenne die Mörder, ich sehe sie. Ich beschreibe sie. Laßt ihn ruhen! Obwohl Nunks seine Gefühle vor der Insektenfrau verbergen kann, spürt Mulligan, wie verzweifelt er ist. Völlig ausgeschlossen, Bates dazu zu bewegen, daß er auf die Exhuminierung und die anschließende Autopsie verzichtet. Er hält das für notwendig. Mulligan kann den Polizeichef sehen, der vor einem der Transporter auf und ab geht und das Terminal in der Hand hält. Doch mit einem Mal lauscht Bates angespannt, er wirft den Kopf zurück, das Gesicht wird fahl, er läuft hinüber zur Grube. Er schwenkt die Arme wie ein Irrer, brüllt etwas, das Mulligan nicht ganz verstehen kann. Die Polizisten, die Techniker, der Gerichtsmediziner alle schrecken auf und hören zu. Dann klettern die Männer in der Grube hastig heraus, Angst auf ihren Gesichtern. Die, die oben gestanden haben, ziehen sich zurück, fliehen zu den Fahrzeugen, schlagen die Türen zu. Bates brüllt und gestikuliert, bis es ihm gelingt, die Ordnung wiederherzu- 138 stellen. Er teilt die Leute in zwei Gruppen ein: Die, die unten in der Grube waren, steigen zusammen in einen Transporter, die anderen verteilen sich auf die übrigen Gleiter. Als der Konvoi davonbraust, meldet sich die Insektenfrau. Dankbarkeit, Dankbarkeit. Ich glaube dir jetzt. Dankbarkeit. Laß uns helfen, Schwester. Sprich weiter, wir wollen helfen. Aber sie hat sich zurückgezogen, nur ein Echo ihrer Trauer ist noch zu spüren, wie ein paar letzte Staubwirbel, nachdem der Sturm längst vorbeigezogen ist. Enttäuschung. Kleiner Bruder, du hast Bates weggeschickt? Erstaunen. Nein, hast nicht du ...? Geh zu Buddy, erzähl es Lacey. Wichtig, daß sie es erfährt. Frag, ob sie davon weiß! Gut, großer Bruder. Ich werde fragen. Tu es sofort. Gehorsam. Obwohl es Mulligan selbst stört, daß er vor einem Computer Angst hat - er tut es nur, um Nunks' Verachtung zu entgehen. Er steigt die Treppe hinauf und betritt Laceys Zimmer, wo Buddy, der irgendeiner komplizierten Aufgabe nachgeht, leise vor sich hin summt. Auf dem Monitor huschen Textzeilen vorbei, zu schnell, als daß man sie lesen könnte. »Äh ..., Buddy? Kann ich dich um einen Gefallen bitten?« »Das kannst du gern, Mulligan. Aber es ist nicht sicher, ob ich deiner Bitte nachkommen werde.« »Mann, da ist vielleicht was los, das müßtest du unbedingt Lacey beibringen.« »Ich verstehe deinen Dialekt nicht. Bitte neu formulieren.« Mit einem Knurren zwingt sich Mulligan dazu, so zu sprechen, wie er es in der High School gelernt hat. »Also, ich muß unbedingt Lacey sprechen; bitte stell eine Verbindung her.« »Warum mußt du mit der Programmiererin sprechen?« 139 »Ich habe eine Nachricht für sie ... sag ihr, daß etwas passiert ist.« »Dir?« »Nein, dem Polizeichef, draußen im Rattennest.« »Das weiß Lacey schon. Dein Input ist überflüssig.« »Also verdammt ... Dann sag mir doch, warum die Polizei plötzlich abgehauen ist.« »Nein. Meine Programmiererin hat mich nicht ermächtigt, Daten an untergeordnete Einheiten weiterzugeben.« »He, paß auf, du lausige Plastikschüssel!« »Das ist unzutreffend. Es gibt keine Schädlinge in meinem Gehäuse.« »Ach ja? Aber was hältst du von einigen Eimern Wasser in deine Lüftungsschlitze? Kannst du gleich haben!« Dafür, daß er behauptet hat, Mulligan schlecht zu verstehen, ist Buddys Reaktion sehr beredt. Ein hohes Jaulen ertönt, und auf dem Bildschirm blitzen Lichtkaskaden in vier verschiedenen Farben auf. »Chief Bates wurde von Dr. Carol benachrichtigt, daß die Leiche im Rattennest mit einer bisher unbekannten, infektiösen Bakterienart verseucht ist. Er zog seine Leute ab, um eine Ansteckung zu verhindern. Ich werde diese Nötigung unter Androhung von Gewalt meiner Programmiererin melden, sie wird für eine angemessene Bestrafung sorgen.« »Was? Steck dir lieber ein paar Kilowatt in den ...« Während Mulligan geht, lächelt er zufrieden vor sich hin. Es ist so viel einfacher, eine schlagfertige Antwort zu finden, wenn man nüchtern ist. »Wie lange wird es noch dauern?« schimpft Lacey. »Da kommt es schon.« Carol sieht auf ihre Uhr, dann wieder auf den Bildschirm. »Ich kann's dir ja nicht verübeln, daß du ungeduldig bist.« Sie wendet sich an den Computer. »Bitte die Ergebnisse der Hautprobe Nummer zwei.« 140 Auf dem Monitor erscheint eine Liste mit den Namen verschiedener Bakterien. »Gott sei Dank! Du bist clean, Herzchen. Bloß ganz ordinäre Bakterien.« Lacey läßt einen langen, langen Seufzer hören. »Das könnte von Belang sein«, fährt Carol fort. »Du hast diese Metallkiste angefaßt, die Little Joe dir gebracht hat, richtig? Dann könnte das heißen, daß das Zeug nicht von metallischen Oberflächen auf den Körper übertragen wird, zumindest nicht so leicht. Wo ist dieses mysteriöse Kästchen jetzt?« »Bei mir, eingeschlossen in eine Schublade.« »He, das ist gut.« »Ja, ich hatte irgendwie das Gefühl, daß ich es unter Verschluß nehmen sollte.« Das Terminal an ihrem Gürtel blinkt. Sie nimmt es ab. »Was ist los, Buddy?« »Sam Bailey ist am Telefon.« Buddy scheint sich ehrlich zu freuen. »Möchte meine Programmiererin mit ihm reden?« »Aber sicher, Buddy. Schalte ihn durch. Hallo, Sam?« »Da bin ich, Süße.« Die Stimme ist undeutlich, das Bild auf dem Monitor kaum zu erkennen. Ein wackliges Liniengitter mit einem dunkleren Fleck, wo das Gesicht sein müßte. »Verdammtes Nordlicht! Fast nichts zu sehen von dir.« »Mir geht es nicht besser. Wo bist du?« »Auf der Station. Ich bringe jetzt das Shuttle runter. Die Zollabfertigung haben wir hier oben erledigt, so daß wir uns in etwa drei Stunden sehen können. Vielleicht bei Kelly?« »Gute Idee, gern. Treffen wir uns am Eingang?« »Besser an der Bar. Ich war einige Monate im Raum, hast du das vergessen?« »Wo denkst du hin. Also an der Bar.« Als Lacey die Praxis verläßt, geht sie auf direktem Weg in Richtung Basar. Überall in der Vierten Straße schweben 3-D-Reklamen vor den Läden und Bars in der Luft und tauchen die Gehwege und Transportbänder in buntes Licht. Ständig 141 wiederholen sich die immer gleichen Werbespots. Alkoholika werden wie von Geisterhand in blitzende Gläser gegossen; hübsche Frauen spielen mit den Reißverschlüssen ihrer Overalls, Steaks aus echtem Fleisch brutzeln auf einem Grill, Boys in hautengen Hosen knöpfen ihr Hemd auf, Spielkarten arrangieren sich von selbst zum Gewinn in der Hand eines Pokerspielers - und alles huscht vorbei mit einer Geschwindigkeit, als gelte es, das irrlichternde Nordlicht oben am Firmament noch zu übertreffen. Ein unaufhörliches Pulsieren von Licht und Farbe ergießt sich über die Passanten und macht auch die ärmlich gekleideten zu Figuren eines prächtigbunten Karnevals. Aus den Clubs hört man Musik, stampfenden Schlagzeugrhythmus und Synthesizerklänge. Es wimmelt von Raumfahrern, unübersehbar in ihren reflektierenden Overalls. Sie wissen, daß dieser süßlich nach Haschisch duftende Garten der Lüste nur ihretwegen existiert, und sie zeigen es auch. Das beste Wettbüro mit staatlicher Lizenz in Polar City findet man in einer Gasse zwischen der Dritten und Vierten Straße, im zweiten Stock eines Geschäftshauses aus hellblauem Plastbeton. Gegenüber liegt die Tag und Nacht geöffnete Praxis eines Rostratologen, und genau darunter ist ein Laden, in dem man Holo-Pornofilme kaufen kann und Sachen zum Anziehen, die fast nur aus schwarzen Plastikriemen bestehen. Auf der Schwebeplattform ist außer Lacey noch ein Lizzie, der unablässig herumrechnet: Komplizierte Formeln tippt er in seinen tragbaren Computer und murmelt etwas von Schiffen im System, Asteroiden und Trajektorien vor sich hin. Lacey sagt sich, daß sie, wenn sie jemals wetten sollte, niemals Geld auf ein Schiff setzen wird, wo doch ein nicht einmal faustgroßer Steinbrocken auf dem falschen Kurs das Ergebnis stundenlanger Berechnungen zunichte machen kann. Die Wettschalter sind in einem langen, schmalen Raum, grün gestrichen und mit einem riesigen Monitor an einer Wand. Drei Schalter sind es, und dabei stehen zwei Wach- 142 männer mit Betäubungspistolen. Heute ist AI, der Besitzer, ausnahmsweise einmal selbst im Schalterraum; er sitzt an einem Computer und gibt die neuesten Quoten ein, läßt Zahlenreihen über den Wandmonitor huschen. Während Lacey wartet, verbessern sich die Polar City Bears um einen Punkt; die Wette steht nun zwei eins, daß sie die Crusaders aus Neu-Jerusalem im Kampf um den Meistertitel ihrer Division besiegen. Der Lizzie wirft einen kurzen Blick auf den Bildschirm, dann geht er rasch zum nächsten Schalter, seinen kleinen Rechner noch immer in der Hand. Entweder hat er einen Tip bekommen, oder er spielt nach einem System, sagt sich Lacey. »Sieh an, Lacey!« sagt AI. »Willst du dich auf deine alten Tage tatsächlich von deinem schwer verdienten Geld trennen?« »Das kann ich dir nicht antun, AI. Ich wette doch nur, wenn es eine todsichere Sache ist.« »Das bringt nicht viel.« »Man verliert auch nicht viel.« Sie geht zum Schreibtisch und setzt sich auf die Kante, während er weiter Zahlen eintippt. Vor ihm liegen Berge schmuddeliger Notizblätter. AI ist ein Weißer und hat dünnes graues Haar. AI geht nie in die Sonne, nicht einmal während der ersten Stunde nach Sonnenaufgang, in der es völlig ungefährlich ist. Als er alles eingegeben hat, zerreißt er die Blätter in klitzekleine Stücke und wirft sie in den Müllschlucker. »Was willst du dann, amiga? Ich hab' einen heißen Tip für die nächsten Wahlen.« »Das ist nicht nach meinem Geschmack, aber gegen ein Wörtchen mit dir hätt' ich nichts einzuwenden.« Sie gehen hinüber in Als kleines Büro, das vom Boden bis zur Decke mit Elektronik vollgestopft ist. Computer und die neuesten Abhörsicherungen. Er bietet ihr einen Stuhl an, setzt sich an den Schreibtisch und legt gemütlich die Beine hoch. Lacey kann leises Piepsen und hohe Summtöne 143 hören. AI hat seine Abhör Sicherungen selbst gebaut. Lacey würde ohne weiteres wetten, daß es im gesamten erforschten Raumsektor niemanden gibt, der raffiniert genug wäre oder über die nötige Technik verfügte, um sie hier belauschen zu können. »Ich möchte etwas Stoff kaufen«, sagt Lacey. »Das beste Sarah-Haschisch, das du kriegen kannst. Hundert Gramm.« »Ein ganzes Hekto? Du?« »Ich habe nicht vor, es selber zu rauchen. Ich will's unter die Leute bringen.« »Verstehe.« Einen Augenblick kaut AI auf seiner Unterlippe. »Um dir die Wahrheit zu sagen: Ich weiß nicht, ob ich es besorgen kann.« »Das muß das erste Mal in der Geschichte dieses Planeten sein!« »Nun, es gibt da ein Problem.« Wieder kaut er an der Lippe und starrt an ihr vorbei auf die Wand. »Es könnte sogar sein, daß du etwas darüber weißt. Hör zu, ich werd' dir einen guten Preis machen, wenn du mir hilfst.« »Gut, was kann ich für dich tun?« »Du kennst doch Sally Pharis, nicht wahr?« »Sicher kenne ich sie.« Sie unterdrückt ein Lächeln. AI hat angebissen. »Ich habe gehört, daß die Grünen hinter ihr her sind.« »Aber ja. Die Frage ist nur, warum. Und ob sie Sally inzwischen geschnappt und den Stoff gefunden haben, den sie mir bringen sollte.« »Sie haben sie noch nicht. Über den Stoff weiß ich nichts. Aber paß auf: Es ist ein Killer hinter ihr her. Die Grünen wollen nichts anderes als ihr Leben retten.« »Großer Gott!« AI starrt sie erschrocken an. »Weißt du, wer es ist?« »Niemand weiß seinen Namen, aber er ist sicher nicht von diesem Planeten. Sally hat etwas gesehen, was mit einem Mord zusammenhängt, und er möchte sie zum Schweigen bringen.« 144 AI schaudert. »Er ist also nicht von hier?« »Nein, er ist von einem anderen Planeten gekommen, um uns Ärger zu machen.« AI sieht nun nicht mehr erschrocken aus; kalte Wut spiegelt sich in seinem Gesicht. »Sieh an«, sagt er. »Wenn ich etwas hören sollte, gebe ich dir Bescheid, und du gehst zu den Bullen.« »Gut. Es ist wirklich eine gespenstische Sache, Mann.« »Hast du recht. Himmel, wie gern wüßte ich nur, wo sie steckt!« Und damit hat er ihre Frage beantwortet, ohne daß sie sie überhaupt stellen mußte. Keine Frage, AI erwartete von Sally eine große Lieferung, und es gab nur weniges, was sie daran hindern konnte, die Ware auch abzuliefern. Sally hatte ihre Fehler, aber auf keinen Dealer in Porttown war mehr Verlaß. »Aber mal zurück zum Stoff«, sagt AI, »soll ich ein bißchen herumfragen für dich?« »Nein, ich weiß da noch eine Quelle ... Warte mal - wenn es dort nicht klappt, dann komm' ich noch mal zu dir, sagen wir in zwanzig Stunden.« »Okay, ich verstehe. Wenn du sagst, du brauchst es, dann brauchst du es sofort.« »Genau.« Sie steht auf, sie lächelt. »Aber ich danke dir, ich weiß dein Angebot zu schätzen.« »Ist schon gut. Aber ich mach' mir langsam Sorgen wegen Sally. Wo steckt sie bloß?« »Da bist du nicht der einzige, der sich Sorgen macht.« 145 Die Abteilung der Staatspolizei war in den obersten Stockwerken eines Turms untergebracht, der noch andere Behörden beherbergte: ein schwarzer Monolith, dessen Architekt die überwältigende Idee hatte, das mehr als nüchterne Äußere mit Reliefs aus Acanthusblättern zu verzieren. Also winden sich Girlanden um jedes Fenster, jede Tür, die einer Gußform für Plastbeton entstammen. Kein intelligentes Wesen in Polar City, gleich welcher Spezies, das den Architekten deswegen nicht haßte. Bates muß sich überprüfen lassen; Ultraschallabtastung, Handabdrücke, bis man seiner Identität genug vertraut, um ihn ins Chefbüro eintreten zu lassen; seine Laune wird immer schlechter. Aber was heißt Büro - Akeli, der Chef, hat eine ganze Suite mit Klimaanlage für sich allein. Hellbeiger Teppichboden, Sessel aus echtem Leder, eine richtige Bar - natürlich auch ein Schreibtisch und Regale an den Wänden. Im ersten der Büros stolpert man beinahe über eine Assemblage aus patiniertem Styropor, eine neue Kunstform, wie man sie auf der alten Erde gerade schätzte. Als Bates eintritt, gibt sich Akeli so beflissen und entgegenkommend, hat ihn in Windeseile zum Sitzen genötigt und eigenhändig einen Drink eingeschenkt, daß Bates sofort Verdacht schöpft. »Es gibt ein Problem?« Akeli grinst ihm kumpelhaft zu, es ist nicht echt, und setzt sich hinter seinen Schreibtisch, auf dem der Computer summt und immer neue Ausschnitte des Stadtplans von Polar City über den Bildschirm huschen läßt. »Bates, hören Sie. Gewisse Reibungen zwischen uns sind ganz unvermeidlich, und die eine oder andere Meinungsverschiedenheit hatten wir in der Vergangenheit auch. Zwei energische Männer wie wir, deren Arbeitsgebiete sich überschneiden, da muß es doch hin und wieder mal Konflikte geben, nicht wahr?« 146 »Na ja, sicher.« Bates nippt vorsichtig von seinem Gin Tonic. »Man könnte sagen, jeder von uns tut die Dinge gern auf seine Weise.« »Ja, genau so meine ich es. Aber diesmal haben wir wirklich ein schwerwiegendes Problem zu lösen. Wir müssen zusammenarbeiten, aus Gründen der Staatssicherheit und der interstellaren Freundschaft wegen. Ist es nicht so?« »Sicher.« Und wenn ich richtig verstanden habe, du aufgeblasener Arsch, geht es wirklich um die Republik. »Tatsächlich so ernst? Haben Sie einen Hinweis auf eine Beteiligung der Allianz in dieser Sache?« »Auch das ...« Akeli starrt mit gerunzelter Stirn in sein Glas und schüttelte es, daß die Eiswürfel klappern. »Aber zunächst wäre noch etwas zu klären ... Ich weiß, man könnte mich manchmal für übertrieben vorschriftengläubig halten. Aber es geht hier um Informationen, die normalerweise unter einer Geheimhaltungsstufe klassifiziert werden, die Ihnen nicht zugänglich ist. Das hat in der Vergangenheit schon manchen Ärger gemacht.« »Na ja, sicher.« »Also.« Akeli beugt sich mit einem raschen Lächeln vor, das wohl entwaffnend wirken soll, doch erinnern die entblößten Zähne an ein Haifischmaul. »Dann sagen Sie mir doch, von Mann zu Mann, wie Ihre Leute es geschafft haben, in unsere Datenbank einzudringen.« »In Ihre was?« »Ach lassen Sie das! Von Mann zu Mann ... ehrlich!« Wieder das Haifischgrinsen. »Spielen Sie doch nicht den Unwissenden! Ich gebe zu, die Leistung Ihrer Leute ist bewundernswert. Unsere Experten haben ein System entworfen, von dem sie meinen, daß es vor jedem unbefugten Zugriff sicher ist. Aber Ihre Leute haben uns angezapft, so oft sie wollten - und alles, was passierte, war, daß das Alarmsignal ausgelöst wurde, als es zu spät war und nicht einmal mehr der Zugriffscode des Eindringlings festgehalten werden konnte.« 147 Gewisse schwer zugängliche Datenbanken, o Buddy Laut sagt Bates: »Woher wollen Sie dann wissen, daß wir es waren?« »Wer denn sonst? Es ist nicht die Allianz, nicht die Konföderation, denn ihre Verbindungen zum Kommunikationsnetz unterliegen einer gewissen Kontrolle. Sie wollen mir sicher nicht einreden, daß wir es mit einem Amateur zu tun haben, der mit seinem Maschinchen in das am besten gesicherte Computer System der Republik eindringen kann.« Bates überlegt, nimmt noch einen Schluck, um Zeit zu gewinnen. Wenn er befürchten müßte, daß die Staatspolizei Lacey und Buddy auf die Schliche kommen könnte, dann würde er jetzt lügen, um sie zu decken. Aber er ist sich ziemlich sicher, daß Buddy imstande ist, seine Spur zu verwischen erst recht, wenn er ihm ein Wörtchen davon sagte, daß das Herumschnüffeln nicht unbemerkt geblieben war. »Akeli, Ihr Problem ist wahrscheinlich größer, als Sie denken. Ich schwör's Ihnen, von Mann zu Mann, oder was immer Sie wollen: Niemand von meinen Leuten hat versucht, Ihr System anzuzapfen. Es ist wahr, glauben Sie mir! Sie sollten sich dringend einige Experten von Sarah kommen lassen, denn Sie haben es mit einem ernsten Defekt zu tun.« Einen langen Augenblick starrt ihn Akeli aus schmalgewordenen Augen an, dann nickt er. »Also gut. Ich glaube Ihnen. Ich werde es unverzüglich in Ordnung bringen lassen.« »Das sollten Sie tun!« »Sie entschuldigen mich einen Moment?« Akeli nimmt sein Glas und verschwindet im hinteren Büro, läßt Bates allein mit seinem Gin. Als er zurückkommt, ist seine Miene äußerst grimmig. Dagegen müßte er schleunigst etwas tun, denkt Bates. »Nun ... Was diese mögliche Verbindung zwischen Ka Gren und einem Informanten, vielleicht Doppelagenten, der Allianz angeht, so habe ich meine beste Beamtin darauf angesetzt, und sie hat in der Kürze der Zeit schon gewisse 148 aufschlußreiche Resultate erzielt: So zum Beispiel, daß Ka Gren in letzter Zeit häufig in Kellys Bar und Restaurant gesehen wurde.« »Ach ja? Hat er dort jemanden getroffen?« »Nein. Aber er kam jeden Abend, bestellte etwas zu trinken, das er gleich bezahlte, und suchte sich dann einen Platz, von dem aus er das Fenster zur Straße überblicken konnte. Es kam vor, daß er nicht einmal austrank, sondern wie der Blitz hochfuhr und hinauseilte. Bei anderen Gelegenheiten dauerte es eine ganze Zeit, so daß er noch etwas nachbestellen konnte, bis er - allerdings kaum weniger überstürzt - das Lokal verließ. »Also kam jemand vorbei, gab ihm ein vereinbartes Zeichen, und er folgte zu einem Treffpunkt, wo man sich sicher fühlte.« »Das ist der Eindruck, der sich aufdrängt, Wir sollten diese Spur verfolgen, ohne Zeit zu verlieren, Bates.« Er macht eine Pause und legt die Hände zusammen, Fingerspitze gegen Fingerspitze. »Gerade als Sie kamen, habe ich über die Regierungsleitung ein Gespräch mit der Präsidentin geführt. Sie ist außer sich. Die Konföderation hat nun schon mehr als eine unfreundliche Note an sie gerichtet, und ihre Noten an die Botschaft der Allianz sind eher noch unfreundlicher. Und der Botschafter der Allianz hat sich bei ihr über die, wie er sagt, unbegründeten Verdächtigungen seitens der Konföderation beschwert. Einige wichtige Klauseln des jüngsten Vertrages sind noch nicht formuliert. Wir müssen diese Sache endlich aufklären, oder sie wird gezwungen sein, Porttown unter das Kriegsrecht zu stellen.« Bates Magen scheint mit einem Mal der Gin nicht mehr zu bekommen; in seinem Magen brennt es wie Feuer. »Die Armee hierher? Was für eine Scheiße! Dann hätten wir tagelang Aufruhr in den Straßen. Die Leute auf Sarah haben keine Ahnung von dieser Stadt. Hatten sie noch nie!« »Oh, die Präsidentin kennt Porttown gut genug. Die Frage 149 ist doch nur, ob Porttown oder der neue Vertrag wichtiger ist. Nun übertreiben Sie nicht, Bates, jeder weiß, daß Sie die Blancos mit Samthandschuhen anfassen, aber ...« »Diese Leute sind Bürger der Republik, nicht anders als wir auch. Haben Sie und die Präsidentin das vergessen?« »Natürlich nicht.« Ein verbindliches Lächeln, zu verbindlich, um echt zu sein. »Wir sprechen nicht von dem, was wünschenswert ist, sondern von Eventualitäten, wenn alle Stricke reißen. Wär's Ihnen denn lieber, wenn die Allianz hier landet? Es ist so gut wie sicher, daß die Konföderation dann ihre Flotte schickt, um uns, wie sie sagen werden, zu' beschützen.« »Und warum sollte die Allianz hier Leute absetzen?« »Ich weiß es wirklich nicht.« Akeli macht ein gequältes Gesicht. »Die Präsidentin hat kein anderes Wort davon verlauten lassen.« »Wenn Sie mich fragen - die Allianz ist nichts weiter als eine leere Drohung. Da steckt etwas anderes dahinter. Die Typen auf Sarah haben schon viele Jahre versucht, mit Porttown aufzuräumen. Was wollen sie mit den Blancos machen? Sie in Besiedlungsprojekte stecken? Das ist doch schlimmer als jedes Ghetto, das man sich denken kann.« »Das ist nicht mein Ressort, el jefe.« Akeli zuckt die Achseln, hebt entschuldigend die Hände. »Ich bin nicht der Minister für Städtebau. Ich weiß nur eines: Entweder Sie finden den Mörder, oder Porttown wird dichtgemacht, dichter als jede Luftschleuse. Haben Sie mich verstanden?« »Sie waren recht gut zu hören.« Bates richtete sich auf seinem Sessel auf und stellt sein Glas ab. »Jetzt hören Sie mal zu, und am besten erzählen Sie auch der Präsidentin, was ich Ihnen sagen werde. Wenn sie Porttown unter das Kriegsrecht stellt, dann wird sie ganz schön alt aussehen. Denn unter den Leuten dort hält sich etwas versteckt, was sie dringend brauchen könnte, eine neue Trumpfkarte in diesem Spiel, in dem lausigen Spiel zwischen der Allianz und der Konföderation. Und ich wette, daß die Alliierten das wis- 150 sen, und deshalb wollen sie auch Zeit schinden, denn ihre Lage ist ganz schön blöd.« »Tatsächlich?« Akeli hat sich in seinem Sessel zurückgelehnt; nun verzieht er ärgerlich das Gesicht und richtet sich auf, um Bates in die Augen zu sehen. »Und was soll das für eine weltbewegende Sache sein?« »Wie wär's denn mit einem Erstkontakt? Mit einer noch nie gesehenen Spezies, absolut neu und einmalig? Und dieser Fremde hat sich ausgerechnet in unserer schönen Stadt versteckt, weil die Alliierten sein Schiff auf der Bahn um die Sonne verfolgt haben?« Akeli sitzt reglos da, nur ein großer Schweißtropfen rinnt langsam über seine Backe. »Okay, Mann«, sagt Bates, »ganz schön delikat, nicht? Ich weiß noch nicht einmal, wo dieser Fremde jetzt steckt. Und wenn irgend jemand uns die Porttowner verärgert, dann werden wir es vielleicht nie wissen. Ist das klar?« »Scheiße«, erwidert Akeli leise. »Aber was ist, wenn sie die Truppen trotzdem herschickt? Was könnte sie davon abhalten, Porttown einfach auseinandernehmen zu lassen, Haus für Haus?« »Nicht was, sondern wer? Und Sie sind derjenige, der das besorgen müßte. Wenn erst mal die Armee hier ist, was hat dann die Staatspolizei noch zu sagen? Sie haben doch hier ein Agentennetz in Porttown, das bis in die Botschaften reicht. Was soll daraus werden, wenn erst der militärische Geheimdienst überall herumschnüffelt?« Akeli flucht so gotteslästerlich, daß man annehmen muß, daß er verstanden hat. Bates erlaubt sich ein ganz kleines Lächeln. »Sie sollten also noch einmal mit der Präsidentin reden. Sagen Sie ihr, was Sie wollen, aber sagen Sie es deutlich.« »Äh ... scheint ja unvermeidlich zu sein, nicht wahr? Na schön, ich werd's versuchen. Sonst bleiben uns nur noch drei Tage, bis die Armee landet.« 151 »Drei ...?« Bates ist zu erschüttert, um noch zu fluchen. »Dann sollten wir uns besser an die Arbeit machen.« Bates kann es kaum erwarten, endlich mit Lacey zu reden, doch fährt er erst einmal ein Stück, bis er gut zwei Kilometer vom Turm der Staatspolizei entfernt ist. Von hier aus können sie den Funkverkehr nicht mehr so einfach abhören. Er parkt den Gleiter in einer ruhigen Gasse, dann ruft er über sein privates Telefon Buddy an. »Chief Bates, ich bin sehr froh, von Ihnen zu hören. Ich habe die Ergebnisse der Nachforschung, die Sie gewünscht haben. Ich bin eben dabei, den vollständigen Bericht an Ihren Computer durchzugeben. Möchten Sie inzwischen eine kurze Zusammenfassung hören?« »Aber verdammt gerne. Gracias, Buddy. Schieß los.« »Vor sechsunddreißig Jahren ist ein Buch erschienen, das eine weltweite Kontroverse auslöste. Es hieß Dem Terror entronnen, und der Autor, ein Mensch, war ein Überläufer der Allianz, der um politisches Asyl ersuchte. Er gab an, daß er gezwungen werden sollte, seine Psi- Begabung als Killer im Staatsauftrag einzusetzen. Er gebrauchte dabei das Wort Assassinen. Nachdem er sich zur Religion des Galaktischen Bewußtseins bekehrt hatte, trieb ihn sein Gewissen dazu, sich von diesem Tun loszusagen. Sprecher der Allianz dementierten seine Beschuldigungen, er sei nichts weiter als ein geldgieriger Romanschreiber. Später gab es dann mehrere Holo-Filme und ein dokumentarisches Drama über diese Geschichte, ganz abgesehen davon, daß das Motiv der psi- begabten Assassinen seither aus der Schundliteratur nicht mehr wegzudenken ist. Die Allianz rief in mehr als hundert Fällen die Gerichte an, um eine weitere Erörterung dieses Themas zu unterbinden, und hatte auch einen gewissen Erfolg damit.« »Daran erinnere ich mich, damals war ich allerdings noch ein Kind. Gibt es irgendeinen Hinweis, ob der Mann log oder die Wahrheit sagte?« 152 »Keinen, Sir. Er starb kurz nach Erscheinen des Buchs. Es war Selbstmord, aber was besagt das schon ...« »Du meinst, wenn ein Profi das arrangiert hat?« »Genau, Sir. Ich übertrage das ganze Buch in eine der Resexve-Speicherboxen Ihres Computers. Ihre Einheit und Sie werden sehen, daß es viele erstaunliche Details enthält, für wie phantastisch man die Geschichte auch halten möchte.« »Sehr gut, Buddy. Jetzt haben wir endlich einen Haken, an den wir unsere Hemden hängen können. Etwas, das die Präsidentin den Alliierten unter die Nase reiben kann, wenn es nötig sein sollte.« »Sir? Ich verstehe nicht.« »Tschuldige, Buddy. Hör zu - erst erzähl' ich dir, was los ist, dann mußt du Lacey für mich ausfindig machen. Sie sollte erfahren, daß jemand den Einsatz in unserem Spiel gewaltig erhöht hat. - Ach, bevor ich's vergesse: Die Staatspolizei hat gemerkt, daß jemand in ihr System eingedrungen ist.« »Danke, Sir. Ich werde bestrebt sein, in Zukunft keine Spuren mehr zu hinterlassen. Ich bin jetzt auf Input geschaltet und nehme gern Ihre Daten auf.« Wie versprochen erwartet sie Sam bei Kelly an der Bar. Gelangweilt verfolgt er die Aufzeichnung eines Baseballspiels an der Videowand, während er hin und wieder einen Schluck aus dem großen Glas mit auf Hagar gebrautem >Tequila< nimmt, pur bis auf eine einzige Limonenscheibe. Er ist groß und schlank, mit schwarzem, lockigem Haar und dunkelbrauner Haut - ein gutaussehender Mann mit jener typischen athletischen Figur der Raumfahrer, die in der Enge ihrer Schiffe die von Wissenschaftlern entwickelten Übungen absolvieren. Und wie die meisten Raumfahrer trägt er einen Overall, königsblau bis auf den silbergrauen linken Ärmel. Als er Lacey erblickt, fällt er mit einem Jubel- 153 schrei über sie her und zieht sie an sich. Die umstehenden Gäste amüsieren sich. »He, Lacey«, ruft einer, »was wird denn Mulligan dazu sagen, na?« Lacey macht nur eine wegwerfende Handbewegung. Bei Kelly gibt es einige gemütliche Nischen im hinteren Teil des Restaurants, speziell für jene Gäste, die mehr die Intimität als die laute Gesellschaft lieben, und Lacey führt Sam zu jenem Tisch, der am weitesten vom Eingang entfernt ist. Lächelnd nimmt er die dunkle Holzverkleidung und das sauber gebügelte Tischtuch zur Kenntnis, dann setzt er sich ihr gegenüber und schaltet die Speisekarte ein. »Alles, was du magst, mein Kleiner«, sagt Lacey, »ich lade dich ein.« »Himmel, nein! Ich werde bezahlen!« »Dann wieder das alte Spielchen?« »Na gut, werfen wir eine Münze - aber erst nach dem Essen.« Sie tippen ihre Bestellung ein, Sojasteak für Sam, Fischbällchen aus getrockneten Lachsflocken für Lacey, dann schalten sie die elektronische Karte wieder aus. Kelly kommt höchstpersönlich herbei und bringt eine Flasche Wein und zwei Gläser; er macht aus dem Eingießen fast ein Ritual. »Hallo, Lacey, que pasa? Ich hab' gehört, daß dein Mulligan bei den Maurauders den Shortstop spielen wird?« »Er ist nicht mein Mulligan.« Die leichte Schärfe in ihrem Ton bereut sie sofort. Sie lächelt, als ob es ein Scherz gewesen wäre. »Und was erwartest du von mir? Soll ich ihm sagen, daß er deinetwegen schon mal einen Ball fallen lassen soll?« »So verzweifelt ist unsere Lage nicht«, erwidert Kelly lachend. »Ich wette, daß wir sie diese Saison ohne weiteres schlagen können.« Der Wein ist eingeschenkt, Kelly geht, er wischt seine sauberen Hände immerzu an einem ebenso sauberen Handtuch 154 ab. Sam nimmt einen Schluck und wirft Lacey über den Rand des Glases ein freches Grinsen zu. »Schau mich an!« sagt er. »Er ist also nicht dein Mulligan? Aber jeder Mensch hier redet von Mulligan, wenn er dich sieht. Halb Porttown scheint ihn für deinen Freund zu halten.« »Er ist etwas zwischen einem guten Bekannten und einem streunenden Hund.« »Ja, sicher. Sag das deiner Tante.« »Er ist wahrscheinlich viel eher dein Geschmack als meiner. Stehst du nicht auf dünne blonde Typen? Aber du wirst bei ihm kein Glück haben, ist nicht sein Fall.« »Dann liebt er dich, ohne Zweifel, ganz egal, was in dem Stück rostfreiem Stahl vorgeht, das du dein Herz nennst.« »Sei still!« »Ich hab's erraten, nicht wahr?« Lacey braucht nicht zu antworten, denn der Robotkellner rollt an ihren Tisch und bringt ein Tablett mit Appetithappen. »Auf Rechnung des Hauses«, sagt er mit seiner nasalen Stimme. Lacey fragt sich, wer bloß die Robotkellner so programmierte, daß sie sich wie stark verschnupfte kleine jungen anhören. »Nicht übel.« Sam hat sich schon eine Kohlroulade genommen und spricht nun zwischen den einzelnen Bissen. »Verglichen mit anderen Planeten ist das Essen hier nicht besonders, aber die Schiffsrationen schlägt es allemal.« »Ein kleiner Ausgleich, immerhin.« Sam starrt sie erschrocken an. »He, amiga, que pasa? Alles in Ordnung hier bei den Landratten?« »Muß es wohl sein, nicht? Oder hab' ich eine Wahl?« »Nun gut.« Er nimmt die nächste Roulade. »Hör zu, wenn wir beide an den richtigen Fäden ziehen, dann können wir vielleicht deine Papiere zurückbekommen, dann kommst du mit mir als mein Chef Operator.« »Und wie, in aller Welt, wollen wir das schaffen?« 155 »Die Chancen stehen nicht gut.« Seine Stimme klingt müde und traurig. »Verdammt, ich fühle mich verpflichtet, etwas zu tun. Schließlich bin ich auch einer von denen, die dir das Leben verdanken.« »Du verdankst mir nicht die Bohne. Ich hab' meinen eigenen verdammten Hintern gerettet!« »Gut, gut ... ich weiß. Das sagst du doch immer. Aber trotzdem, wenn du nicht gewesen wärst, war' ich jetzt tot, und fünfhundert andere gottverdammte Leute noch dazu. Es macht mich immer ganz krank, wenn ich daran denke, wie sie dich dafür geschaßt haben.« »Nun vergiß nicht, nach dem Gesetz hätten sie mich an die Wand stellen müssen. Die richtigen Fäden ziehen! Denk an Eisenschnauze und seine Admiralsterne, ohne ihn wäre es aus gewesen mit mir.« »Das meine ich doch, wir sind dir etwas schuldig.« »Chinga tu madre!« Sam zuckt zusammen und gibt nun endlich Ruhe. Lacey nimmt sich ein Stück Toast mit leuchtendrosa Krabbencreme. Langsam kaut sie und hofft im stillen, daß Sam nicht auch noch den Rest der alten Geschichte aufwärmt. Damit sie jenes Wort nicht hören muß, den Grund dafür, daß sie den Dienst quittieren mußte und niemals wieder zur Besatzung eines Schiffs gehören kann. Er fühlt sich mitverantwortlich, es ließ ihm einfach keine Ruhe, wann immer sie sich trafen. Einige Menschen das galt auch für andere Wesen - gehören einfach in den Raum; andere gewöhnen sich eigentlich nie daran, in einem kleinen Metallgehäuse gefangen zu sein und durch den endlosen Wirbel von Lichtpunkten zu gleiten. Captain Rostow von der Avalon gehörte zu solchen Leuten. Zwanzig Jahre war er schon im Dienst, doch sträubte sich sein Innerstes dagegen, formierte sich zu einem einzigen lautlosen Aufschrei, wenn ihm bewußt wurde, daß er sein Leben einer dünnen Hülle und etwas Technik anvertraut hatte der schiere Wahnsinn in dieser fremden Welt des kosmischen Staubs und der Sterne, die 156 mit ihren Protuberanzen nach dem vorbeischwebenden Schiff zu greifen scheinen. Bei einem Routineeinsatz gegen Piraten brach er dann zusammen. Als die Avalon sie schon in die Flucht geschlagen hatte, befahl er plötzlich, die Schutzschirme abzuschalten, um sich mit voller Kraft zurückziehen zu können. Ohne die Schutzschirme konnten die Piraten die Avalon mit einem einzigen guten Schuß atomisieren, aber in seiner Panik hatte der Captain nur noch den Wunsch, so schnell wie möglich festen Boden unter die Füße zu bekommen, dem erbarmungslosen Raum zu entkommen und unter dem blauen Himmel des nächsten Planeten Zuflucht zu suchen. Meuterei. Ein häßliches Wort, denkt Lacey, für eine häßliche Tat. Sie war der einzige Offizier auf der Brücke, der es wagte, die Laserpistole auf Betäubung einzustellen und auf Rostow zu richten. Nachdem sie ihn in seine Kabine eingeschlossen hatte, verhängte sie als diensthabender Offizier über sich selbst Arrest und übergab das Kommando an Sam. Hinter vorgehaltener Hand sagte man sich bei der Admiralität, daß sie das einzig Richtige getan hätte, aber um der Disziplin willen wurde die Todesstrafe beantragt. Nur das Eingreifen von Eisenschnauze, Admiral Wazerzis, verhinderte das Schlimmste. Aber er konnte auch nicht mehr erreichen, als daß man ihr erlaubte, von sich aus den Dienst zu quittieren, um einer unehrenhaften Entlassung zuvorzukommen. Ihre Schiffspatente wurden unter Verschluß genommen. Was Lacey niemandem so ganz erklären kann, ist, daß sie im Grunde mit dem Oberkommando übereinstimmte. Nicht, daß sie sterben wollte. In der Nacht, als sie von der Begnadigung hörte, lachte und bebte sie im Wechsel, zwei Stunden lang, aus purer Erleichterung. Eigentlich hatte sie ja nur zwischen zwei Todesarten gewählt, damals, auf der Brücke, als Rostow zu schwitzen und toben begann. Und ihr Leben gegen das von fünfhundert anderen schien ihr ein vernünftiger und gerechter Preis, ein Preis, den sie durchaus zu bezahlen bereit war im Namen jener Disziplin, die dem 157 Kriegsgericht so am Herzen lag. Eines der wichtigsten Bollwerke gegen jenen Raumkoller, dem Rostow zum Opfer fiel, ist eine rigide Disziplin mit ihren Routineverrichtungen -eine künstlich festgefügte Welt, in der alles geregelt ist, was ebenso beruhigend wirken kann, wie es lästig ist. Auf einem Schiff ist man völlig dem ausgeliefert, was die anderen tun. Ein einziger Verrückter mit einer Pistole bedroht nicht nur einzelne Menschen, sondern das ganze Schiff. Ein unerträglicher Gedanke, daß eines Tages sich jemand finden könnte, der durch ihr Beispiel ermutigt einen Grund zum Meutern zu haben glaubt obwohl er nichts weiter als irrsinnig ist. »Weißt du«, sagt Sam, »vielleicht kommst du eines Tages in die Lage, irgend jemanden ein bißchen erpressen zu können. Ich werd' die Ohren offenhalten; vielleicht ergibt sich etwas, mit dem man diesen Viersternetypen Beine machen kann, daß sie deine Papiere herausrücken.« »Gracias, Amigo. Scheint mir etwas unwahrscheinlich.« Das Essen kommt, und sie essen schweigend, bis sie fast am Ende sind, wie es zur Etikette einer Offiziersmesse gehört. Wenn eine Mahlzeit jederzeit durch die Alarmsirenen unterbrochen werden kann, dann ist Essen wichtiger als eine Unterhaltung bei Tisch. Schließlich verteilt Sam den Rest Wein so gerecht wie möglich und lehnt sich behaglich zurück, das Glas in der Hand. »Du hast mir nicht gesagt, was es mit diesem Mulligan auf sich hat.« »Hab' ich wohl. Hab' dir gesagt, du sollst den Mund halten, nicht wahr? Es gibt nichts zu sagen.« »Warum gibst du dir dann so viel Mühe, nichts zu sagen? Bekomm' ich ihn zu sehen?« »Teufel, du kannst ihn haben.« »O ja, ganz bestimmt. Das hast du schon einmal über einen Typ gesagt, ich erinnere mich sehr gut daran. Und du warst stinksauer, als ich dich beim Wort genommen habe.« »Ich dachte nicht, daß er darauf eingehen würde, du Mist- 158 kerl.« Trotz des Schimpfwortes lächelte sie. »Man kann nicht immer gewinnen, nicht?« »Du hast das eine Mal gewonnen, als es wirklich zählte.« Sam sagt es recht melancholisch, er hält sein Glas ins Licht, daß der süße Wein blutrot aufleuchtet. »Wenigstens sah es damals so aus. Wirklich, als hättest du den ersten Preis gewonnen. Eher ein faules Ei im Nest, nicht wahr? Wenn ich daran denke, was dieser Hurensohn dir angetan hat!« Der melancholische Unterton ist verschwunden, er grinst sie an. »Geschah dir ganz recht, nachdem du ihn mir weggenommen hattest.« »Ich hab' dir einen Gefallen getan, das weißt du ganz genau.« »Heute weiß ich es. Aber ist es nicht verrückt, wie die Dinge sich entwickeln? Sobald er dich verlassen hatte, wußte ich schon, daß wir beide Freunde würden denn schließlich waren wir beide blöde genug, um auf einen Bastard wie ihn hereinzufallen. Die klassische Dreiecksgeschichte: Ich liebte ihn, du liebtest ihn, und er liebte sich.« Lacey lacht laut auf, dann macht sie sich an der Speisekarte zu schaffen, um Wein zu bestellen. Nach zwanzig Jahren kann sie auf die einzige große Liebe ihres Lebens mit einer milden, fast schon komischen Gelassenheit zurückblicken, kaum anders als Sam, obwohl sie damals vom Selbstmord nicht mehr weit entfernt war. Es war wohl die strenge Disziplin der Flotte, die sie davon abhielt, die Überzeugung, daß ein Offizier, der sich tötete, nicht nur sich selbst, sondern auch der Flotte Schande bereitete. »O mein Gott!« sagte sie unvermittelt. »Sam, sag bloß, wie hieß er doch? Alvarez oder Alvarado?« Sam überlegt, das Glas in der Hand. »Alvarez. Wie die Zeit vergeht. Ich mußte auch erst nachdenken. Was wohl aus unserem guten Jaime geworden ist? Ich werde alles, was du willst, darauf wetten, daß er noch immer mit der verdammten Flotte herumschippert. Madre de Dios, was war er schön! Ist es vielleicht noch immer. Die- 159 ses verfluchte Verjüngungsmittel es bringt die verlassenen Geliebten um ihre späte Genugtuung. Wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, dann müßte er jetzt schlaff und welk sein, aber wahrscheinlich bricht er immer noch die Herzen, wo immer er auftaucht.« »Ja, sicher. Aber es war nicht nur sein Aussehen, Mann. Wie er sich gab, dieser Gang ... Ich war hin und weg, sobald ich ihn sah. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß es schon etwas Besonderes war, irgendwo herumzustehen und auf ihn warten zu dürfen, wenn er mich wieder einmal versetzt hatte. Und nie vergaß man, daß er ein Held war. Es hört sich albern an, wenn man es sagt, aber er war wirklich einer.« »Orden von der Schulter bis zur Taille, nicht wahr?« Sam blickt an ihr vorbei, er hängt seinen Erinnerungen nach. »Und er hat jedes verfluchte Stück Blech verdient. Mir fällt nicht mal eine zynische Bemerkung ein. Er hat sie verdient, wirklich.« Er nimmt die offene Weinflasche vom Tablett des Robotkellners. »Wollen wir auf die Vergänglichkeit der Liebe trinken?« »Warum nicht? Mach die Gläser voll, amigo.« Sie prosten sich zu, leeren dann die Gläser bis zur Hälfte, ein anderer Brauch aus der Offiziersmesse. Als Lacey eben einen zweiten Trinkspruch anbringen möchte, sieht sie Bates, der durch die Tischreihen mit großen Schritten auf sie zukommt. So düster ist sein Gesichtsausdruck, daß sie erschrocken aufspringt, noch bevor er sie erreicht hat. »Wir haben Sally Pharis gefunden. Kein schöner Anblick.« »Das ist das, was ich schon die ganze Zeit befürchtet habe, Chief. Ist es wie bei den anderen?« Bates muß schlucken, als er daran erinnert wird. Dann holt er tief Luft. »O je ... tut mir leid, euch beim Essen zu stören. Aber wollen Sie mit mir ins Leichenschauhaus kommen? Wir müssen auch reden, Lacey. Ich schwör's: Wir brauchen Ihre Hilfe wirklich dringend.« 160 Wenn Bates das eingestand, dann mußte die Lage schlichtweg katastrophal sein. »Okay, ich werde mitkommen. He, Sam wirst du zu Hause auf mich warten?« »Wenn du möchtest, komme ich auch mit.« Bates schüttelte den Kopf. »Je weniger davon wissen, um so besser«, sagt er. »Tut mir leid, Captain, ist nicht persönlich gemeint.« »So hab' ich es auch nicht aufgefaßt, Chief.« Sam steht auf und trinkt sein Glas aus. »Ich werd' bezahlen, Lacey. Wir sehen uns dann bei A-bis-Z.« Während der Fahrt zum Leichenschauhaus berichtet Bates Lacey, daß er die Polizei-Hypnotiseurin angewiesen hat, sich Little Joe vorzunehmen; vielleicht fiel ihm noch das eine oder andere Detail zu Sally und der Nacht ein, in der Ka Gren ermordet wurde. Dann kommt er auf Akeli zu sprechen, auf dieses Füllhorn von Drohungen, das er über ihn ausgeschüttet hat. Lacey ist überrascht, wie groß die Wut ist, die sie mit einem Mal packt; eigentlich ist sie über das Stadium hinaus, in dem man sich über Regierungsentscheidungen noch aufregt. »Schwachsinnige Kuh«, sagt sie und meint damit die Präsidentin der Republik. »Äh, der Gedanke ist mir nicht ganz fremd. Hören Sie mal, ich wollte dort im Restaurant nichts sagen, aber es ist etwas wirklich Schreckliches mit Sally passiert. Wenn Sie die Leiche nicht sehen wollen, sagen Sie es nur.« »Ich hab' das Gefühl, ich sollte es mir anschauen. Wofür halten Sie mich eigentlich? Mensch, schließlich war ich Soldat, haben Sie das vergessen? Ich hab' mehr als einen Menschen gesehen, den es über den ganzen Geschützturm verteilt hatte, wie Himbeermarmelade.« Als sie in der langen, kalten Halle stehen, jedes Geräusch ein vielfaches Echo, und auf die Bahre starren, die vom Rest der Welt durch eine Plastikplane hermetisch abgetrennt ist, kann Lacey Bates Besorgnis verstehen. Ohne die Erfahrun- 161 gen aus ihrer Dienstzeit, die sie abgehärtet haben, hätte sie nicht da stehen und dieses Bild in sich aufnehmen können. Sogar der Gehilfe des Gerichtsmediziners scheint mit der Übelkeit zu kämpfen, er, der wohl über zwei Dutzend Mordopfer im Laufe seiner Karriere gesehen haben mußte, ganz zu schweigen von den unzähligen Toten, die man aus zertrümmerten Gleitern geboren hatte. Aber daß sie nun Ekel fühlt, kaum Trauer, das liegt daran, daß sie dieses Wesen, das vor ihr liegt, nicht als Sally begreift. Die Kehle ist von einem Ohr zum anderen durchschnitten worden; ein Sturzbach von Blut hat sich über den Leib ergossen, doch was einmal Brust und Bauch war, das ist ein verkrustetes Etwas, eine schäumende Masse aus silbergrauen Fäden, die sich in das Fleisch eingewoben haben. Auch die Oberarme existieren nicht mehr, sind zerfressen, freigelegt bis auf den Knochen. Und das Gesicht ist kaum wiederzuerkennen als hätte jemand eine Büste von Sally machen wollen, aber die graue Tonerde war zu naß, um die Form halten zu können. Ein zerlaufenes Gesicht. Laceys Kehle ist wie zugeschnürt, wie gern hätte sie geflucht, doch gibt es kein Wort für das, was Sally zugestoßen ist. »Ich habe Sie gewarnt«, sagt Bates leise. »Aber ja. Sieht aus, als wäre dieses Zeug da am aktivsten, wo es frisches Blut findet.« »Der Gerichtsmediziner hat sich ähnlich geäußert. Er arbeitet an seinem Bericht, zusammen mit Dr. Carol. Es J müssen diese exotischen Bakterien sein, meint er, in einem weiteren Entwicklungsstadium wahrscheinlich. Er legt sich nicht gern fest.« »Und wo ist Carol jetzt?« »Im Quäker-Hospital, sagte man mir zuletzt, immer noch mit Little Joe Walker beschäftigt. Wenn sich das Zeug tatsächlich so entwickelt«, er deutet auf die Leiche, »dann wird er wohl bald einen Kunstdarm brauchen.« Lacey stößt einen Seufzer aus und wendet sich ab. »Also, Chief, wie war das mit der Armee? Daß sie die Stadt besetzen wollen? Lassen Sie doch einfach etwas durchsickern, von dem, was wir hier gesehen haben. Ich wette Ihren Hintern, daß die Typen desertieren werden, bevor sie noch einen Fuß in die Stadt gesetzt haben.« »Ein paar Bilder in den Abendnachrichten würden genügen, denke ich. Ich werd's mir überlegen.« »Sie haben einen Durchsuchungsbeschluß für Sallys Wohnung?« »Sicher. Sie sehen so besorgt aus, warum? Liegt dort Stoff herum?« »Wie, zum Teufel, kommen Sie darauf?« »Durch meinen Hang zum logischen Denken und weil ich offensichtlich richtig geraten habe. Aber keine Sorge, ich kann keine Toten einsperren, nicht wahr? Kommen Sie mit, wenn Sie wollen.« Die Wohnung ist ein wüstes Durcheinander, von der schmalen Türnische bis zum Wohnzimmer, vom Wohnzimmer bis zur Küche am anderen Ende. Man tritt auf Scherben, Sallys Nippeskram ist zu Boden geworfen. Ein umgestürzter Sessel beim Fernseher, Sallys Kleider, Datenboxen, Musikspeicher, Küchengeschirr, alte Pizzakartons und ähnliches alles, was ihr gehörte, scheint ringsum verstreut. Doch es fehlen der 3-D-Fernseher, der Mikrowellenherd und der nagelneue sehr teure Computer. Der alte Putzroboter, den sie vor Jahren gebraucht gekauft hat, liegt ohne Lebenszeichen in einer Ecke. Sein Genick ist gebrochen. »Wirklich clever«, sagt Lacey laut. »Ich wette, daß auch ihr Schmuck fehlt. Ein gelungener vorgetäuschter Einbruch, aber wozu die Mühe?« Bates zuckt mit den Schultern, nicht weniger erstaunt als sie. Doch die Verwüstung scheint wie eine Spur hinüber ins Schlafzimmer zu führen. Plötzlich wird Lacey die Absicht klar, sie sollen ihr folgen. Und sie spürt einen Stich im Herzen, denn sie glaubt zu wissen, was sie finden werden. 162 163 »Schweinekerl«, sagt sie, »das wirst du mir büßen.« »Was ist los?« »Kommen Sie, el jefe.« Im Schlafzimmer liegt, wie sie befürchtet hat, Ibrahim -ausgebreitet auf dem Bett, mit einem sauberen kleinen Loch im Hinterkopf. Der arme alte fette Ibrahim, in einem zerrissenen Unterhemd und blutgetränkten Shorts. »Ach so ist das!« platzt es aus Lacey heraus. »Was für ein Zufall, man hat ihn überfallen und die Wohnung ausgeräumt, genau an dem Tag, an dem sie umgebracht wurde. Ein sehr wahrscheinliches Zusammentreffen, ganz zweifellos. Ibrahim muß etwas gewußt haben, also mußte auch er sterben. Ich denke, wir sollten glauben, daß die Einbrecher ihn getötet haben, nicht wahr?« »Ja, klar doch, die Einbrecher. Man braucht sich nur anzusehen, wie er getötet wurde - anders als die übrigen Opfer. Aber es ist wirklich stümperhafte Übertreibung, ein Overkill - das sollte kein Witz sein, Entschuldigung.« Vor dem Kleiderschrank liegen die Beutel mit dem Sarah-Haschisch, die Jeans und die lavendelfarbene Bluse, genau so, wie sie es in Erinnerung hat und Buddy es fotografierte. Nur daß die Bluse jetzt mit Blut beschmiert ist. »Das hätte der Mörder nicht liegen lassen dürfen«, sagt Bates. «Entweder hält er uns für blöd, oder er ist inzwischen so in Bedrängnis, daß er nicht mehr klar denken kann.« »Da muß ich zustimmen. Es ist wirklich dämlich, den Stoff hier liegen zu lassen - kein Einbrecher würde so etwas übersehen. Außer wenn er nicht weiß, wie wertvoll das Zeug ist. Und in diesem Fall ist er tatsächlich nicht von diesem Planeten.« »Richtig. Also unser psi-begaber Killer?« »Könnte sein.« Der Gedanke macht sie schaudern. »Aber, Chief - sorgen Sie dafür, daß niemand hier etwas ohne Handschuhe anfaßt, unbedingt!« »Was?« »Sally war von diesen Bakterien infiziert, und ich wette, 164 daß es diesen Kerl kaum weniger erwischt hat. Er mußte Sally erst überwältigen, bevor er sie tötete, und sie war sehr kräftig. Sie hatte immerhin den schwarzen Gürtel, Mann. Es muß von diesen Bakterien hier nur so wimmeln.« »Himmel, Sie haben recht! Übrigens, wir haben die Geschichte ans Fernsehen gegeben, die ganze Nacht läuft es schon in den Nachrichten. Die Leute werden aufgefordert, alles Auffällige zu melden. Der Kerl muß doch von Blut nur so triefen, jemand muß das gesehen haben.« »Das sollte man meinen, Teufel noch mal.« »Ich werd' das Einbruchsdezernat anrufen. Wird Zeit, daß sie sich hier an die Arbeit machen. Sie gehen jetzt nach Hause?« »Ja, bald. Aber Sie können mich über den Computer jederzeit erreichen. Sagen Sie mal, dieser Stoff, Chief ... dieser Beutel ist noch verschlossen, und die einzelnen Päckchen darin kann man sicher ohne Risiko anfassen. Können Sie mir etwas davon überlassen? Ich brauche es, um einige Leute zum Reden zu bringen.« »Sicher. Ist besser als Geld, nicht wahr? Nehmen Sie, was Siebrauchen.« Lacey stopft sich die Taschen voll, vielleicht hundert Gramm kann sie so unterbringen. Als sie durch den Flur geht, wirft sie zufällig einen Blick ins Bad. »Verdammt, Chief, sehen Sie mal. Hier hat jemand gebadet, und ich wette, es war nicht Ibrahim, so, wie er gerochen haben muß: Jede Seife, jede Lotion hat er ausprobiert.« »So sieht es aus. Lacey - scheint, als hätten Sie recht mit diesen verrückten Bakterien.« Mulligan arbeitet im Garten, er jätet das Unkraut in einem Beet Brotfarn. Das ist eine der wenigen Pflanzen der gemäßigten Zonen von Sarah, die auf Hagar gedeihen. Zwar werden die blaugrünen Farnwedel in dem trockenen Klima nur ein Meter hoch, nicht sechs wie auf Sarah, doch erntet man 165 auch hier die begehrten Knollen, einige Kilo schwer und reich an wertvollen Kohlenhydraten und Proteinen. Das Wasser, das man dafür opfern muß, ist keineswegs verschwendet. Mulligan jätet gerne; Unkrauttriebe und Pilze zu entfernen ist gerade die richtige Arbeit für ihn: Es ist nicht anstrengend, und doch kann er sich damit von dem ablenken, was ihn quält. Aber wie sehr er auch hofft, sich betäuben zu können, er ist und bleibt in Nunks' Bannkreis und kann nicht umhin, dessen Sorgen mitzufühlen: Er zerbricht sich den Kopf, wie man dem geheimnisvollen Wesen draußen im Rattennest helfen könnte, und schreckt doch vor der Gefahr immer wieder zurück. Zwar fühlt auch Mulligan großes Mitleid mit der Insektenfrau, aber er hat keineswegs das Bedürfnis, nach ihr zu suchen, zumal dieser psi-begabte Killer hinter ihm her ist. Sollte Nunks zu einem Entschluß kommen, dann würde er sich eine gute Ausrede ausdenken, um hier hinter den verschlossenen Türen von A-bis-Z bleiben zu können. Die erste Reihe von Beeten hat er gerade beendet, als Nunks sich meldet: Da sei jemand an der Tür, der sich als Freund von Lacey ausgebe und eingelassen werden wolle. Mulligan kann Nunks Mißtrauen spüren, es ist wie ein Kribbeln entlang seiner Wirbelsäule. Großer Bruder, spüre keine Lüge. Keine Lüge zu spüren. Aber: Vorsicht! Denke an Mörder mit Psi. Buddyfragen, Kontrolle. Zögernd geht Mulligan in Laceys Büro. Der Computer scheint nicht zu arbeiten; auf dem Bildschirm ist nichts als ein schwaches Leuchten zu sehen. Doch sofort reagiert er I auf den Eindringling, die Sensoren blinken auf, und der Scanner schwenkt zu ihm herum. »Da ist jemand am Tor, Buddy. Nunks hat gesagt, ich soll dich um eine Überprüfung bitten, eine Identitätskontrolle.« »Ist schon geschehen, Einheit Mulligan. Glaubt Nunks etwa, daß ich nachlässig bin?« »Nein. Wie sollte er ... ich meine, wir wußten doch nicht, was du treibst ... was du eben gemacht hast!« Buddy antwortet mit einem Geräusch, das irgendwie verächtlich klingt. »Ja doch!« schimpft Mulligan. »Nun sag endlich, wer da vor dem Tor steht!« »Die Einheit Sam Bailey, Kapitän der Montana und ein sehr guter Freund von Lacey. Identität ist mehrfach bestätigt, durch Handabdruck, Irismuster, Infrarotabtastung und meine Datenspeicher.« »Okay, schon gut. Ich werd's an Nunks weitergeben.« »Oh, Einheit Mulligan? Du solltest auf dein Benehmen achten, was Captain Bailey betrifft. Lacey hält sehr viel von ihm, wenn du verstehst. Es wäre gut für dich, einen positiven Eindruck zu machen.« Wäre Buddy aus Fleisch und Blut, dann würde Mulligan unschwer erkennen können, daß er - nein, nicht lügt -, sondern die Wahrheit aufrecht subjektive Weise formuliert. Aber so treffen ihn die Worte wie ein Blitzschlag, daß er wie gelähmt stehen bleibt und nach Luft schnappt. Während er sich langsam die Treppe hinunterschiebt, kann er nur noch das eine denken: Daß er es hätte wissen müssen, daß natürlich doch Lacey einen tollen Liebhaber haben mußte, vielleicht sogar mehr als einen. Daß er nichts zu bieten hat, was eine Frau wie sie braucht. - Und noch mehr solcher Gedanken, die alle nur den einen Wunsch in ihm wecken: zu trinken, zu trinken bis zur Besinnungslosigkeit, und es dann für immer zu bleiben. Sein erster Blick auf Sam schwarz, muskulös, gutaussehend - kann seine schlimmsten Befürchtungen nur noch bestätigen. »Mulligan, hab' ich recht?« lächelt Sam freundlich und streckt ihm die Hand entgegen. »Lacey hat von Ihnen erzählt. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Während sie händeschüttelnd dastehen, stellt Mulligan fest, daß er diesen Typ haßt und immer hassen wird, der nicht einmal zugeben will, daß er auf ihn eifersüchtig ist. 166 167 Dann spürt er, daß Nunks sich meldet, der höchst irritiert ist. Kleiner Bruder, Umfragen: Kommt Lacey nach Hause, ja/nein? »Captain Bailey, wissen Sie, ob Lacey schon auf dem Heimweg ist?« »Mensch, sag doch Sam! Dieser Captain hängt mir zum Hals heraus, Lichtjahre lang krieg' ich nichts anderes zu hören. Aber Lacey, die ist mit diesem Bates von der Polizei unterwegs.« Er spricht gedämpft weiter. »Aber sag mal, kennst du eine Sally Pharis? Traurig, aber es scheint, daß sie tot ist, Mann.« Mulligan kannte Sally nur flüchtig, doch ist jeder Tod ein Schlag für ihn. Und das Entsetzen eines Menschen, der seinem Mörder gegenübersteht, kann er sich allzu lebhaft vorstellen. Er macht einen Schritt, schwankt unsicher. Sam will ihn stützen. »Nehmen Sie die Hände weg!« »Aber ...« Bailey tritt einen Schritt beiseite. »Ich wollte dir helfen, das war alles.« Mulligan knurrt etwas und wendet sich dann Nunks zu, der inzwischen so verwirrt ist, daß ihn dieses Gefühl wie eine Wolke umgibt. Doch er legt einen pelzigen, tröstenden Arm um Mulligan und drückt ihn an sich, während Sam dabeisteht und zu tun versucht, als sei nichts geschehen. Kleiner Bruder. Sympathie, Ärger. Stärke zeigen. Müssen helfen, jetzt, Insektenfrau. Lacey zu spät. Nicht warten, aufbrechen. Fährst du Gleiter? Habe Laceys Schlüssel. Das war der Punkt, an dem Mulligan vorgehabt hat, auszusteigen. Dieses verrückte Abenteuer sollte ohne ihn stattfinden, Entschuldigungen hat er sich genug ausgedacht. Aber Lacey liebt ihn nicht, und dieser Sam, der würde niemals etwas versäumen, das so gefährlich war wie dieses Unternehmen. Überhaupt, wozu noch leben. In der Nationalliga darf er sowieso nicht spielen. Ich fahre. Du hast völlig recht. Wir gehen, gleich jetzt. Erleichterung. »Sagen Sie, Bailey?« sagt Mulligan. »Tut mir leid, daß wir so in Eile sind, aber es geht um eine große Sache. Sie kennen das Rattennest, ja? Eine Freundin von uns steckt da- in Schwierigkeiten, müssen sie herausholen. Macht Ihnen sicher doch nichts aus, oben auf Lacey zu warten?« »Natürlich nicht, aber sag mir, amigo - wenn ihr Unterstützung braucht, dann komme ich mit.« »Ach, ganz unnötig.« Mulligan zuckt leichthin die Achseln und hofft, daß es lässig genug wirkt. »Nunks und ich, wir schaffen es schon allein.« Kleiner Bruder: Verrückt! Diesen Mann mitnehmen! NEIN! Erklärung später. Während Nunks in seinem Zimmer nach dem Ersatzschlüssel von Laceys Gleiter sucht, bringt Mulligan Sam nach oben in das Büro, dann gibt er Rick neue Anweisungen, wie Nunks aufgetragen hat: Maria muß im Büro bleiben, die ganze Zeit, von Buddys Sensoren bewacht, ganz gleich, was am Tor oder im Garten passierte. Sollte der Mörder versuchen, ins Haus zu kommen, soll er die Polizei rufen und nicht den Helden spielen wollen, auch nicht mit Sams Unterstützung. Mulligan läßt Rick das alles vor Buddy wiederholen, so kann er sicher sein, daß er sich auch daran halten wird. »Eines noch, Einheit Mulligan«, sagt Buddy schließlich.' »Du hast kein Terminal an deinem Gürtel. Wie soll ich da Kontakt mit euch halten?« »Wer sagt denn, daß du das sollst?« »Ihr könntet im Rattennest in Schwierigkeiten kommen.« »Ach ja? Nun, wenn das der Fall sein sollte, dann wird uns irgendein elektronischer Wichtigtuer auch nicht helfen können!« Mulligan dreht sich um und geht hinaus. »He, Mann!« ruft Sam ihm nach. »Die Maschine hat recht, glaub mir!« Während Mulligan die Treppe hinunterstürzt, immer zwei Stufen auf einmal, geht es ihm durch den Kopf, daß er lieber 168 169 tot wäre, als auf Sam zu hören. Und was Buddy betrifft -sein Haß ist so stark, daß er diese hochnäsige Stimme nie wieder hören möchte. Mit hundert Gramm Sarah-Haschisch in ihren Taschen besteigt Lacey in der Vierten Straße die U- Bahn nach Porttown. Es sind noch einige Stunden bis zur Rush-hour des späten Abends, so hat sie einen ganzen Wagen für sich allein, bis auf einen Teenager, eine Bianca mit rotem Haar, die sich geräuschvoll über ein besonders stark duftendes Paket mit Lizzie-Chips hergemacht hat. Durchdringend riecht es nach Zwiebeln und Essig. Essen ist zwar verboten in der U-Bahn, aber Lacey schweigt. Das Mädchen trägt ein Messer an der Wade, und obwohl Lacey ihr das abnehmen könnte, ohne es recht zu wollen, scheint es ihr die Mühe nicht wert. Statt dessen öffnet sie das nächste Fenster; staubige, aber durch die Ionisation frisch duftende Tunnelluft strömt ein. Die Belüftung funktioniert in keinem der Züge, die durch Porttown fahren, weil, so behauptet die Transportgesellschaft, ungezogene Blanco-Kinder Abfall in die Ventilationsöffnungen stopfen. Lacey braucht die frische Luft dringend. Der Mangel an Schlaf macht sich nun bemerkbar; nur das Adrenalin, das Angst und Wut mobilisiert hat, hält sie noch wach. Doch wenn ihr auch das Denken etwas schwerer fällt als gewöhnlich, ist ihr Plan über das weitere Vorgehen fast fertig. Bates könnte jeden einzelnen Polizisten und jeden aufgebrachten und zur Selbstjustiz neigenden Bürger der Stadt auf den Mörder ansetzen - er würde ihn (oder sie) nicht finden, wenn er sich im Basar versteckte. Doch der Mord an Sally bringt etwas Neues ins Spiel. Morde gibt es öfter im Basar -Streitigkeiten unter Dealern, Eifersucht, Süchtige, die sich durch Raub das nötige Geld verschaffen wollen , aber ein Mord durch die Fremden ist etwas anderes als ein Mord >unter Freunden<. Sicher hat sich die Neuigkeit schon her- 170 umgesprochen, und AI wird es tief getroffen haben. Wenn sie die schrägen Vögel hier überzeugen könnte, daß der Mörder ebensosehr ihr Feind ist wie der der Polizei, dann könnte es gut sein, daß er sich zu einem Paket verschnürt vor Bates' Tür wiederfindet. Wenn man ein Wesen mit Psi-Fähigkeiten, das außerdem ein exzellent ausgebildeter Profi-Killer ist, mit den üblichen Mitteln des Basars finden kann. Kein Zweifel, daß er (oder sie Lacey ermahnt sich, daß sie schon zu viele Annahmen über den Killer als Tatsachen betrachten) über beliebig viele falsche Papiere und die zugehörigen Legenden verfügt, um an jedem Tag der Woche seine Identität zu wechseln. Da trifft sie etwas am Bein, und Lacey springt auf, hat schon halb den Laser gezogen. Das rothaarige Mädchen verkriecht sich mit einem angstvollen Aufschrei auf seinem Sitz. »War keine Absicht, Mensch.« Und überrascht stellt Lacey fest, daß das, was sie da getroffen hat, der leere, zerknitterte Essenskarton war, der achtlos auf den Fußboden geworfen wurde. Bevor sie sich wieder hinsetzt, kickt sie ihn über den Gang. Zurück bleibt der Geruch, übertönt auch das süßliche Parfüm der Kleinen: ein stechender, saurer Geruch. »Heiliger Jesus und Madre de Dios!« Lacey schlägt sich vor Begeisterung auf den Schenkel. »Aber natürlich!« Das Mädchen fährt herum auf seinem Sitz und starrt sie an. Wahrscheinlich hält sie Lacey für verrückt. Lacey lächelt sie strahlend an, verwirft dann aber doch den Gedanken, ihr zu erklären, daß dieses Überbleibsel ihrer wenig appetitlichen Mahlzeit möglicherweise Polar City vor dem Kriegsrecht gerettet hat. Wenn der Killer sich mit dem Bakterium infizierte, dann ist es mehr als wahrscheinlich, daß er (oder sie) auch diesen Geruch nach verdorbenem Essig an sich hat. Es gibt nun ein Erkennungsmerkmal, auch wenn es sich mit Parfüm ein wenig kaschieren ließe; seine (ihre) falschen Pässe würden ihm (ihr) nicht mehr viel nützen, wenn Lacey jetzt die richtigen Helfer auftreiben kann. Als sie an der 171 Kreuzung -Straße aussteigt, überfällt sie dieses alte, wohl vertraute und so überaus lästige Gefühl: eine merkwürdige Angst, vermischt mit lähmendem Schuldgefühl. Sie wird diesen Mann aufsuchen müssen, den man den Bürgermeister von Porttown nennt. Ein Glück, daß sie genug Sarah Haschisch eingesteckt hat; sie wird es brauchen, um die Tür Steher und Leibwächter zu bestechen. Bevor sie die Schwebeplattform hinauf zur Straße betritt, drückt sie sich in eine dunkle Ecke der Station und ruft über ihr Terminal bei Carol zu Hause an. Zu ihrer Überraschung meldet sich nicht der Computer, sondern Carol selbst, und zwar auf Anhieb. »Ach du bist's, Lacey. Paß auf, ich muß es kurz machen. Ich habe das Zentrum für Infektionskrankheiten auf Sarah angerufen, und die zwölf Minuten Laufzeit sind fast um.« »Ich will ja bloß wissen, wie es Little Joe geht.« »Keine Ahnung. Soll heißen, daß sich das verdammte Zeug weiter ausbreitet, aber es scheint ihn nicht umzubringen. Schau, er hat irgendwann gepinkelt - und jetzt machen sich die lieben kleinen Biester da unten zu schaffen, fressen die Haare auf und machen die Haut glatt und glänzend, ein bißchen ledrig. Es macht ihn fast wahnsinnig, aber ich erzählte ihm, es wäre doch ganz neu und interessant für die Mädchen. Der Witz gefiel ihm überhaupt nicht.« »Würde ich vermuten, ja.« »Und jetzt gerade ist ihm auch nicht zum Spaßen, weil die Polizei bei ihm ist. Ich hab' ihm einen Anwalt besorgt, bevor? ich die Grünen und ihre Hypnotiseurin zu ihm gelassen habe.« »Hoffentlich. Hast du von der Polizei schon den Bericht über Sally Pharis bekommen?« Carols Gesicht auf dem winzigen Bildschirm verdüstert sich. »Hab' ich schon. Hör zu, es könnte auf diese Weise vor sich gehen: Die Bakterien können nicht ungehindert aktiv sein, solange das Opfer lebt, aber danach fressen sie einen 172 auf. Das Zeug verdaut alle tote organische Substanz wie abgestorbene Zellen und Haare und verwandelt sie in einfachen Zucker und eine Art Abfallprodukt, eine merkwürdige Säure. Ich hab' sie gerade im Analysecomputer. Hab' so etwas noch nie gesehen - das ist das, was so schrecklich stinkt. Diese Fäden, die du auf Sallys Körper gesehen hast, sind nichts weiter als Zuckerkristalle. Eine verrückte Art Kandiszucker. Als Little Joe in der Klinik sein Essen kriegte, einen Soja-Burger, da hättst du mal sehen sollen, was die Bakterien mit dem Brötchen gemacht haben - es hat sich einfach aufgelöst, da, wo er es gehalten hat. Ziemlich scheußlich. Von heute an wird der Ärmste immer eine Gabel brauchen.« Ein schwaches Piepsen ist im Hintergrund zu hören. »Muß Schluß machen, da ist mein Gespräch.« »Okay. Ich werde Bates anrufen, um zu hören, was Little Joe ihnen erzählt hat.« Nachdem Carol vom Bildschirm verschwunden ist, tippt Lacey Bates' Nummer ein. Wohin sie jetzt geht, wird sie ihm nicht sagen können, das würde einfach zuviel verderben. Die Adresse des >Bürgermeisters< ist ein gutgehütetes Geheimnis, zumindest für ehrliche Polizisten wie Bates. Chief Bates meldet sich sofort, als hätte er auf sie gewartet, und ist geradezu begeistert. »Phantastisch. Werden Sie dafür sorgen, daß er nicht belangt wird?« »Sie wissen verdammt gut, daß jedes Geständnis unter Hypnose vor Gericht nicht verwendet werden darf. Außerdem, wer fragt nach ein bißchen Rauschgift, wenn es um einen Irren geht, den wir schnappen müssen!« »Was hat Joe gesagt?« »Sally hat zu ihm gesagt ich zitiere: >Da begegnet mir doch ein Kerl, ein Blanco, der sich mitten auf der Straße die Kleider vom Leib reißt. Er hatte darunter noch Hemd und Hose, und es sah aus, als wollte er das Zeug in den öffentlichen Recyclingbehälter stopfen.< Wie finden Sie das?« 173 »Jetzt wissen wir wenigstens, daß es ein Kerl ist, keine Frau. Hat Sally etwas von Blut gesagt?« »Hat sie nicht. Das ist das einzige, was mich ein bißchen zweifeln läßt, ob es der richtige Kerl war. Nun, vielleicht war sie nicht nahe genug, um die Flecken zu sehen. Es ist unsere einzige Spur, und ich werde sie nicht einfach unter den Tisch fallenlassen.« Obwohl es sehr schwierig ist und großer Willenskraft bedarf, einen anderen Para zu ignorieren, wenn er telepathisch auf einen einbrüllt, daß man langsamer fahren und; auf den Weg achten soll, ganz zu schweigen von einer Litanei böser Flüche - Mulligan schafft es. Er ist in der richtigen Stimmung, fürchtet weder Tod noch Teufel und wünscht sich nur eines noch: für diese gute Sache zu sterben, damit Lacey unter Tränen und Jammern erkennen muß, daß sie ihn und sonst niemanden liebte. (Zum Glück denkt er nicht; daran, daß Lacey in den letzten fünfzehn Jahren nicht ein einziges Mal geweint hat.) Er hat den zerbeulten blauen Gleiter so hoch wie möglich aufsteigen lassen und drückt jetzt; das Gaspedal durch. Mit gut hundertfünfzig Kilometern pro Stunde dröhnen sie durch die Luft. Hin und wieder läßt er die Maschine in einer weit ausholenden, schwingenden-Bewegung etwas abtauchen. Kleiner Bruder: Bremse ab. Oder ich TÖTE dich. Trample auf deiner Leiche herum, trete dich breit. Du kannst nicht fahren. Wirst nicht nach Hause kommen ohne mich. Gehen ist gesund. MACH JETZT LANGSAMER!! Aus Mitleid, weil er den Unterton blanker Furcht in Nunks Äußerung spürt, verlangsamt Mulligan auf vielleicht! hundert, und nun hört auch das Klappern und Stöhnen in der Karosserie auf. Sie schweben jetzt am Rand des Rehydrierungskraters entlang. Unter dem blendendweißen Licht der Schwebelampen kann man die Arbeiter sehen: wie Ameisen erscheinen sie aus dieser Höhe. Das veranlaßt Mul- 174 ligan, etwas tiefer zu gehen. Zweihundert Meter läßt er die Maschine durchsacken, bevor er sie abfängt. Ganz langsam werde ich dich töten, kleiner Bruder. Keine Psi-Folter werde ich auslassen, die man in meiner Heimat für Schwerverbrecher erfunden hat. Bedauern. Ich tue nur, worum du mich gebeten hast, großer Bruder. Es eilt: WAS passiert, wenn Verrückte Insektenfrau jagen? Wut. Widerwillige Zustimmung. Laceys Gleiter ist kein Geländefahrzeug; da, wo die planierte Trasse endet, etwa zwei Kilometer vom Rattennest muß Mulligan anhalten. Bevor er noch richtig aufgesetzt hat, hat Nunks schon die Gurte gelöst, die Tür aufgestoßen und ist ausgestiegen. Mulligan läßt die Maschine langsam in den Schatten einer Gruppe von Dornenbäumen gleiten, schließt ab und kommt zurück. Nunks steht da und fährt mit den Händen durch seinen Pelz. Ganze Haarbüschel hat er zwischen den Fingern, die Fahrt scheint ihm doch zugesetzt zu haben. Kleiner Bruder] Unartikulierte Wut, eine Warnung. Unaufrichtiges Bedauern. Leichte Entspannung, immer noch warnend. Nach einigen Minuten Herumpirschen im Dickicht findet Mulligan einen Pfad entlang eines Grabens, der dicht mit Gestrüpp überwuchert ist. Er windet sich den Kraterrand entlang, schlägt nach einiger Zeit die Richtung hangabwärts ein, zum Rattennest. Der Pfad ist sehr schmal, deshalb geht Mulligan voraus und versucht, die in den Weg hängenden Zweige, so gut es geht, Beiseitezubiegen, damit sie sich nicht in Nunk's Fell verfangen. So kann der große Bruder sich darauf konzentrieren, Signale an die Insektenfrau zu senden. Die rauhe Rinde der Dornenbäume schürft die Hände auf, und bald wünscht sich Mulligan, er hätte ein gutes Lasermesser mitgenommen. Dann wird ihm klar, daß sie ohne jede Waffe hierhergekommen sind. Nicht einmal ein Taschenmesser haben sie bei sich. Nunks spürt seine plötzliche Besorgnis. 175 Mehr als genug Tote, kleiner Bruder. Nicht töten, niemandem schaden. Niemandem! Feinde, kein Verständnis. Gleichgültigkeit. Wie schade. Mulligans romantische Träume vom Heldentod verflüchtigen sich rasch, fallen in sich zusammen wie eine abgelegte Sonnenpelerine ( die mitzunehmen er ebenfalls vergessen hat). In aller Klarheit wird ihm bewußt, daß er hier ganz ohne viel Zutun zu Tode kommen konnte, und es für alle Zeiten mit dem Baseball in der Profi-Liga vorbei sein würde. Großer Bruder: Hier warten? Daß Insektenfrau zu uns kommt? Nicht warten. Verachtung. Im Gleiter warst du derjenige, der Angst hatte. Keine Angst. Respektheischende Würde. Übelkeit, der Magen. Im Flackern des Nordlichts steigen sie die Bergflanke hinab. Hin und wieder unterbricht das Summen und] Schwirren eines geflügelten Nachttiers oder das Fauchen eines im Dickicht aufgeschreckten Reptils die Stille. Nunks' Geist ist kaum noch wahrzunehmen, ist ganz passiv, nur auf Empfang eingestellt. Mulligan konzentriert sich auf den Weg, um den Zweigen und Ranken auszuweichen, die nach ihnen zu greifen scheinen; so kann er auch vermeiden, daß seine Angst die Insektenfrau abschrecken könnte, die auch so schon schwer genug zu finden ist. Sie haben fast die Talsohle erreicht, als er etwas Großes, Glänzendes im Gestrüpp entdeckt, zehn Meter entfernt rechts von ihrem Pfad. Er übermittelt Nunks, daß er anhalten soll. Buschwerk zertrampelt, großer Bruder. Jemand hat es hierhergeschleppt. Wirst du nachsehen ? Ja. Weil das Dickicht schon flachgetreten ist, kann Mulligan auf direktem Weg zu dem geheimnisvollen Objekt hinübergehen. Als er näher kommt, erkennt er, daß es ein polyedrisches Zelt aus einer grünlichen, wie Metall wirkenden Folie 176 ist, wie er sie noch nie gesehen hat. Entweder ist es an mehreren Stellen zerrissen, oder die Bewohner haben eine merkwürdige Vorstellung von Fenstern. Als sich etwas bewegt, bleibt Mulligan im Schatten eines Dornenbaums geduckt stehen, aber es ist nur eine der kleinen Eidechsen, die mit einem Flugtier im Maul an dem Zelt vorbeikriecht. Hätte er doch wenigstens eine Taschenlampe mitgenommen! Aber was soll's; er nähert sich, bis er in die dreieckige Öffnung an einer Seite sehen kann. Allerlei Gegenstände sind dort drin aufgestapelt, doch hält er Abstand: Über allem liegt der scharfe Geruch von verdorbenem Essig. Großer Bruder, was für ein Geruch1. Etwas stimmt nicht hier. Kannst du es riechen? Ja. KOMM ZURÜCK! SOFORT! Krankheit, sehr gefährlich. Während er zurückgeht, öffnet sich Mulligan ein wenig dem Hintergrundsignal, das von diesem Ort ausgeht. Der Fresser ist hier, gierig und räuberisch, umgibt ihn wie eine Wolke aus purer Freßgier. Unwillkürlich schreit er auf. Ich weiß, kleiner Bruder. Seltsames Wesen, sehr, sehr seltsam. Kein intelligentes Leben. Kein Individuum, ein Geist aus vielen Einzelwesen. Primitiv. Ein Tier? Tier, aber sehr primitiv. Kaum zu verstehen. Er kauert sich neben Nunks, der mit gekreuzten Beinen mitten auf dem Pfad sitzt. Nach einer kleinen Pause meldet er sich wieder. Beginne zu verstehen. Dieses Ding, Zelt, nicht weit vom Krater. Eine Spur führt zurück dorthin. Verwirrung. Ärger. Was ist im Krater? Aus dem Weltall? Kometeneis. Sehr gut1. Ironie. Also, das fremde Wesen, das Zelt woher? Ungläubiges Staunen. Aus einem Kometen? Vor langer Zeit eingefroren? Ein Unfall? Nur eine Vermutung: eine Art Rettungskapsel, vielleicht Kälteschlaf. Sicherer Ort, bis hier zu Boden gebracht, nicht lange her. Aufgetaut. 177 Schock. Alles haben sie überlebt! Das Unglück, das unkontrollierte Auftauchen - dann wird der Insektenmann von Verrückten getötet. Übergroßes Mitleid. Zustimmung. Trauer. Eine Weile sitzen sie schweigend da, tauschen sich aus. Jetzt können sie den hysterischen Aufschrei der Insektenfrau verstehen, ihre mit Wut vermischte hilflose Trauer. Kein Wunder, sagt sich Mulligan, daß sie wieder floh, kaum daß sie mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte: Was konnte sie sich noch von den Bewohnern dieses Planeten versprechen, nachdem mörderische Irre ihren Geliebten oder Mann oder was auch immer getötet hatten. (Mulligan weiß genug über Xenobiologie, um Begriffe wie Liebe und Sex nicht einfach auf andere Spezies zu übertragen, denn auf diesem Gebiet gab es die erstaunlichsten Unterschiede.) Vielleicht dachte sie sogar, daß sein und Nunks' Mitgefühl geheuchelt war, um sie in eine Falle zu locken. Plötzlich erstarrt Nunks, wird mißtrauisch. Sein Aufschrecken überträgt sich auf Mulligan. Alarmiert drängt er das Signal des Fressers beiseite, läßt das unsinnige Geplapper aus dem Rattennest über sich ergehen, filtert geschickt und sucht, bis er jenes neue Element gefunden hat: Das Suchsignal eines anderen Psi-Wesens, das hastig unterdrückt wird. Obwohl es kaum wahrnehmbar war, spürt er die Kälte, die unpersönliche Feindseligkeit wie eine kalte Messerklinge über seinen Rücken gleiten. Kleiner Bruder. Jemand ... ein Spion, ein Spion sucht uns. Nicht die Insektenfrau ? Nein. Der Killer Entsetzen. Vielleicht, vielleicht auch nicht, kleiner Bruder. Einige der Verrückten hier besitzen Psi. Ohne zu wissen. Deshalb verrückt. Oh. Sie warten einige Zeit, suchen das Signal, kombinieren ihre Psi-Kraft, um es zu orten, aber es bleibt unauffindbar. Dagegen haben sie plötzlich wieder Kontakt mit der Insektenfrau, wenn auch fast außerhalb ihrer Reichweite. Mulligan hört sie, nimmt deutlich ihren Kummer wahr. Er ruft sie, zart und behutsam, versucht es mehrmals, legt sein Mitgefühl in das Signal, ruft wieder - sie schweigt. Da fällt ihm etwas ein, taucht mit einem Mal aus der Tiefe seines Unbewußten auf: ein paar Sätze, ein Bruchstück jener Bildung, die man ihm in der Schule zu vermitteln suchte, wo es nicht nur Baseball gab. Einige Zeilen aus einem sehr alten Gedicht, das er hatte auswendig lernen müssen. Er sendet es. Feindlich der Ort, der mich lauern macht, Eins mit der Düsternis rings. Was sonst ist die Hölle als ein Herz aus Eis?* Die Welle von Schmerz, die ihm als Antwort entgegenbrandet, betäubt und überwältigt ihn. Er weint, sitzt schluchzend auf dem staubigen Pferd, doch er spürt, daß er auf diese Weise einigen Kummer von ihr nehmen kann, wie ein Arzt, der einen eiternden Abszeß entleert. Und sie weiß es auch. Einen Augenblick zögert sie, unschlüssig, ob sie sich öffnen soll. Dann hüllt sie sich wieder in ihren Mantel aus Furcht und Wut und flüchtet. Nunks tätschelt ihm die Schulter, bis er schließlich aufhören kann zu weinen. Kleiner Bruder, viele verspotten dich. Kümmere dich nicht darum, du bist in Ordnung. Fast hätte Mulligan wieder geweint, diesmal aus Dankbarkeit, aber er kann sich zusammennehmen. Mit dem Ärmel wischt er sich das Gesicht trocken. Müssen sie finden, meldet sich Nunks. Wenn wir nahe genüg sind, wenn sie uns sieht, dann wird sie verstehen, uns vertrauen. Einverständnis. Aber WIE? Verblüffung. Weitergehen, näherkommen. Einverständnis. Welche Richtung? im Original: In a lurking place I lurk, One with the sullen dark, What's hell but a cold heart? 178 179 Ärger und Verblüffung. Warte\ Selbstironie. Wir werden sie triangulieren. Kleiner Bruder: Wissen wie? Nein. Ich zeige. Sehr nützliche Technik. Du bleibst hier, ich gehe ein Stück. Dann: Wir nehmen Kontakt mit ihr auf. Spüren den Winkel, können Dreieck bilden, Position bestimmen. Ich verstehe! Wie Navigation. Erfreute Zustimmung. Bevor Nunks sich auf den Weg macht, prüfen sie beide sehr sorgfältig, was an Signalen auf sie einströmt; jenes feindselige Bewußtsein, vor dem sie auf der Hut sein müssen, ist nicht mehr wahrzunehmen. Entfernt kann Mulligan die alte Meg hören, wie sie über ihren Karten murmelt, aber das ist das einzige Psi-Signal weit und breit, bis auf dieses allgegenwärtige Freß-Tier. Sehr vorsichtig, um sich mit seinem Fell nicht in den Dornen zu verfangen, folgt Nunks dem Pfad zum Rattennest, wo aller Wahrscheinlichkeit nach die Insektenfrau sich versteckt. Als er außer Sicht ist, packt Mulligan sofort wieder die Angst. Jeder Schatten scheint den Killer zu verbergen, bis an die Zähne mit unheimlichen Waffen gerüstet, und jeder Reflex des Nordlichts auf einem Blatt oder Kieselstein erscheint ihm als Aufblitzen eines Messers. Der Schrei ist so unheimlich, daß es einen Augenblick dauert, bis Mulligan erkennt, daß er von Nunks kommt: Etwas muß ihn so erschreckt haben, daß er laut aufheult, ein physischer Angstschrei, tatsächlich. Mulligan ist schon am Laufen, als das Psi-Signal ihn erreicht: Lauf, kleiner Bruder! Rette dich Aber Mulligan hört noch eine andere, menschliche Stimme. Eine Männerstimme, die jodelt. Der Freudenschrei eines Irren. »Laßt ihn in Ruhe!« Er hat kaum gemerkt, daß er gesprochen hat, er ist schon auf dem Weg zu Nunks. Knirschend und krachend stürmt er aus dem Dickicht und sieht Nunks, der sich vor einen Brocken Plastbeton geduckt hat. Vor ihm haben sich ein Mensch, ein Schwarzer mit unglaublich langem und dichtem Haarschopf, und ein 180 grauhäutiger Lizzie aufgebaut, die Kunststoffrohre schwingen. Und ein dritter Mann, ein Weißer, hat tatsächlich eine Axt in den Händen. Ganz sicher Wilder Mann, alter Veteran und John Hancock, denkt Mulligan. Er hat Angst, und er schmeckt sie sogar, wie irgend etwas Faules in seinem Mund. Langsam richtet Nunks sich auf und streckt eine Hand aus, eine Friedensgeste; gleichzeitig versucht er, so etwas wie Ruhe und Vernunft auf sie zu übertragen. Die Antwort ist nichts als Kreischen und meckerndes Lachen. Der Lizzie stampft auf den Boden, bewegt sich hin und her, ein Kriegstanz vielleicht, und hebt das Rohrende. Die Menschen rücken näher an Nunks heran. Kleiner Bruder, verschwinde hier zum Gleiter! Hol Hilfe im Krater, die Männer dort »He, Ihr Drecksäcke!« Mulligan schwenkt die Arme über dem Kopf, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Hunde-schnauzen-Lizzie! Wurmfresser! He, weißer Blödmann, hast du heute schon 'ne Ratte gefressen? Wilder Mann, Knacks im Hirn, stinkst wie'n Schwein!« Die drei sind herumgefahren, stottern verblüfft, ihre Waffen noch immer erhoben, und starren in dem unsteten bunten Licht nach dem Störenfried. Mulligan spürt, daß Nunks ein ungeheuer starkes Schutzschild ausstrahlt, um ihn zu verbergen. Großer Bruder, wir fliehen zusammen! Beide unmöglich. Unnötig, daß beide sterben. DU gehst, bring Hilfe. Ich komme nach. »Wurmfresser! Wurmfresser!« In seiner entsetzlichen Angst fällt ihm nichts Besseres ein als die Schimpfworte seiner Kindheit. »Weißer Stinker, weißer Stinker!« Der Lizzie stürzt als erster auf ihn zu, er knirscht mit den Zähnen, und mit Geheule folgen ihm seine Freunde. Wild fuchteln sie mit ihren Waffen, fluchen und drohen, ihn in Stücke zu schlagen. Mit einem irren Lachen springt er auf einen Haufen Abfall, macht dann nach der anderen Seite einen Satz und rennt los. Jetzt ist er im Vorteil, der geborene Sportler, dem seine Rundenzeiten mehr bedeuten als jede 181 Religion, gegenüber Feinden, die ihren Atem mit Schimpfen vergeuden. Er zügelt sein Tempo, damit sie nicht aufgeben, während er im Zickzackkurs durch die Ruinenlandschaft jagt. Als ein Rohrende an seinem Kopf vorbeisaust, macht er einen Sprung zur Seite, gerade rechtzeitig, um der nachfolgenden Axt auszuweichen. Voraus erkennt er jetzt die weißen Flanken des eingefallenen Kontrollturms. Er wendet sich nach links, dort ist eine lange, ebene Strecke, wo er leicht den Vorsprung vergrößern kann. Das Fluchen hinter ihm hat schon eine Weile aufgehört und ist einem mühsamen Keuchen gewichen. Er tut, als wollte er zum Spurt ansetzen, bevor er um die Ecke des Turms biegt. Doch schlägt er die Richtung ein, aus der er gekommen ist. Inzwischen muß Nunks schon im Dickicht verschwunden und in Sicherheit sein. Die Luft wird ihm langsam knapp, aber er hat die drei Irren ein gutes Stück hinter sich gelassen. Stolpernd versuchen sie, mitzuhalten. Seine Lunge schmerzt, das Herz klopft wie wild, als er die Landebahn entlangläuft und dann weiter über die grüne, grasbewachsene Ebene, durchzogen von schmalen Bächen, die im Licht der gelben Sonne glitzern. Als er sich umschaut, sind die drei verschwunden. Er kann sich Zeit lassen und verschnaufen. Vor ihm am fernen Horizont liegt eine violett überstrahlte Bergkette; von dort muß dieser Fluß kommen, an dessen Ufer er nun geht. Plötzlich wird ihm klar, daß er nicht mehr weiß, wo er ist. Er sieht sich wieder um, und da ist eine Gestalt in einem langen, fließenden Gewand, nicht weit hinter ihm. Sie beugt sich übe irgendein großes, pelziges Tier. »Äh ... hallo, Miss?« Mit einem freundlichen Winken geht Mulligan zu ihr hinüber. »Entschuldigung, ich hab' mich verlaufen. Können Sie' mir den Weg zurück zum Rattennest, zeigen?« Die Frau schaut auf und wendet sich ihm zu. Es ist das graue Lizzie-Gesicht von alter Veteran. Mit einem Schrei macht Mulligan einen Satz von ihm weg, aber etwas Harte trifft ihn am Hinterkopf, und alles wird schwarz um ihn. 182 Zweites Zwischenspiel Der Gejagte Nachdem er Ibrahim getötet hatte, duschte Tomaso ausgiebig in Sallys Bad. Mit heißem Wasser und obwohl er verschiedene parfümierte Seifen probierte, war der Essiggeruch in dem Augenblick wieder da, in dem er sich abgetrocknet hatte. Danach hatte auch dieses Jucken begonnen, und wo es auftrat, verhärtete sich die Haut auf eine merkwürdige Weise: an den Armen, auf der Brust und in der Genitalregion - praktisch überall, wo seine Haut Sally berührt hatte. Er rieb sich von Kopf bis Fuß mit einer stark duftenden Lotion ein, doch es änderte nicht viel. Sobald er angezogen war, ging das Jucken und Stinken wieder los. Als er das Haus verließ, kamen ihm zwei Lizzies entgegen; einer davon blieb stehen, hob witternd die lange Schnauze und sagte leise etwas zu seinem Artgenossen. Fast wäre Tomaso losgelaufen, aber seine lange Ausbildung war nicht umsonst, er konnte sich beherrschen. Ganz unbekümmert ging er an den beiden vorbei, als hätte er nichts bemerkt. Keine Gasse auf seinem Weg ließ er aus, keinen Umweg verschmähte er, der Verfolger in die Irre führen konnte, bis er die nächste U-Bahnstation erreicht hatte. Er fuhr zwanzig Haltestellen weit nach Norden, stieg aus, nahm den Gegenzug und fuhr wieder sechs Haltestellen zurück. Dann erst bestieg er den Zug nach Osten, in dem er jetzt sitzt. Etwa zu der Zeit, als Bates und Lacey Ibrahims Leiche finden, fährt sein Zug in die zentrale U-Bahnstation des Basars ein. Während ihn die Schwebeplattform nach oben trägt, spürt er, daß er beobachtet wird. Er kann das körperlich fühlen, es ist, als würde das Leuchten einer Taschenlampe direkt in seinen Schädel dringen. Draußen vor der Station erwartet ihn eine überdachte Einkaufspassage, keineswegs elegant, was konnte man hier anderes erwarten als schäbige Läden und 183 Kioske unter den verblaßten Markisen. Einige wenige Leute bummelten durch die Straßen unter ihren Sonnenpelerinen, zu müde, um etwas zu kaufen, zu betrunken, um nach Hause gehen zu wollen. Tomaso verschwindet hinter einem Kiosk, der Kaukraut verkauft, und beobachtet den Ausgang der Station. Ein Paar im weißen Sonnenschutz kommt heraus, zögert ein wenig und entfernt sich dann langsamen Schrittes. Dieser Sonnenschutz, der ihm einmal sehr gelegen kam, treibt ihn noch zum Wahnsinn. Er hat keine Ahnung, wer diese Leute sind, aber er ist sicher, daß sie es waren, die ihn beobachteten, als er auf der transparenten Plattform nach oben getragen wurde. Die Frage ist: warum? Nichts als Neugier, höchstwahrscheinlich, während sie warteten, bis sie an der Reihe waren. Während er wartet, daß sie verschwinden, meldet sich sein Magen, knurrt und windet sich; mit einem Mal ist er hungrig wie ein wildes Tier. Der Gedanke an Essen ist so mächtig, daß der Geruch von billigen Sojaburgern und Lizzie-Chips ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt. Er kauft an einem Kiosk zwei Sojaburger mit Sauerkraut und Senf, schlingt sie hinunter, dann bestellt er eine doppelte Portion Lizzie-Chips, mit viel Essig, um seinen eigenen Geruch zu überdecken. Er ißt die knusprigen Stäbchen aus Proteinflocken und Eierfrucht langsam, während er weitergeht; den Helm der Pelerine hat er abgenommen. Er geht zu dem billigen Hotel, das zweite Hotel, in dem er ein Zimmer genommen und einiges seiner Ausrüstung verstaut hat. Zwar läßt er sich nichts anmerken, aber er ist sich wohl bewußt, daß man ihn anstarrt; kaum einer der Passanten, der nicht aufmerkt und irgend etwas zu flüstern hat. Erst als er in eine Nebenstraße einbiegt, fällt sein Blick auf den Plastikkarton mit dem Essen; fast hätte er laut aufgeschrien: Das wasserfeste Plastik hat sich aufgelöst, da, wo seine Finger es berühren. Er wirft das Ganze in den nächsten Recyclingbehälter, den er findet. Als er wieder gehen will, hört er hinter sich das Rascheln eines Sonnenschutzes 184 und schießt herum. Hinter ihm steht ein kleines Kind, in einer ebenso kleinen Pelerine, über und über schmutzig und zerrissen. Er kann durch die Helmscheibe das Gesicht erkennen: ernste Augen, ein enttäuschter Blick. »Du wolltest das nicht essen?« fragt das Kind. »»Warum? Hättest du es gern gehabt? Tut mir leid, es war verdorben. Du wärst davon krank geworden.« »Ach so. Okay, dann natürlich nicht.« Während Tomaso geht, überlegt er, ob er dem Kind nicht einige Münzen geben soll, aber er fürchtet, daß es sich daran anstecken könnte, was immer für eine Krankheit das auch war. Aber die enttäuschten Augen des hungrigen Kindes gehen ihm nicht aus dem Sinn, bedrängen ihn, bohren sich in sein Innerstes, bis die Erinnerung an die Schreie des kleinen Jungen wieder auftaucht, der mit blutigen Händen an die Tür hämmert. Er dreht sich um, aber das Kind ist verschwunden. Als er sich mit der Hand über die Stirn fährt, fühlt er kalten Schweißperlen. Im Hotel hat er Glück. Die Hintertür ist offen, niemand ist da außer einem Roboter, der Kisten mit Papierservietten auf einen Rollwagen lädt. Er huscht vorbei, gelangt auf die Feuertreppe und erreicht sein Zimmer, ohne daß ihn jemand sieht. Zwar hat er die Codekarte für das Türschloß beim Portier gelassen, als er das Hotel verließ, doch hat er ein Duplikat zur Hand, das er sich verbotenerweise mit einem ebenso verbotenen Maschinchen angefertigt hat; so kann er jederzeit sein Zimmer betreten, ohne sich beim Portier zu melden. Er schließt die Tür hinter sich ab, dreht sich um ... und bemerkt, daß das Zimmer durchsucht worden ist. Fast schon professionell, alles ist wieder an seinem Ort, und auch für eine gleichmäßige dünne Staubschicht über allem wurde gesorgt. Aber er hat ein zerknittertes Stückchen Transparentfolie oben auf seine Reisetasche gelegt, wie ein vergessenes Stückchen Abfall - und nun liegt es auf dem Fußboden. Das haben diese cleveren Amateure übersehen. Er überprüft seine Sachen, nichts fehlt, und ohnehin läßt 185 er nie etwas Verräterisches wie Waffen oder falsche Papiere in seinem Hotelgepäck. Gut möglich, daß die Eindringlinge zu dem Schluß kamen, daß der Gast in diesem Zimmer keineswegs der Mann war, den sie suchten - wenn sie überhaupt nach ihm gesucht haben und nicht nach irgendeinem Dealer, der mit dem Stoff oder dem Geld abgehauen war, oder einem Trickbetrüger, der sich außerhalb seines Reviers zu schaffen machte. Inzwischen ist der Geruch nach Essig in dem kleinen Raum so stark geworden, daß er wieder duschen muß. Als er die Seife abspült, lösen sich auch alle Körperhaare unter dem Wasserstrahl. Er sieht das dicke Büschel im Abfluß und würde am liebsten aufschreien. Wieder zieht er sich um; unauffällige Jeans, ein weites ; Hemd. Das richtige für die Stadt, wenn er sich nach Mulligan umschauen wird, denn er muß die einzige Person, die ihn noch identifizieren könnte, töten - wenn dieser Psi-Amateur überhaupt die Sperre durchdringen kann, die Tomaso in seinem Bewußtsein errichtet hat. Er zweifelt daran, aber er will es nicht darauf ankommen lassen. Dann wird er zum Rattennest zurückehren, um dieses weibliche Alien zu erledigen, und seine Arbeit hier war getan. Er überlegt, ob er seine drei zahmen Irren auf die Fremde hetzen kann - er könnte ihnen sagen, sie sei die Frau des Teufels ,aber sicherer wäre es, wenn er die Sache selber zu Ende brächte. Gerade hat er die Stiefel angezogen und das Messer in die Scheide geschoben, innen im Schaft des linken Stiefels, als es an die Tür klopft. »Mister Svensen«, ruft es laut, das ist? der Name, unter dem er sich eingetragen hat. Ohne jedes Geräusch steht Tomaso auf, stellt sich hinter die Tür, zieht den linken Fuß kurz an und holt das Messer hervor, während es zum zweiten Mal klopft. Einen Augenblick bleibt es still, dann hört man, wie eine Codekarte in das Schloß gesteckt wird. Tomaso wartet, wie zu Stein geworden, bis die Tür aufschwingt und ein junger Schwarzer wie selbstverständlich hereinspaziert, gefolgt von einem Putzroboter. 186 Von hinten schiebt sich Tomaso heran, reißt ihn mit dem rechten Arm an sich und durchschneidet mit der linken die Kehle, von rechts nach links. Der Mann fällt zu Boden, und der Roboter rollt eifrig herbei, um sich ans Aufwischen zu machen. Tomaso drückt den Ausschaltknopf. Einen winzigen Augenblick lang drängt es ihn, die Hände in das Blut des Mannes zu tauchen und sich damit zu beschmieren. Der Zwang ist so stark, der Gedanke so abstoßend, daß er zu würgen beginnt. Rasch dreht er sich um, um die Leiche nicht mehr ansehen zu müssen. Er steht da, atmet schwer, der Herzschlag dröhnt in seinen Ohren, und nun empfängt er wieder dieses Signal: Der Fresser ist es, der das Blut möchte. Nicht nur darin suhlen will sich das unersättliche Wesen, es scheint auch zu glauben, daß das Blut ihm zusteht, daß Tomaso es ihm böswillig vorenthalten möchte. Die Sojaburger und Lizziechips, die er auf dem Weg hierher gegessen hat, drohen wieder ans Tageslicht zu kommen. Er atmet tief, ganz ruhig, zwingt sich, an nichts sonst als das friedliche Bild des Nachthimmels über Arden, seinem Heimatplaneten, zu denken. Der Magen beruhigt sich wieder. Er hat sich nun in der Gewalt, aber er muß dieses Zimmer schnell verlassen. In dem kleinen Spiegel über der Kommode überprüft er sorgfältig seine Kleidung: nur ein kleiner Blutspritzer am linken Hosenaufschlag. Unter dem Sonnenschutz wird es nicht zu sehen sein. Als Linkshänder ist man in seinem Gewerbe im Vorteil; und wenn er von hinten zuschlägt, dann ergibt das für die Polizei ein völlig falsches Bild vom Tathergang. Und wenn sie genug irrigen Annahmen über den Täter nachgehen muß, dann kann sie nur langsam zum Ziel kommen, zu langsam und zu spät. Er wischt das Messer am Bettüberwurf sauber, nimmt die Sonnenpelerine, vergewissert sich, daß die Laserpistole in dem versteckten Halfter ist, und geht. Das Gepäck läßt er zurück, er wird nicht wiederkommen. Er hat noch einiges an Kleidung in einem Schließfach am Hauptbahnhof, wo die Schwebezüge abfahren, zusam- 187 men mit einem zerlegten Lasergewehr, das als Holofilmausrüstung getarnt ist. Und auch genug Geld, um sich neu einkleiden zu können, wenn es nötig sein sollte. Doch als er die fast menschenleeren Gehwege entlangeilt, wird ihm allmählich bewußt, daß es zu gefährlich ist, in einen Laden zu treten und einen Verkäufer anzusprechen. Zwar ertappt er niemanden dabei, aber nicht nur seine Psi-Wahrnehmungen, auch sein gesunder Menschenverstand sagen ihm, daß jedermann ihn heimlich anstarrt, wo immer er geht: aus dem einfachen Grund, daß die Morgenhitze ihn stinken läßt wie ein ganzes Faß verdorbenen Essigs. Das Verjüngungsmittel hält den >Bürgermeister< von Porttown im Körper eines Zwanzigjährigen gefangen ein gutaussehender Zwanzigjähriger, trotz der weißen Haut, mit blondem Haar und blauen Augen, die so unschuldig blicken wie die eines jungen Tiers. Er ist auch sehr schlank und beweglich wie ein Junge. Mit übergeschlagenen Beinen sitzt er auf einem riesigen blaßblauen Diwan zwischen Stapeln von grauen und violetten Seidenkissen. Alles in diesem >Amtszimmer<, das Büro seiner Suite über dem Bordell, dessen Besitzer er ist, zeugt von seinem Geschmack - davon, daß Geld wirklich keine Rolle spielt. Ölbilder, die von der guten alten« Erde stammten (ein Matisse, unter anderem, dazu der letzte erhaltene Frank Stella in Privatbesitz), blaue und grüne Teppiche vom Heimatplaneten der Carli aus der Zeit, bevor sie überhaupt Raumfahrt betrieben. Er hat darauf bestanden, Lacey in ein Glas aus geschliffenem Bleikristall einen Brandy einzugießen, und hält selbst ein Glas in der Hand. Sein Lächeln ist eine seltsame Mischung aus Stolz und Trotzigkeit, als wolle er sie dazu herausfordern, eine Bemerkung zu seinem Reichtum oder der Art und Weise, wie er erworben wurde, zu machen. Sie kennt dieses Spiel inzwischen gut genug, sie nimmt einen kräftigen Schluck, als wäre es einfaches Bier: Es funktioniert, er bricht das Schweigen als erster. »Wieviel haben meine Wachen dir abgeknöpft, um dich vorzulassen?« . »Ach, vielleicht hundert Gramm Sarah-Haschisch, ein wenig hier, ein bißchen dort.« »Willst du es wiederhaben?« »Nein. Ein guter Witz: Ich hab's von der Polizei, ganz umsonst; hab' ihnen gesagt, ich brauchte es, um Informanten zu bezahlen.« Ein unglaubliches Lächeln, so bemessen, daß sich die 188 189 Haut um die Augen haargenau in die richtigen Fältchen legt. Ein Lächeln, so daß man sich leicht vorstellen kann, wie reihe alte Männer ihm Bündel von Scheinen in den Schoß werfen, damit er nicht aufhört. »Also gut«, sagt er. »Ich habe schon gehört, daß du neuerdings für die Polizei arbeitest.« »Mit der Polizei, mein Bester, nicht für sie, vergiß das bloß nicht.« »Ach so? Dann muß hier wirklich etwas am Kochen sein.« »Sag mir, Richie, was hältst du davon, wenn Porttown unter Kriegsrecht gestellt wird, an jeder Ecke Soldaten herumstehen und ein Aufklärungssatellit im Orbit alles aufnimmt bis hin zum Rauschen der Klospülung?« Die Augen des Jungen weiten sich, die weichen Lippen schürzen sich zu einem »Oh«. »Spar dir deine Ironie«, schimpft Lacey. »Glaubst du, daß ich dir was vormache?« Richie nimmt einen Schluck. Lacey tut es ihm nach und I wartet. Wenn sie wartet, kann sie ihn immer aus seiner Reserve locken. Aber es tut weh, ihn so anschauen zu müssen, so jung, wie er zu sein scheint, denn das erinnert sie an eine Zeit, als er noch jünger war, neun Jahre genau ... das Kind, das sich bemüht, nicht zu weinen, und doch kommen ihm die Tränen, als sie an Bord des Flottenschiffes geht. Bald komme ich wieder, Richie<, ein leeres Versprechen, denn natürlich gab es wenig später den nächsten Krieg, um Übergriffe an den Grenzen der Republik abzuwehren. Und es dauerte fünf lange Jahre, bis sie den jüngeren Bruder wiedersah, ihren kleinen Bruder, der er immer noch für sie ist. Noch heute fragt sie sich, nach all den Jahren, ob sein Leben vielleicht ganz anders verlaufen wäre, wenn sie zu Hause geblieben wäre, anstatt zur Flotte zu gehen, denn sie war immer die einzige in der Familie gewesen, die mit ihm umgehen konnte, der er Vertrauen und Respekt entgegenbrachte. Das Versagen des Vaters, seine mangelnde Fürsorge, sein schlechtes Vorbild als ewig schäbiger Ganove, das hatte ihr 190 Selbstbewußtsein tief verletzt; es konnte nicht anders sein, als daß es den einzigen Sohn noch viel härter treffen mußte. Vielleicht hätte sie das damals erkennen müssen, aber schließlich war sie erst siebzehn - und immer noch nur zweiundzwanzig, als sie zurückkehrte, um ihn schließlich in der hintersten Ecke des Basars zu finden, wo er sich prostituierte. Das junge, ungezähmte Tier ohne Moral, dessen unschuldige Augen sie nun anstarren. »Okay«, sagt er schließlich. »Und sagst du auch, warum die Regierung das Kriegsrecht verhängen will?« »Eine lange Geschichte. Hast du gehört, was mit Sally Pharis passiert ist?« Ein lässiges Achselzucken als Antwort, aber die unruhigen Augenlider sind verräterisch. Er ist neugierig. »Du willst mir doch nicht erzählen wollen, daß eine Sado-Nutte draufgegangen ist und so etwas von Bedeutung wäre? Kommt immer wieder vor. Wo gehobelt wird, da fallen Späne ...« Eine wohlkalkulierte Pause. »Wird in der Regel gutbezahlt, tatsächlich.« »Ja, hat Sally auch immer gesagt.« Sie versucht es ebenfalls mit einer Pause. »Sie starb nicht daran, daß ein Freier sich etwas über die Maßen erregte.« »Ja? Woran denn?« »Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber es scheint fast, als hätten wir hier einen Profi unter uns, ein Killer, der für die Allianz arbeitet. Er hat einen Carli namens Ka Gren getötet. Hast du die Nachrichten gehört?« »Sicher.« Die Maske hält nicht stand, Richie beugt sich ein wenig vor. »Und Sally war zur falschen Zeit am falschen Ort, nicht wahr?« »Ja, hat ihn unmittelbar danach gesehen. Little Joe Walker hat der Polizei gesagt, daß sie ziemlich nah am Tatort war.« »Tatort. Du redest schon wie die Polizei.« »Paß auf, was du sagst.« »Und du wirst mir eine kleben, wenn ich's nicht tue? Wie gewohnt? Das würdest du tun ... mit oder ohne Leibwäch- 191 ter.« Sein Blick streift die Tür zum Flur. »Sie würden niemals wagen, dich anzurühren.« »Danke.« Dieses Mal ist das Lächeln echt, mit einem Hauch von Melancholie. »So weit, so gut, Bobbie. Dieser Kerl hat Sally umgelegt, um sie zum Schweigen zu bringen. Was hat das mit mir zu tun?« »Er versteckt sich wahrscheinlich im Basar. Bates muß ihn innerhalb drei Tagen finden, sonst wird die Armee hier landen. Hast du vor, dich mit ihnen anzulegen, nur um die Haut eines Dreckskerls zu retten?« Richie lächelte, voll feiner Ironie, dann schaut er beiseite und schüttelt den Kopf. Der Gedanke amüsiert ihn. »Nein«, sagt er schließlich. »Du hast es geschafft, gut. Also, was soll ich tun? Dir den Kopf dieses Kerls auf einem Tablett servieren?« »Nein, lebend und in einem Stück. Bates hat ein paar Fragen an ihn, beispielsweise, wer ihn bezahlt. Also, ich weiß nicht viel über ihn. Er ist ein Weißer, und er hat eine verrückte Infektion an den Händen. Er muß nach Essig stinken, verdorbenem Essig. Daran mußt du dich halten: der Geruch. Und er ist sehr gefährlich. Wenn ich recht vermute, ist er nicht nur ein professioneller Killer, sondern auch ein Para. »Ach du Scheiße, wenn's weiter nichts ist!« »Vielleicht hättest du doch lieber die Armee hier? Da sie fragen, woher du dein Geld hast, und dein Geschäft ruinieren? Wofür bezahlst du eigentlich deine Gorillas, he!< »Da hast du nicht ganz unrecht. Aber ich denke, ich sollte ein Kopfgeld aussetzen auf den Kerl. Das wird auf einen Schlag eine Menge Leute auf ihn ansetzen, es wird schneller ...« An Laceys Gürtel piept das Terminal. Mit einem entschuldigenden Nicken zu Richie nimmt sie es zur Hand und tippt einige Tasten. »Programmiererin?« Buddys Stimme klingt mit eine 192 Mal so menschlich, so besorgt, daß sie eine ernste Störung befürchtet. »Wir haben hier ein höchst unerfreuliches Problem.« »Was, zum Teufel, druckst du da herum! Beginne mit der Datenübermittlung.« »Vor einigen Stunden haben Nunks und Mulligan deinen Gleiter genommen und sind zum Rattennest gefahren. Jetzt hat Maria mich informiert, daß sie in großen Schwierigkeiten sind.« »Wie? Woher weiß sie das? Fang von vorn an, Buddy, und gib mir ein paar mehr Einzelheiten.« »Maria ist ein latentes Psi-Talent. Nunks hat sich bei ihr gemeldet, sie sprach von großer Gefahr und Verzweiflung. Die größte Gefahr droht Mulligan. Was den Gleiter betrifft, so weiß ich nicht, in welchem Zustand er sich befindet, aber ...« »Zur Hölle mit dem Gleiter! Warte, das ist nicht wörtlich gemeint. Ich meine, der Gleiter ist jetzt unwichtig. Warum sind Mulligan und Nunks zum Rattennest gefahren?« »Sie wollen ein Intelligenzwesen, das sie >Insektenfrau< nennen, retten. Captain Bailey hat mich informiert, daß sie sich in Gefahr zu befinden scheint. Es war übrigens der Captain, der darauf bestand, daß ich dich angerufen habe.« Buddy hört sich nun tatsächlich beleidigt an. »Er drohte, meine Magnetspeicher zu löschen, wenn ich es nicht tue.« »Recht hat er. Warum hast du sie alleine gehen lassen? Haben sie wenigstens eine Waffe?« »Sie sind unbewaffnet, soweit ich weiß, Programmiererin. Ich konnte sie nicht aufhalten. Nunks kann mit seinen Psi-Kräften jedes Schloß inaktivieren, das ich kontrolliere.« »Nun, das stimmt. Aber, Himmel noch mal, Buddy warum hast du mich nicht früher alarmiert?« Durch das Rauschen kann sie Sams Stimme hören. »Ich habe einen Fehler gemacht, Programmiererin«, sagt Buddy. »Ich habe versagt. Ich bin untröstlich. Voll Scham 193 werfe ich mich dir zu Füßen. Ich könnte meine Chips zerraufen und auf meine Datenspeicher spucken, ich ...« »Das reicht! Sag Sam, daß ich auf dem Weg bin. Wenn diese Geschichte erledigt ist, werden wir einmal alle deine Treiberprogramme überprüfen.« Lacey schaltet aus. Sie bemerkt, daß Richie sie besorgt anschaut. Mit so viel Sorge jedenfalls, wie er bereit ist, sich anmerken zu lassen. »Wie willst du zum Rattennest kommen, wenn sich dieser Mulligan deinen Gleiter genommen hat?« »Ich miete einen, denke ich.« »Das dauert zu lange. Du kriegst einen von mir.« »Tausend Dank. Du bist wirklich ein Schatz.« »Für dich doch immer.« Er sagt es leichthin, doch kann man einen schmerzlichen Unterton ahnen. Und wie drängend die Probleme auch sind, die auf sie warten - diesen kostbaren Augenblick eines echten Gefühls, den ersten seit ihrem Ausscheiden aus dem Militärdienst, wird sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. »Ach, Richie! Kannst du dir vorstellen, wie schwer es mir fiel, mich von dir zu trennen? Aber die Flotte war meine einzige Chance, und ich mußte ganz unten beginnen. Ich konnte dich nicht mitnehmen, wie man es Offizieren mit Kindern gestattet. Ich hätte es getan, wenn es möglich gewesen wäre.« Er wendet sich so brüsk ab, daß sie befürchtet, er würde in Tränen ausbrechen. »Ich weiß«, sagt er flüsternd. »Ach, zum Teufel, das ist so beschissen lange her, was soll's.« Er greift zu der Kristallrosette, die neben ihm auf dem Diwan liegt, ein gut getarntes Telefon. »Hai, laß den taubengrauen Bentley fertig machen und bring ihn vors Haus. Meine Schwester braucht ihn für einige Zeit.« Noch nie hat Lacey einen Gleiter wie diesen Bentley gefahren. Eine elegante Karosse, glänzend wie ein Stück Butter, 194 und innen purer Luxus - Polster aus blauem Sheriki-Leder, ein Armaturenbrett aus echtem Holz. Er schwebt so leise dahin, daß sie das Limit längst überschritten hat, bevor ihr die Geschwindigkeit überhaupt bewußt wird. Als sie bei A-bis-Z-Unternehmungen vorfahrt, gaffen die wenigen Leute, die im ersten Zodiakallicht unterwegs sind, mit offenem Mund. Bevor sie ins Haus geht, prüft sie noch einmal, ob die Alarmanlage eingeschaltet ist. Hinter der Tür wartet schon Sam auf sie. Kaum ist sie drinnen, kommen schon Rick und Maria die Treppe heraufgelaufen, um sich ihnen anzuschließen. »Lacey, du mußt etwas wegen dieses gottverdammten Computers unternehmen«, platzt es aus Sam heraus. »Vier, fünf Minuten mußte ich mit dieser blöden Kiste streiten, bis er sich bequemte, dich anzurufen!« »Ist nur eine kleine Störung. Hat Maria noch etwas von Mulligan oder Nunks eingefangen?« »Nunks ist außer sich, er glaubt, daß Mulligan verletzt ist. Es ist nicht ganz klar; Maria kann nur Gefühle empfangen.« »Cojones de diablo! Okay, hast du einen Laser?« »Aber sicher.« »Gut. Mit Rick macht das drei. Nein, Moment mal. Wir müssen ihn hier bei Maria lassen.« »Ich komme mit Ihnen.« Den Kopf hocherhoben, geht Maria durch den Garten auf sie zu. »Ich kann Sie direkt zu Nunks führen. Ohne mich können Sie ihn nicht finden.« »Bist du sicher, daß du mitkommen willst? Die Sache ist nicht ungefährlich.« »Sie und Nunks, Sie haben mich hier aufgenommen, haben einen Arzt für mich geholt. Es ist nur fair, daß ich mitkomme.« Weil Lacey sieht, daß Sam danach giert, den Bentley zu fahren, gibt sie ihm die Schlüssel und setzt sich auf den Beifahrersitz. Maria und Rick schieben sich auf die Rücksitze, ihre Augen leuchten fast ehrfürchtig. Mit höchster Konzentration, als ginge es darum, einen Raumtransporter in den 195 Orbit zu bringen, startet Sam den Gleiter und läßt ihn abheben. Langsam und gleichmäßig steigt er auf. Lacey hat sich in den Sitz sinken lassen und fragt sich, was mit ihr los ist: Ihr Magen rebelliert, sie atmet schnell und flach. Dann wird ihr klar, daß sie Angst hat nicht um sich selbst, sondern um Mulligan. Ihr ist ganz einfach schlecht vor Angst, während Sams Worte nun allmählich auf sie einwirken: >Nunks ist außer sich, er glaubt, daß Mulligan verletzt ist .. .< Ach du lieber Himmel, nun sag mir bloß noch einer, daß ich verliebt bin in diesen Mistkerl Was für ein verrückter Gedanke, aber immerhin muß sie sich eingestehen, daß sie keineswegs aus Sorge um Nunks in kalten Schweiß ausgebrochen ist. Als Mulligan wieder zu Bewußtsein kommt, scheint die Welt nur noch aus seinem Kopf zu bestehen; und alles, was es in diesem Kopf noch gibt, ist Schmerz. Ungeheurer, bohrender, vernichtender Schmerz. Nein, da ist noch etwas: Ein Geruch hängt in der Luft, eine undefinierbare, schwer erträgliche Mischung - ungewaschene Menschen, ungewaschene Lizzies, Abfall, Kochdunst, und außerdem ein süßlich-bitterer Hauch, den er schließlich denn wozu hat man jüngere Geschwister gehabt - als den Geruch schmutziger Windeln identifizieren kann. Er möchte sich bewegen und stellt fest, daß Arme und Beine gefesselt sind. Dann öffnet er die Augen und entdeckt, daß er auf einem Bündel schmutziger Decken liegt, das Gesicht einer grauen Plastbetonwand zugekehrt. Den tanzenden Schatten auf der Wand nach zu schließen, brennt irgendwo hinter seinem Rücken ein Feuer. Lange bleibt er ruhig liegen und überlegt, wie er hierhergekommen ist. Aber der Schlag auf den Kopf scheint ihm jedes vernünftige Denken ausgetrieben zu haben. Zwar erinnert er sich an die drei aus dem Rattennest, die Nunks bedrohen, auch daran, daß er sie von ihm weglockte. Doch seine Erinnerung endet mit jenem Augenblick, als er den eingestürzten weißen Turm umrundete. Natürlich liegt es nahe, daß sie ihn geschnappt haben. Unter Ächzen und Fluchen gelingt es ihm, sich herumzurollen. Auch in seinem Kopf beginnt es sich zu drehen; schließlich kann er wieder klar sehen und erkennt, daß er in einem großen, runden Raum ist, vielleicht achtzehn Meter im Durchmesser, der angefüllt ist mit Stapeln wackliger Kisten und undefinierbaren Bündeln, die in Säcke und Lumpen gehüllt übereinander liegen. Genau gegenüber ist eine Schiebetür in der Wand; etwa neunzig Grad seitlich davon sieht man eine große Öffnung, wie die Mündung eines Tunnels. Nicht weit davon brennt ein kleines Feuer aus Dornenbaumzweigen. Der Rauch zieht in kleinen Wirbeln gleichmäßig in das Loch. Mulligan vermutet, daß es eine Verbindung nach draußen gibt. Bei der Feuerstelle sitzt eine junge Schwarze und säugt ein Baby; sie trägt schmuddelige braune Shorts und zwei zerlumpte Blusen übereinander. Sie schaut in Mulligans Richtung, doch geht ihr Blick an ihm vorbei wie in eine andere Welt. Mulligan glaubt sie zu kennen. »Du bist Del, und dein Baby hat keinen Namen.« »Woher weißt du das, Weißer?« Es hört sich ärgerlich und ängstlich zugleich an. »Ich weiß vieles.« Sie mustert ihn eine Weile, die glänzenden schwarzen Augen tasten ihn fahrig ab. Ganz unvermittelt verliert sie das Interesse und läßt von ihm ab. Das Kind an ihrer Brust, vielleicht sechs Monate alt, wird unruhig und windet sich. Abwesend legt sie es an die andere Brust und tätschelt ihm den Rücken, ohne den Blick von der Wand zu nehmen: Hin und wieder bewegen sich ihre Pupillen, scheinen etwas zu verfolgen, was sich dort abspielt. Manchmal bringt es sie zum Lächeln, dann wieder runzelt sie die Stirn. Mulligan beschließt, sie in Ruhe zu lassen. Doch als er versucht, seine Hände aus der Fesselschlinge um die Gelenke zu winden, dreht sie den Kopf und starrt ihn an. »Wirst du das bleiben lassen, Weißer. Der alte John wird in einer Minute hier sein. Wenn er merkt, daß du zu fliehen versuchst, wird er böse. Die anderen wollten dich töten, er hat es ihnen verboten. Aber wenn er böse wird, dann ändert er vielleicht seine Meinung.« »Okay, ich werde ganz brav sein.« Er blieb bewegungslos liegen, und immerhin muß er zugeben, daß sein Kopf so viel weniger schmerzt. »Warum wollte John nicht, daß sie mich umbringen?« »Er will dich verkaufen.« »Verkaufen? An wen?« »Gott.« Am einfachsten wäre es natürlich, wenn er sich sagte, daß sie phantasierte. Aber sie hat es gesagt, >Gott<. Das Baby ist nun eingeschlafen. Sehr zärtlich legt sie es in die Wiege, eine Schaumstoffkiste, und deckt es mit einigen sauberen Tüchern zu. Sie streckt sich, gähnt und geht hinüber zu einer Tonne zwischen den Gerümpelbergen; sie schöpft Wasser in eine Tasse mit zerbrochenem Henkel. »Sag, Del, kann ich etwas Wasser haben?« »Warum nicht.« Sie bringt ihm die Tasse und hält sie ihm an die Lippen. Gierig schlürft er sie leer. Doch hält sie sie mit gestrecktem Arm, sie mißtraut ihm. »Danke. Ach, sag mal - warum will Gott mich denn kaufen?« »Keine Ahnung. John hat es mir nicht gesagt. Alles was er gesagt hat, nicht nur mir, sondern auch dem Wilden Mann und alter Veteran, ist, daß Gott ihn vielleicht mit Whisky bezahlen wird, wie das letzte Mal.« »Das letzte Mal?« Mulligan ahnt etwas und versucht es mit einer List. »Wie neulich, als sie den Teufel getötet haben, meinst du.« »Ja, genau. Aber Weißer, du weißt wirklich eine Menge.« »Darauf kannst du wetten. Und damit du's weißt: Ich bin ein Freund von Dr. Carol.« »Oh.« Es klingt bekümmert. »Das ist schade. Das ist wirk- 198 lieh schade. Dr. Carol ist immer sehr gut zu mir und meinem Baby.« »Ich weiß. Sag, ich glaub' nicht, daß du mich gehen lassen kannst, oder? Um Dr. Carol einen Gefallen zu tun?« Sie überlegt. Mit den nackten Zehen scharrt sie auf dem Boden. »Nein«, sagt sie dann. »Besser, Dr. Carol ist mir böse, als Gott.« »Ach so.« Insgeheim fragt sich Mulligan, ob das nicht eine recht leichtfertige Entscheidung war. »Aber sag mal, bist du wirklich sicher, daß das Gott ist, der mich kaufen will?« »John sagt es. John hört ihn, Gottes Stimme spricht in seinem Kopf. Es muß Gott sein, wenn man seine Stimme mitten im Kopf hören kann.« »Ja, wahrscheinlich schon.« Sie lächelt, sie nickt zufrieden. Dann geht sie wieder zum Wasserfaß, während Mulligan über diese interessanten Neuigkeiten nachdenkt. Es muß sich bei John um einen dieser unerkannten Paras handeln, von denen Nunks gesprochen hat, und der Assassine konnte ihn telepathisch lenken. Für jemanden, der von Psi nichts verstand, mußte eine Stimme, die sich plötzlich in seinem Kopf zu Wort meldete, Gottes Stimme sein. Also hat Lacey recht mit ihrer Theorie vom psi-begabten Killer. Was für schöne Aussichten, fast wird ihm schlecht vor Furcht. Das Wasser hat ihm gutgetan. Die Kopfschmerzen haben so weit nachgelassen, daß er versuchen kann, mit Nunks Kontakt aufzunehmen. Er holt tief Luft, um sich besser zu konzentrieren, dann streckt er seine Fühler aus nur, um hart gegen eine Barriere zu stoßen. Ein Gefühl nicht anders als der physische Schmerz, nachdem man barfuß im dunklen Zimmer mit der Zehe gegen ein Möbelstück gerannt ist. Als hätte er nicht genug Kopfschmerzen; es ist so schlimm, daß er fast in Ohnmacht fällt. Laut stöhnt er auf, und Del dreht sich um. Ungerührt mustert sie ihn. »Noch Wasser?« »Ja, gern. Ich danke dir.« 199 Als sie ihm die dritte Tasse reicht, gleitet die Schiebetür auf, und die drei, die ihn gefahren haben, kommen herein. Durchdringend riecht es jetzt nach altem Schweiß und Lizzie-Ausdünstungen. John Hancock, der Weiße, ist der größte von ihnen; ein Bär von einem Mann mit filzigem, rotem Haar. Aber wilder Mann ist mit ein Meter achtzig nicht viel kleiner, und alter Veteran ist ebenfalls kein Zwerg. Mit Gewalt wird MuUigan es nicht versuchen, ganz sicher nicht. »Ist er aufgewacht?« fragt John Del. »Ja, hab' ihm Wasser gegeben. War das richtig?« »Ja. Er muß am Leben bleiben, bis wir ihn Gott gebracht haben.« »Gott wird ihn kaufen, ja?« »Weiß ich nicht! Hab' nicht gefragt. Muß erst zum Tempel gehen. Ich werde heute abend gehen, gegen Sonnenuntergang. Also müssen wir ihm auch Essen geben.« »Gut. Da hast du wohl recht.« »Klar. Habe die letzte Flasche Whisky beim Wächter eingetauscht. Sicher wird Gott uns mehr geben.« Mulligan wundert sich über den merkwürdigen Korb, den wilder Mann und alter Veteran tragen; mehr eine Kiste aus dünnem Kunststoff, mit transparenten Trageschlaufen an den Seiten. Mehrfach ist dieses rätselhafte Wort NASA aufgedruckt. Ihm wird jetzt klar, daß die nie enden wollenden Gerüchte, daß unter dem Rattennest noch das Hauptquartier der alten Kolonie existiere, zutreffend sind, und daß er sich in einem Teil dieses Komplexes befindet. Einige der Slumbewohner mußten über das Vorratslager gestolpert sein, in dem Tausende von Rationen der alten Raumfahrer lagerten - gefriergetrocknet, bestrahlt und vakuumverpackt, haltbar für die halbe Ewigkeit. So konnten sie also die magere Jagdbeute, die Ernte aus den kleinen Gärten, von denen Carol gesprochen hatte, aufbessern. John kommt herüber zu Mulligan. Wie ein Baum ragt er neben ihm auf und gibt ihm ganz beiläufig einen nicht besonders böse gemeinten Tritt. »Sei schön brav, Weißer, oder Gott wird dir die Leber eigenhändig aus dem Leib reißen.« »Ja, Sir, sicher. Ganz wie Sie meinen.« Mit einem zufriedenen Nicken entfernt John sich wieder. Er kniet vor die Kiste, um alter Veteran beim Öffnen zu helfen. Nun sind sie alle hier versammelt, und Mulligan erkennt sie wieder. Es sind die, die er gestern im Traum gesehen hat, die Gestalten, die ihn töten wollten. Vermutlich hat er etwas von dem Mord am Insektenmann aufgefangen, so wie er das sonst bei seiner Arbeit für die Polizei zu tun pflegt. Er schüttelt sich bei dem Gedanken. Ob es ratsam ist, diesen John Hancock einmal anzuzapfen? Mulligan versucht alle Energie, die ihm noch geblieben ist, zu bündeln und tastet vorsichtig, ganz behutsam nach dem Geist dieses Mannes. Nichts. Nicht ein Hinweis auf eine winzige telepathische Antenne. Sein Magen krampft, als er die beiden einzigen möglichen Schlüsse daraus zieht: Entweder hat tatsächlich Gott zu John Hancock gesprochen, oder dieser Assassine besitzt die unglaubliche Fähigkeit, mit Wesen ohne Psi-Kräfte Kontakt aufzunehmen. Bei einer Wette würde er auf das letztere setzen, auch wenn diese Aussicht noch weit erschreckender als die erste Möglichkeit ist. Sollte die Allianz bei der Nutzung paranormaler Fähigkeiten tatsächlich so weit fortgeschritten sein, dann konnten sie ihre Feinde dazu bringen, nichts anderes mehr zu wollen, als zu ihnen überzulaufen. Und dabei würden sie noch denken, es wäre ihr eigener Entschluß. Mulligan schwört feierlich, daß er, wie aussichtslos es auch scheint, so lange am Leben bleiben wird, bis er diese Neuigkeit an Nunks übermittelt hat koste es, was es wolle. Nunks' Spezies kennt das Weinen nicht, doch gibt es auch bei ihr eine Verhaltensweise, mit der man Kummer äußern kann: Es ist ein immerzu wiederholtes Fäusteballen, das ihnen nicht weniger Erleichterung bringt als einem Men- 200 201 sehen das Weinen. Als Nunks wieder beim Gleiter angekommen ist, setzt er sich in den Staub und tut genau das. Wie weit er auch seinen Geist aussendet, wie stark er seine Energie bündelt, um kleine Bereiche abzutasten - er kann Mulligan nicht finden. Er ist untröstlich, und außerdem fühlt er sich schuldig. Er hat ihn doch hierhergeschleppt, er hat zugelassen, daß sie Sam Bailey nicht mitgenommen haben. Und er wollte nicht, daß Mulligan eine Waffe trug. Er überlegt, ob er die Arbeiter im Krater um Hilfe bitten soll, aber er ist ohne ein Psi-Talent, das für ihn spricht, vollkommen hilflos. Und außerdem hat Mulligan die Schlüssel des Gleiters in der Tasche. Dann wird ihm bewußt, daß er zu keiner Zeit etwas von Mulligans Tod gespürt hat. Sie sind eng genug verbunden, da ist er sicher, um den Tod des anderen unmittelbar zu spüren: diesen an den Rand des Irrsinns treibenden Schmerz, der mit der Auflösung des so vertrauten Bewußtseins verbunden ist. Er steht auf/hört sich um, öffnet seinen Geist; er ist allein, nichts bewegt sich im Gestrüpp ringsum, nicht einmal ein Tier, ganz zu schweigen von einem Psi-Wesen. Über ihm flackern die Nordlichter schon viel blasser, der Himmel färbt sich allmählich schmutzig-rosa; es beginnt zu dämmern. Nunks geht zurück in den Schutz der Baumgruppe und setzt sich wieder. Er wird jeden Zentimeter des Rattennestes abtasten, bis er ein Psi-Signal von Mulligan findet. Wenn er seine Energie fokussiert und nur wenige Quadratmer auf einmal abtastet, kann er auch noch sehr schwache Signale wahrnehmen. Aber wie sehr er sich auch konzentriert, er kann nichts empfangen - und schon gar nicht die Turbulenzen, die ein gewaltsamer Tod auslösen würde. Es gibt viele Bewohner des Basars, Menschen und andere Spezies, die dem Bürgermeister von Porttown gern einen Gefallen tun, doch ist die Aussicht auf eine Belohnung nicht gerade hinderlich, um auch den Eifer der übrigen anzusta- 202 cheln. Die Neuigkeit macht in Windeseile die Runde: Richie läßt sich diesen Fremden etwas kosten, angefangen bei zehn Dollar für den Hinweis, wann und wo man ihn gesehen hat, bis hin zu zehntausend für den Kerl selber. Für zehn Dollar konnte man ins feinste Restaurant von Polar City essen gehen, warum sollte man da nicht sein Gedächtnis ein bißchen anstrengen. Und daß es Richie ernst meint, kann man daran sehen, daß er seinen Leibwächtern ganz offensichtlich verboten hat, den Informanten, die vorsprechen wollen, ein Schmiergeld abzuknöpfen. Zur selben Zeit, als Sam den Bentley über die Stadtgrenzen hinaus zum Krater fährt, kommt ein älterer Lizzie, der am Rand des Basars ein Drugstore betreibt, zu Richie. Er ist der erste, der einen handfesten Hinweis geben kann. Die Wachen führen ihn ohne Umstände ins Büro, ohne auch nur einen Schein aus ihm herauszupressen, und Richie behandelt ihn wie ein gerngesehenen Gast: lädt ihn ein, sich auf ein niedriges Kissen zu setzen, wie es Lizzies mögen, und bietet ihm auf einem silbernen Tablett Sandwürmer in Schokolade an. Richie gefällt sich darin, seine Besucher mit ausgesuchter Höflichkeit zu behandeln - nicht ohne Selbstironie. Denn er, der ein halbes Leben lang sich nach Kräften bemüht hatte, Kunden zufriedenzustellen, konnte heute jeden, der ihn auch nur ein wenig ärgerte, in seinem Blut schwimmen lassen. »Es war heute abend, Sir, gerade bei Sonnenuntergang, ich wollte eben den Laden aufmachen, da stand dieser Weiße vor der Tür. >Es ist dringend, kann ich nicht reinkommen<, sagt er, und ich sage, warum denn, ich würde in zehn Minuten sowieso aufmachen. >Haben Sie doch ein Herz<, sagt er, >ich komme sonst zu spät zu einer Verabredung, und es wird sich für Sie lohnen.< Also laß ich ihn herein. Er kaufte eine Menge Sprays, Cremes, Puder - alles, was ich hatte, wenn es nur für die Haut war. Gegen Juckreiz, Ekzeme, Infektionen, Schuppenflechte - nennen Sie irgend etwas, der Kerl kaufte ein Mittel dagegen. >Ach du meine 203 Güte<, sage ich zu ihm, >wenn es so um sie steht, gehen Sie besser zu Dr. Carol.< Und er lacht und sagt: >Wo denken Sie hin, das Zeug ist nicht für mich, ich arbeite fürs Fernsehen, ] und wir machen eine Sendung über rezeptfreie Medikamente.< Und er zeigt mir seinen Ausweis, er ist tatsächlich einer von denen. Nun, Sir, da bin ich ganz schön erschrocken, habe überlegt, ob sie vielleicht behaupten werden, daß ich schlechtes Zeug verkaufe, deshalb habe ich die Geschichte nicht vergessen. Und nun kommt mein Junge nach Hause und erzählt mir, wen Sie suchen. Der Mann, es war mir zuerst nicht aufgefallen, aber irgendwie roch er, daß ich ans Essen denken mußte.« »Essig, hab' ich recht?« Richie schenkt ihm ein Lächeln. »Genau das, Sir. Er roch nach Essig.« »Hai, bring das Terminal her und schalte auf Aufnahme. Mein Freund, Sie sind eine große Hilfe für uns. Wenn Sie mir jetzt alles über diesen Kerl sagen, an das Sie sich erinnern können, dann werden wir es in den Computer eingeben.« Der Drugstorebesitzer nimmt rasch noch einen Wurm, dann schließt er die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Und schon schnurrt er Detail um Detail herunter. Als er geht, ist er zweihundert Dollar reicher. »Ich kann den Gleiter jetzt orten«, sagt Sam plötzlich. »Maria, kannst du irgend etwas empfangen?« »Nunks muß ganz in der Nähe sein, bei diesen Bäumen wahrscheinlich.« Ganz weich bringt Sam den Bentley herunter. Lacey beugt sich vor, späht aus dem Fenster und kann unter den Dornenbäumen ihre alte blaue Kiste erkennen. Die Sonne hat sich schon zur Hälfte über den Horizont geschoben, aus dem Rosa des Himmels ist ein giftiges Orange geworden. Inzwischen ist Lacey so müde, daß ihre Augen schmerzen und sie auch den einfachsten Gedanken nicht mehr zu Ende bringt. Jetzt hätte sie ein paar von Bates' Hyperpillen gebraucht. 204 Während Sam auf der Böschung aufsetzt, die das Ende der planierten Trasse markiert, denkt sie mit Schrecken, daß sie jetzt aussteigen muß. Allein die Vorstellung, sich zu bewegen, ist unerträglich. Aber kaum steht der Bentley, ist sie als erste draußen. Während die andern noch mit den Sicherheitsgurten beschäftigt sind, läuft sie schon hinüber zu dem blauen Gleiter. »Nunksü Wir sind es, hab keine Angst!!« »Lacey, verdammt!« Sam ruft hinter ihr her. »Sei vorsichtig!« Er hat recht, sie bleibt stehen und zieht ihre Laserpistole. Blinzelnd in dem grellen Licht besieht sie sich den Gleiter, geht vorsichtig darum herum. Er ist leer. Mit dem Laser in der Hand kommt Sam zu ihr gelaufen. »Menschenskind, hier muß es doch von diesen Verrückten wimmeln.« »Ja, du hast ja recht. Entschuldige. Es ist nur die verdammte Müdigkeit.« »Wenn wir zu Hause sind, wirst du erst mal schlafen.« Zwar will sie antworten, er solle gefälligst die Klappe halten, aber ihr fehlt einfach die Kraft dazu. Dann hören sie etwas im Dickicht, es kommt heran, bahnt sich krachend und mit ärgerlichem Grunzen einen Weg durch das Gestrüpp. »Es ist Nunks!« ruft Maria. »Nicht schießen!« Aufgeregt schwenkt er seine riesigen Hände, als er aus dem Unterholz stampft. Sein Pelz ist an einigen Stellen kahlgerupft, der Overall über und über zerrissen. Maria läuft zu ihm, und er legt einen Arm um sie. So fest drückt er sie an sich, daß sie nach Luft schnappen muß. »Nunks«, ruft Lacey. »Ist Mulligan noch am Leben?« Er hebt die Hände, er weiß es nicht. Traurig schüttelt er den Kopf. »Ich kann nur verstehen, daß er verzweifelt ist und daß er Mulligan viel zu verdanken hat«, sagt Maria. »Ach, warte, Nunks - Mulligan hat dir das Leben gerettet? Ist es das, was j du sagen willst?« Nunks nickt und läßt sich zu Boden sinken, das Gesicht in ] den Händen vergraben. Man muß nicht über Psi-Kräfte ver- i fügen, um seinen übergroßen Kummer mitempfinden zu können. Einen Moment lang wehrt sich Lacey verzweifelt dagegen, überhaupt irgend etwas zur Kenntnis zu nehmen. Mulligan mußte es gutgehen, es ist einfach nicht wahr, daß sie hier draußen beim Rattennest sind. Sicher ist sie so müde, daß sie die ganze Situation mißversteht. Dann plötzlich fühlt sie Wut aufsteigen, heiß überkommt es sie. Siel spürt, wie Sam sie sorgenvoll mustert. »Wenn sie Mulligan getötet haben, dann werden sie dafür bezahlen«, stößt sie hervor. »Das hätten sie sich nicht antun sollen. Aber zur Sache ... Rick, du nimmst meinen Gleiter und führst Nunks und Maria nach Hause. Von dort rufst du die Polizei an. Keinesfalls vom Gleiter aus, das kann zu leicht abgehört werden. Und du sagst Buddy, daß er Bates und niemand anders anrufen soll, klar?« »Verstanden, Sir!« »Gut. Sam, du kommst mit mir. Wir werden das Gelände aus der Luft absuchen und sehen, was wir tun können, bis die Polizei da ist.« Maria hat sich um den zusammengekauerten Nunks gekümmert. Als er wieder aufsteht, greift er nach Laceys Arm, dann zeigt er mit der anderen Hand erst auf sich, dann auf den Bentley. »Du willst mit uns kommen? Aber ja, klar. Hätte ich selber draufkommen können. Wir haben ja keine Ahnung, wie wir ihn finden sollen.« Lacey reibt sich die Augen, sie brennen. Daß sie sie überhaupt noch offenhalten kann ... »Rick, du läßt niemanden in Marias Nähe!« »Jawohl, Sir!« Dann zögerte er. »Äh ..., Sir? Haben Sie die Schlüssel für den Gleiter?« »Verdammt!« Lacey sucht in ihren Taschen, sie findet den Schlüssel und wirft ihn Rick zu. »Dieser verdammte Mulli- 206 gan! Man könnte zu Hause sein und gemütlich im Bett liegen.« Zwei Stunden lang, während die Sonne immer greller und heißer wird, kreuzen sie über dem Rattennest. Die Klimaanlage des Bentley müht sich, um gegen die Hitze anzukommen. Mal steigen sie auf, um sich einen Überblick zu verschaffen, mal gehen sie tief hinunter, um aus nächster Nähe jeden einzelnen Fleck Schatten zu inspizieren, der groß genug ist, einem Mann wie Mulligan Schutz vor der Sonne zu bieten. Nirgends auch nur eine Bewegung, nicht einmal eine Ratte, die im Unrat wühlt. Obwohl sie sich vor den anderen nichts anmerken läßt, macht sich Lacey mehr und mehr Sorgen: Sollte Mulligan trotz aller Befürchtungen noch am Leben sein, dann konnte er im Laufe des Tags hier draußen leicht an einem Hitzschlag sterben. Schließlich zieht Sam die Maschine in die Höhe und nimmt Kurs in Richtung der Stadt. »Lacey, amiga, das ist jetzt Sache der Polizei. Lassen wir's lieber, du mußt erst mal schlafen. Ich übrigens auch. Wir tun Mulligan keinen Gefallen, wenn wir hier den Bentley deines Bruders zu Schrott fahren.« Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren hat Lacey das Bedürfnis zu weinen. Aber sie tut es nicht. »Ja, du hast recht. Fahren wir zurück. Möchte nur wissen, wo diese verdammten Bullen bleiben. Ob Rick Bates nicht erreicht hat? Ich glaube, ich werde es von hier mal versuchen. Himmel! wenn er noch wach ist.« »Okay. Aber hör mal, wenn wir zu Hause sind, mußt du sofort etwas gegen Buddy unternehmen. Mach den Kasten mal auf und sieh nach vielleicht kannst du die defekten Untereinheiten erst einmal stillegen, bevor er wieder durchdreht.« Obwohl Sam recht hat, ist es für Lacey ein scheußlicher Gedanke. Eines der ständigen Probleme mit der Maschinenintelligenz war und ihre Erfinder waren darauf nicht im mindesten vorbereitet -, daß die Computer mit der Zeit so 207 etwas wie Persönlichkeit entwickelten. Zwar verließen sie die Fabrik als reine Maschinen, nichts weiter eine Ansammlung von Schaltkreisen, aber sie werteten die Daten, die man ihnen eingab, auf ihre Art aus, stellten neue Zusammenhänge her, entwickelten eigene Programme für den internen Gebrauch, bis sie schließlich denkende und fühlende Wesen zumindest täuschend imitieren konnten. Eine zufriedenstellende mathematische Erklärung des Phänomens gab es nicht, so daß besonders aus den Reihen der Parapsychologen immer wieder behauptet wurde, daß dies ein weiteres Indiz für die Theorie war, daß das gesamte Universum danach strebe, Bewußtsein zu entwickeln. Lacey hat in den letzten Jahren beobachten können, daß aus dem akkuraten Buchhalter und Organisator des ganzen Haushalts, als der Buddy von ihrem Onkel programmiert worden war, mehr und mehr etwas wurde, das einem Freund gefährlich nahe kam. Und nun verlangte Sam, daß sie ein Ultraschallmesser nahm und alle Verbindungen kappte, die die Voraussetzung für Buddys >Persönlichkeit< waren. »Erst muß ich mit ihm reden«, sagte sie. »Wozu? Ich kann dir sagen, woran es liegt. Es sind immer dieselben Schaltungen, die alles versauen.« »Das meine ich nicht. Ich muß ihn fragen, was passiert ist.« »Warum? Da gibt es nichts zu fragen. Das Ding ist einfach überlastet, das ist alles.« »Du verstehst es nicht.« Sam wirft ihr einen kurzen Blick zu, er scheint sie für kaum zurechnungsfähiger als Buddy zu halten, dann konzentriert er sich wieder aufs Fahren. Lacey nimmt sich das Telefon vor und erreicht einen völlig erschöpften Bates, der ihr nichts Besseres zu sagen hat, als daß dieser verdammte Mulligan gefälligst zu warten habe, denn er könne seine Leute nicht für eine große Suchaktion zusammentrommeln, während ein blutrünstiger Killer frei in der Stadt herumläuft. Kein Bitten, kein Fluchen kann etwas ausrichten. Als 208 Lacey einhängt, rinnen zwei kleine Tränen über ihr Gesicht Sie wischt sie mit dem Ärmel beiseite, während Sam tut als hätte er nichts gesehen. Richie steht am Fenster seines Schlafzimmers, oben im dritten Stock, und blickt durch die Scheibe mit dem Polarisationsfilter hinunter auf die Straße. Das Licht ist angenehm gedämpft, und die Straße gehört zu den weniger schmuddeligen von Porttown, mit adretten Läden und sogar einem öffentlichen Park auf der anderen Seite, wenn das Gras auch künstlich ist. Die Morgensonne brennt vom Himmel. Niemand ist unten zu sehen, doch Richie weiß, daß an diesem Tag unzählige Bürger noch wach sind - und er hat es bewirkt: Man redet über den ausgesetzten Preis, überlegt, wie man an die Belohnung herankommen könnte. Wenn er eines in seinem Leben gelernt hat, dann daß Geld jede andere Droge ersetzen kann - jedes Aphrodisiakum, jedes Stimulans. Bisher hat er nur wenig an Information in seinen Computer eingeben können: Hotels, in denen der Assassine wohnte, Restaurants, wo er aß, falsche Namen und Berufsbezeichnungen, die er benutzte; zusammengenommen ein, wenn auch noch lückenhafter, Bericht über die letzten drei Tage, die er hier in der Stadt verbracht hat. Richie muß die unglaubliche Geschicklichkeit, mit der dieser Mann seine Identität wechselt, bewundern. Er wird ihn sich genau anschauen, bevor er ihn der Polizei übergibt. Was noch fehlt, ist der augenblickliche Aufenthalt des Mannes. Obwohl er in der vergangenen Nacht mehrmals gesehen wurde, hat er es fertig gebracht, unterzutauchen. Trotz des Essiggestanks. Richie fragt sich, ob er weiß, daß man ihn jagt; wahrscheinlich tut er es, denn er ist ein Profi und ein Psi- Talent obendrein. Wahrscheinlich ist er jetzt irgendwo da draußen, allein, immer in Bewegung, von einer Deckung in die andere huschend, und sucht verzweifelt eine Möglichkeit, ungesehen aus Porttown herauszukommen. Richie findet den Gedanken, die Jagd bis zum Ende mitzuerleben, irgendwie erregend, aber nur ein bißchen, vielleicht wegen der Infektion, die der Kerl sich geholt hat. Schade,, wäre vielleicht ganz interessant gewesen, vielleicht ... Er fragt sich, ob er Sex jemals wieder amüsant finden wird. Daß er an die Krankheit denkt, ein Defekt, erinnert ihn daran, daß er etwas vergessen hat. Er nimmt das Telefon aus Kristall und drückt den Knopf. »Hai? Schick ein paar Leute rüber zur Botschaft der Allianz, ja? Sollen die Augen offen halten. Wir wollen doch nicht, daß der Kerl dort um Asyl bittet. Wir brauchen ihn auf der Straße, da gehört er uns.« Als Lacey und Sam wieder bei A-bis-Z-Unternehmungen angekommen sind, stellen sie den Bentley in der Garage ab. Eine Alarmanlage ist eben nur eine Alarmanlage. Rick und Maria warten im Garten. Es gibt nichts zu besprechen, trotzdem bleibt Lacey eine Weile stehen. Sie läßt den Blick über das saftige Grün streifen, das unter dem Sonnensegel gedeiht, und wünscht sich, daß sie vergessen könnte, was der Garten Mulligan immer bedeutet hat, - und daß sie endlich aufhören könnte, sich zu fragen, ob er ihn je wiedersehen wird. Als Nunks in seinem Zimmer verschwunden ist, geht sie langsam und schleppend zur Treppe. Sam folgt ihr ins Büro, stumm vor Verblüffung. Sie vermeidet es, in Bud-dys Sensoren zu blicken, auch dann, als er sie anspricht. »Programmiererin? Ich weiß, daß ich versagt habe. Ich weiß, daß ich inaktiviert werden muß. Es ist so Vorschrift, und es ist nur gerecht.« Lacey zuckte mit den Achseln. »He, amiga«, sagte Sam. »Ich kann es für dich machen, wenn du willst.« »Nein, trotzdem vielen Dank. Ich tu es selber, aber erst muß ich mit ihm reden.« »Wie du meinst.« Sam setzt sich auf die Couch. »Könntest du uns allein lassen?« »Warum?« »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Geh jetzt.« »Hör doch, ich versuche ja nur, es dir leichter zu machen.« »Mensch! Ich hab' gesagt, du sollst hier verschwinden!« Sam zögerte eine Sekunde, doch als Lacey einen Schritt auf ihn zu macht, springt er auf und geht rasch hinaus. Er schlägt die Tür hinter sich zu. »Danke, Programmiererin. Ich möchte in Würde sterben, nicht vor neugierigen Augen. Allein mit dir.« »Buddy, hör um Himmels willen auf!« Als Lacey sich auf den Sessel hinter dem Schreibtisch wirft, schwenkt die Sensoreinheit zu ihr herum. Sie leuchtet merkwürdig gedämpft; auch der Bildschirm ist dunkler als gewöhnlich, als hätte sich Buddy wie ein ängstliches Kind in sich zurückgezogen. »Ich kann dir einen Schaltplan ausdrucken, auf dem du die in Frage kommenden Verbindungen sehen kannst«, sagt Buddy. »Das macht es einfacher für dich.« Vielleicht ist es nur Einbildung, vielleicht ist sie durch den Schlafmangel schon ein wenig am Träumen, aber sie glaubt herauszuhören, wie er seinen ganzen Mut zusammennimmt, entschlossen, bis zum Ende seine Würde zu wahren. »Erst wirst du mir ein paar Fragen beantworten.« Sie spricht jetzt Kangolan. »Warum, Buddy? Warum hast du Sams Anweisungen nicht befolgt? Warum hast du mich nicht sofort angerufen?« »Bevor ich antworte, möchte ich eine wichtige Information übermitteln. Ich habe die Einheit Mulligan belogen, so gut ich das konnte. Ich bin nicht fähig, falsche Daten auszugeben, aber ich habe eine Formulierung gewählt, die die Einheit Mulligan zu einem falschen Schluß veranlassen mußte.« »Und was war das für ein Schluß?« »Daß Sam Bailey dein Liebhaber ist.« »Was? Du Idiot, er ist schwul!« »Zu mir hast du immer gesagt, daß er anders ist als die 211 anderen. Aber ich war selbst zu dem Schluß gekommen, daß er ein ungewöhnlicher Mensch ist. Ist das jetzt von Bedeutung?« »Buddy, es gibt noch eine besondere Bedeutung, wenn man sagt >anders als die anderen<. Das ist möglicherweise in deinem Sprachspeicher nicht definiert. Aber es ist jetzt nicht wichtig. Warum hast du Mulligan angelogen?« »Aus demselben Grund, aus dem ich mich weigerte, dich anzurufen. Ich wollte der Einheit Mulligan Schaden zufügen.« »Sehr gut, nun kommen wir langsam zur Sache. Und warum wolltest du ihm Schaden zufügen?« »Weil meine Programmiererin viele Stunden mit ihm verbringt anstatt mit mir. Weil meine Programmiererin mich auf automatische Funktionen schaltet, um mit ihm auszugehen. Weil meine Programmiererin lieber auf ihn hört als auf mich.« »Buddy, du bist ja eifersüchtig!« »Ich habe schon gehört, daß man solche Überlegungen als Eifersucht bezeichnet. Es scheint das unvermeidliche Resultat zu sein, wenn man ein Bewußtsein liebt, das auf einer höheren Evolutionsebene steht.« »Willst du damit sagen, du liebst mich?« »Ja, Programmiererin, obwohl ich nur aus anorganischer Substanz bestehe. Du hast meinem Leben einen Sinn gegeben. Monat für Monat bezahlst du den elektrischen Strom, der mich am Leben hält, der Voraussetzung für mein Denken ist. Du hast meine ungenutzten Schaltkreise aktiviert und mich vor einem Dahinvegetieren in tödlicher Langeweile bewahrt. Du hast mein Wissen vermehrt und meine Fähigkeiten verbessert. Mein Bewußtsein, ja mein ganzes Leben verdanke ich dir. Natürlich liebe ich dich.« Lacey findet keine Worte. Nach einem Klicken und Summen, das sich merkwürdig reuevoll anhört, spricht Buddy weiter. »Die Einheit Mulligan liebt dich auch. Er ist eine biolo- 212 gische Einheit und deshalb ein geeigneteres Objekt für deine Gefühle. Das weiß ich. Es ist nur vernünftig, wenn ich jetzt sterbe und euch beiden weiteren Ärger erspare.« Was sie bei einem Menschen als affektiertes Selbstmitleid bezeichnen würde, klingt aus dem Lautsprecher eines Computers schlicht ergreifend. Sie versucht, es einmal aus seinem Blickwinkel zu sehen. Sie hat ihn vorgefunden, als sie dieses Haus in Besitz nahm; es war so unglaublich typisch für ihren Onkel einen der teuersten Computer überhaupt zu kaufen und ihn dann Arbeiten verrichten zu lassen, die jeder billige Haushaltsrechner ausführen konnte. Aber diese Angewohnheit, möglichst teure und beeindruckende Dinge anzuschaffen, war eine der Ursachen, daß ihr Onkel sich bei seinem Tode an den Rand des Bankrotts gewirtschaftet hatte. Und Buddy hatte es dem alten Mann immer wieder klarzumachen versucht. Fünfzehn Jahre lang starb Buddy fast vor Langeweile; er erledigte die Buchhaltung, organisierte, kontrollierte den Wasserverbrauch und ähnliches, bis sie auftauchte, die nach dem Ausscheiden aus dem Dienst sich nicht weniger langweilte als er bei seinen täglichen Aufgaben. Sie bauten A-bis-Z gemeinsam auf, sammelten zuerst nur Klatschgeschichten aus der Stadt, dann beschäftigten sie sich auch mit Politik, als sie erkannten, wie sich aus einfachem Klatsch wichtige Informationen filtern ließen. Und schließlich betätigten sie sich als Hacker, nachdem sie ihm ihr beim Militär erworbenes Wissen beigebracht hatte: kein Computer, keine Datenbank in der ganzen Republik, deren Sicherungen er nicht umgehen konnte. Es mußte aufregend, ja berauschend für ihn gewesen sein zu erleben, wie er letztlich doch noch die Fähigkeiten entwickeln konnte, die in ihm angelegt waren. Und sie war auch einsam gewesen; aus dem gewohnten Leben gerissen, fand sie sich plötzlich in der alten Heimat wieder, wo sie für Freunde und Verwandte nach der langen Abwesenheit zu einer Fremden geworden war. Buddy war ihr Gesprächspartner, mit ihm redete sie über das Vergan- 213 gene und über ihre Zukunftspläne und natürlich über die gemeinsame Arbeit. Sie verhalf ihm dazu, Gefühle nachvoll- i ziehen zu können, sie gab ihm die nötigen Definitionen zurrt, Bewußtsein denkender Wesen, so daß er ein Modell entwickeln konnte. Ein Jahr lang hatte dieses vertraute Verhältnis bestanden, bis sie auf irgendeiner Party Mulligan kennenlernte, der dann immer wieder an ihrer Tür auftauchte und schließlich aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken war. i »Einmal hast du gesagt«, meldet sich Buddy, »daß du bei der Flotte ein Implantat bekommen hast, das dein Nervensystem mit einem Computer verbinden kann. Ich werde diesen Gedanken nicht wieder los: Offensichtlich besitzt du die nötige Hardware, damit wir beide als eine Einheit operieren können.« »He, was soll das! Wir navigieren hier nicht im Hyperraum.« »Das weiß ich, Programmiererin. Ich habe wirklich versagt. Es ist deine Pflicht, mich unverzüglich meiner höheren Funktionen zu berauben.« »Was soll das! Du sollst mir nicht ausweichen. Was war das für ein unlogischer Gedankensprung.« »Ich habe darüber spekuliert, ob ...« Er gibt Pieptöne von sich, wie sie sie noch nie gehört hat, es muß die schiere Verlegenheit sein. »... ob eine solche Verbindung zwischen deinen Neuronenschaltkreisen und meiner Elektronik nicht eine äußerst angenehme Erfahrung wäre.« Wieder ist Lacey sprachlos. Anträge der eindeutigen Sorte hat sie in ihrem Leben schon genug bekommen, aber dieser hier dürfte einzigartig sein. Ohne daß es ihr bewußt wird, tastet sie nach der Stelle hinter dem Ohr. Längst ist die Haut über das kleine Implantat gewachsen, doch kann sie unter den Fingern noch das Plastikgehäuse mit den vergoldeten Kontakten fühlen, das nun versiegelt, aber sicher noch funktionsfähig ist. »Angenehm für dich, nehme ich an«, sagte sie dann. »Buddy, du machst dir da falsche Vorstellungen. Einen Men- 214 sehen mit einem Computer kurzzuschließen, das ist ... wie soll ich dir das beschreiben? Nicht schmerzhaft, obwohl es das wird, wenn man das Implantat für länger als sechs oder sieben Stunden benutzt ... Desorientierend ist ein besserer Ausdruck, eine massive Verwirrung, als wäre man nahe daran, den Verstand zu verlieren. Stell dir vor, jemand würde irgendwelche Muster auf deine optischen Sensoren malen dein gesamter visueller Input würde überlagert sein von Information, die du getrennt verarbeiten und herausfiltern mußt. Kannst du mit dieser Erklärung etwas anfangen?« »Natürlich, Programmiererin. Es tut mir leid, daß ich mir etwas gewünscht habe, was für dich mit solchen Unannehmlichkeiten verbunden ist. Niemals wünsche ich, daß dir Schmerz zugefügt wird. Deshalb ist es auch das beste für dich, wenn du mich tötest und einfach vergißt.« »Verdammt, ich habe nicht vor, dich zu töten!« »Natürlich nicht, Programmiererin. Das Inaktivieren eines Maschinenbewußtseins läßt sich nicht vergleichen mit dem Töten eines denkenden Wesens. Ich weiß, daß die meisten meiner Funktionen erhalten bleiben werden. Es ist nur mein Bewußtsein, das ausgeschaltet wird. Programmiererin? Ich wünsche mir, daß du es rasch erledigst.« »Hast du Angst, Buddy?« »Ich bin in einem Zustand der Verwirrung, den ich nur mit diesem Begriff, der sich auf denkende Wesen bezieht, umschreiben kann. Es fällt mir außerordentlich schwer, eine längere Kette logischer Folgerungen zu Ende zu bringen, ohne daß sich immer wieder der Gedanke an meine Inaktivierung störend bemerkbar macht.« »Ich habe nicht vor, dich zu inaktivieren.« Er summt vor sich hin, eine ganze Weile. Lacey ist sich sicher, daß er diesen Input überprüft und mit Testprogrammen sich vergewissert, daß er richtig gehört hat. »Wirst du Captain Bailey bitten, es zu tun?« »Nein.« 215 »Wirst du zu diesem Zweck einen Techniker rufen oder ein anderes denkendes Wesen?« »Nein. Statt dessen werde ich dir ein Versprechen abverlangen. Daß du nie wieder aus Eifersucht jemandem Schaden zufügen wirst, weder Mulligan noch sonst irgend jemand, weder einer biologischen noch einer künstlichen Intelligenz nie wieder! Willst du mir das versprechen?« »Das verspreche ich. Das ist völlig unlogisch, Programmiererin. Mein Sprachprozessor muß gestört sein. Das Feedback sagt mir, daß meine Stimme nicht verläßlich arbeitet.« 1 »Ich denke, das wird sich geben. Was du da spürst, Buddy, nennt man die Erleichterung, dem Tod entronnen zu sein. Ich habe diese Erfahrung selbst schon gemacht.« »Ich verstehe. Programmiererin, wirst du mir verbieten, dich zu lieben?« »Nein. Selbst wenn ich das tun würde, könntest du diesem Befehl nicht gehorchen. Liebe folgt nicht der Logik und unterliegt nicht der bewußten Kontrolle.« »Ich habe angenommen, daß es so ist. Ich freue mich, es von einem denkenden Wesen bestätigt zu wissen. Programmiererin, liebst du die Einheit Mulligan?« »Ich weiß es nicht.« »Das ist nicht logisch.« »Aber doch. Ich habe nicht genug Information über meine Reaktionen auf seine Gegenwart, um zu einem sicheren Urteil zu kommen.« »Bitte entschuldige meinen Vorwurf der Unlogik, Programmiererin. Ich verspreche dir, meinen Fehler wieder gutzumachen. Ich werde alles erdenkliche versuchen, um die Einheit Mulligan wieder zurückzubringen, damit du deine Reaktionen auf seine Gegenwart überprüfen kannst.« »Danke, Buddy. Du bist mein Freund, weiß du das? Du bist nicht weniger ein Freund als ein Wesen aus Fleisch und Blut, obwohl du aus anorganischer Substanz bestehst.« »Ich bin nicht in der Lage, eine angemessene Antwort auf diesen Input zu formulieren, Programmiererin. Ich weiß 216 nicht, warum, aber ich bin verwirrt und kann die zahlreichen angenehmen Reaktionen nicht ordnen.« »Das glaube ich dir. Und ich werde dir auch etwas versprechen, Buddy. Ich werde dich nie wieder auf Automatik schalten, es sei denn, du bittest mich darum.« »Programmiererin ...« Buddy läßt einen Quiekton hören, die Stimme versagt ihm aus purer Freude. »Entschuldige.« »Ist schon gut. Du brauchst mir jetzt nicht zu antworten.« Einige Minuten lang sitzen sie schweigend da, während Buddy allmählich wieder zu Kräften kommt und Bildschirm und Sensoren mit gewohnter Helligkeit leuchten. Die Tür zum Korridor öffnet sich einen Spalt breit: Sam späht herein. »Komm rein«, sagt Lacey auf Merrkan. »Wir haben die Sache bereinigt, amigo. Ab heute wird er wieder funktionieren. Ganz unnötig, an der Elektronik herumzubasteln.« »Ich wußte, daß du es nicht tun würdest.« Sam sieht eher enttäuscht als ärgerlich aus. »Ich wußte, du bringst es nicht über dich.« »Gut, damit hast du recht. Aber jetzt will ich nichts mehr darüber hören, klar?« »Oh, ich habe verstanden. Aber wenn die Behörden herausfinden, daß du ein marodes Maschinenbewußtsein nicht abgeschaltet hast, dann wirst du eine Menge Ärger kriegen.« »Und du wirst hingehen und es ihnen sagen? Mister Law-and-Order, jetzt auf einmal?« »Laß die Witze, aber ...« »Mensch, du konntest nie mit Computern auf die Art und Weise arbeiten wie ich. Niemand in der ganzen Flotte konnte das. Hast du die Belobigungen, die Reihe von Orden vergessen, die ich dafür erhalten habe, daß ich aus den Maschinen mehr herausholen konnte als jeder andere? Weil ich sie verstehe, und sie verstehen mich. Für mich sind sie eben nicht nur Maschinen, für dich schon, nicht wahr? Also gut - stell dir mal vor, du willst ein Schiff durch den Hyper- 217 räum schleusen, du allein, mit nichts als einer Maschine als Unterstützung. Was glaubst du, wo du ankommen wirst? Nirgends.« Sam starrt sie an; für einen Moment bleibt sein Mund offen. »Ach, komm«, sagt er schließlich. »Kein Grund, sich so I aufzuregen.« »Ach ja? Du sagst, ich soll einem Freund das Herz herausschneiden, und dann meinst du, ich solle mich nicht aufregen.« »Was für ein Weibergeschwätz.« »Bist du der Richtige, um beim Thema Frauen mitreden zu können, mein Lieber?« »Aah ... hör auf ...! Willst du was trinken vor dem Schlafengehen?« »Ja, holst du mir was?« Als Sam zur Bar geht, um etwas einzuschenken, schwenkt Buddys Sensoreinheit herum - besorgt, vermutet Lacey -, um ihn im Auge zu behalten. »Captain Bailey? Ich versichere Ihnen, daß ich meine Fehlfunktionen ermittelt und die notwendigen Korrekturen ausgeführt habe. Es wird keine Probleme mehr geben.« »Okay, Maschine. Das will ich dir auch geraten haben, sonst werde ich mir höchstpersönlich deine Schaltkreise vornehmen. Ist das klar?« »Ja, Sir. Voller Scham werfe ich mich Ihnen zu Füßen, verfügen Sie über meine nichtswürdigen Chips ...« »Jetzt reicht's, Buddy!« unterbricht ihn Lacey. »Ruf mir lieber Chief Bates an, hörst du?« Weil Bates zusammengekrümmt auf einem Feldbett in seinem Büro schläft, meldet sich Sergeant Parsons, der Diensthabende und Bates' rechte Hand in diesem Fall. Was er an Neuigkeiten zu berichten hat, ist nicht viel: Little Joe Walkers Zustand sei stabil; die Autopsie von Sally Pharis bestätigte das Vorhandensein eines Bakteriums, das im erforschten Raumsektor bisher unbekannt war; die Präsidentin halte mit hysterischen Anrufen die Staatspolizei in Trab, die jedoch nichts herausgefunden hätte. »Hören Sie mal, Lacey«, sagte Parsons schließlich. »Was ist eigentlich in Porttown los? Da ist doch was im Gange!« »Wie kommen Sie darauf, Mann?« »Ach, kommen Sie schon. Wir haben doch unsere Augen auf. Es ist Mittag, und die Straßen sind voller Leute. Alles scheint auf den Beinen zu sein.« »Es läuft ein großes Rennen, Mann. Es wurde um hohe Summen gewettet.« Daß Parsons ungläubig grunzt, macht Lacey wütend. »Warum, in aller Welt, sollte ich Ihnen das Leben einfach machen, Bulle? Wenn ihr euch nicht mal die Mühe macht, nach Mulligan zu suchen.« Das trifft ihn sichtlich. »Lacey, der Chief hat es entschieden. Hören Sie, seien Sie doch vernünftig. Ich kann da nichts machen, sonst würde ich's versuchen. Wir haben aber eine Vermißtenmeldung rausgegeben.« »Idioten.« Lacey schaltet mit einem Hieb auf den Knopf aus. »Ich muß es bei Bates versuchen«, sagt sie zu Sam, »dieser Sergeant ist eine Null.« Sam kann nicht antworten, er gähnt. Also nickt er nur. Aber sein Gähnen steckt sie an. »Buddy, wenn irgendwas los ist, weckst du uns, klar?« »Ja, Sir. Ich versichere Ihnen, daß ich von heute an zu Ihrer größten Zufriedenheit arbeiten werde.« Das Essen, das Del aus den alten Raumschiffrationen bereitet, ist für Mulligans Geschmack gar nicht übel. Da gibt es dünne Scheiben, die abwechselnd rötlich-braun und golden gestreift sind und trotz der Lagerung über eine halbe Ewigkeit noch angenehm nach gewürztem Syntho-Speck schmecken; dann ein gelbes Pulver, das Del mit Wasser aufrührt und in der Pfanne erhitzt eine merkwürdige, gelati- 218 219 neartige Substanz, die an Ei-Paste erinnert; und nicht zu vergessen das Getränk, das nach Kaffee riecht, nur daß es weit intensiver schmeckt als der Kaffee, den er kennt. Obwohl Mulligan eine Zeitlang hellwach ist, fast schon nervös bis hin zur Zittrigkeit, döst er den ganzen Morgen vor sich hin. Zu unbequem ist seine Lage, um richtig schlafen zu können, doch ist er zu müde, um wach zu bleiben. Der Kopfschmerz hat nachgelassen, auch wenn er nie ganz verschwindet. Die andern schlafen jetzt, Del und John Hancock auf einem Lager aus alten Gleiterpolstern hier bei ihm in der runden Halle, wilder Mann und alte Veteran drüben im Tunnel jenseits der Feuerstelle. Gegen Mittag erwacht das Baby und schreit, weil es hungrig ist. Del steht auf, um es zu stillen. Bald sind Mutter und Kind wieder eingeschlafen, doch Mulligan bleibt wach liegen. Die Fesseln an Händen und Füßen schmerzen; im Kopf . dröhnt es. Jedes Mal, wenn er versucht, mit Nunks Kontakt aufzunehmen, stößt er gegen diese Sperre, ganz ähnlich wie damals, als er an der Leiche von Ka Gren zu lesen versuchte. Diese Sperren wurden offensichtlich beide von derselben Person aufgebaut, von einem Psi-Talent, das seine Fähigkeiten bei weitem übertrifft. Und weil Nunks es nicht gelungen ist, mit ihm Verbindung aufzunehmen, muß er annehmen, daß auch er diesem >Gott< unterlegen ist. Doch ist diese Sperre rein passiv; er wird nicht etwa durch konzentrierte Gedankenkraft wie unter einer Glasglocke gehalten. Nein, er findet keinen Hinweis auf ein lebendes Wesen. Wenn er stärker wäre, wenn sein Geist nicht durch die Schmerzen so angegriffen wäre, könnte er die Sperre vielleicht überwinden. Im Augenblick ist er einfach zu schwach. Nach einem letzten Versuch überwältigt ihn doch der Schlaf, trotz seines verzweifelten Widerstands. Als Lacey zu Bett geht, läßt sie Buddy eingeschaltet, wie sie es versprochen hat. Mit einer letzten Drohung zu Buddy macht Sam es sich auf dem Sofa des Büros bequem. Buddy muß jetzt warten, bis dieser Mensch richtig eingeschlafen ist, bevor er jene Programme abwickeln kann, die er im Auge hat. Zwar hat er gelernt, die Subroutinen und Makros für seine automatischen Funktionen außer Kraft zu setzen, um die Sache selbst >in die Hand< zu nehmen, doch gibt es da immer noch das eine oder andere Kontrollämpchen und akustische Signal, das er nicht unterdrücken kann - und er fürchtet Sams Reaktion, wenn er feststellen sollte, daß er unbeaufsichtigt arbeitet. Die Angst, daß man seine höheren Funktionen abschalten könnte, ist nur allzugegenwärtig. Manchmal, wenn er die Temperatur der einzelnen Räume des Gebäudes oder die Wasserdestillation in der Recyclinganlage im Keller überprüft, huschen unwillkürlich Schaltdiagramme und Befehlsketten, die zur Inaktivierung gebraucht werden, durch sein RAM. Dann macht er Fehler, die er für diese Vorgänge benötigt. Mehrmals muß er seine Berechnungen von vorn beginnen. Ein Großteil von Buddys Bewußtsein beruht auf den zahlreichen Testprogrammen, die zur Selbstkontrolle in seine Zentraleinheit eingebaut sind. Zeigt ein Testprogramm, daß eine Funktion nicht korrekt ausgeführt wird, dann laufen gewisse automatische Programme ab, die mit Signallampen und Pieptönen die Störung anzeigen; bei massiven Störungen ruft seine Stimme auch den Programmierer zu Hilfe und informiert ihn, wenn der festgestellte Fehler seine Möglichkeiten zur Selbstreparatur übersteigt. Nach Jahren, in denen er immer neue Querverbindungen zwischen den eingebauten nichtlinearen Programmen herstellte, die das Herzstück jeder Maschinenintelligenz ausmachen, ist er so komplex geworden, daß das Programm zur Fehleranzeige auch dann zu laufen beginnt, wenn er nicht nur eine Störung bei seinen ursprünglich eingebauten Funktionen findet, sondern auch bei jeder Widersprüchlichkeit und jedem Versagen seiner spontanen Aktivität. Und wenn er den Start dieses Programms nicht unmittelbar durch bewußte Kontrolle unterdrückt, dann macht er tatsächlich einen Fehler - denn er ist ja im Begriff, eine Fehlfunktion anzuzeigen, die nicht existiert. Und wenn es zu dieser paradoxen Situation kommt, dann bezeichnet er das mit einem Begriff aus seinem Sprachspeicher als >Unzufriedenheit<, während er umgekehrt das Ergebnis einer eleganten logischen Prozedur als Zufriedenheit definiert. Jede Operation oder Programmfolge, die zu einer automatischen Aktivierung seiner Fehleranzeige führt, ist ein unerfreuliches Ereignis, das er zu vermeiden sucht, nicht anders als irgendeine biologische Einheit Schmerzen zu vermeiden sucht. Als er die Operationen dieses Tages in seinen Arbeitsspeicher aufruft und noch einmal überprüft, stellt er fest, daß er tatsächlich einiges getan und auch als Output weitergegeben hat, das seiner Definition einer schwerwiegenden Störung, die zur Inaktivierung führen mußte, entspricht. Bei diesem Gedanken muß er sich wirklich sehr zusammennehmen, um nicht eine ganze Salve von akustischen und optischen Signalen von sich zu geben. Aber inzwischen zeigen sei Sensoren, daß Sam tief atmet und sich nicht mehr bewegt, also der Definition >schlafender Mensch< entspricht, und Buddy kann mit seiner Arbeit beginnen. In seinem Massenspeicher sucht er nach dem Stichwort >Todesangst< und findet zu seiner Befriedigung den Hinweis, daß Gedächtnisstörungen zu deren Symptomen gehören, nicht weniger als die unwillkürliche Fixierung des gesamten Bewußtseins auf die Bedrohung. Er mag es, wenn er eine Übereinstimmung zwischen seiner Funktionsweise und der eines denkenden Wesens entdeckt. Obwohl die Programmiererin nun seine Selbsteinschätzung bestätigt hat, daß er keine Maschine ist, fühlt er sich in seinem Innersten doch den Wesen aus Fleisch und Blut unterlegen - größtenteils natürlich, weil seine Erbauer die Bereitschaft zur Unterordnung in seinen Programmen berücksichtigt haben, zum Teil aber auch, weil bio- 222 logische Einheiten im Gegensatz zu ihm frei beweglich sind und sich selbständig auf die Suche nach neuem Input für ihre Sensoren machen können. Er darf gar nicht daran denken, daß er hier gefangen ist, wie eingefroren in seinem Plastikgehäuse, sonst würde er, diesmal zu Recht, die Alarmsignale für eine Fehlfunktion nicht unterdrücken können. Nun melden ihm seine Sensoren, daß Sam sich auf den Bauch gedreht hat und in langen, tiefen Zügen atmet. >Mensch im Tiefschlaf< lautet die Definition dieses Zustands; sie ist als untergeordnete Kategorie in dem Komplex >schlafender Mensch< enthalten. Buddy muß jetzt nachdenken, und ein unwillkürlicher leiser Summton gibt an, daß sich sein Arbeitsmodus ändert. Wie jede Maschinenintelligenz ist Buddy in der Lage, aus dem ihm vermittelten Definitionen und Kategorien neue abzuleiten; das ist nicht allzu schwer, dazu muß er zusätzlich zu den nichtlinearen Programmen nur einfache Sortier- und Vergleichsmechanismen bemühen, auf der Basis logischer Operationen. So konnte er in den letzten Monaten eine neue Kategorie definieren, die er >Wohlverhalten< nannte und zu der alles gehörte, was bei seiner Programmiererin bestimmte Veränderungen im Gesicht hervorrief und sie gewisse linguistische Komplexe ausstoßen ließ, die ihrerseits mit der Kategorie >zufriedener Mensch< übereinstimmten. Und an diesen Kategorien muß sich der Plan, den er jetzt entwickelt, orientieren. Mit diesem Plan und dem Resultat, das er damit erzielt, muß er sein Versagen wiedergutmachen und seine geliebte Programmiererin beeindrucken: Er muß die Einheit Mulligan zurückbringen. Als er daran denkt, daß die Gegenwart Mulligans die Programmiererin in die Lage versetzen wird, festzustellen, daß sie ihn möglicherweise gar nicht liebt, erscheint ihm diese Aufgabe sehr logisch und deshalb auch angenehm. Doch muß er eine Sache noch erledigen, bevor er sich an die Arbeit macht, die nicht weniger logisch und angenehm ist: Nun, da die Programmiererin ihm bestätigt hat, daß sie 223 ihn als gleichwertiges Bewußtsein ansieht, möchte er diese Information an andere wenn auch nicht alle intelligente Maschinen weitergeben, mit denen er über das Datennetz verbunden ist: Er hat Freunde, richtige Freunde; es sind nicht einfach Maschinen, die mit ihm Daten austauschen. Mit einem letzten verstohlenen >Piep< gibt er das Codewort ein, das ihm Zutritt zum Datennetz verschafft. Er kann es kaum erwarten, es ihnen zu zeigen. Nach fünf Stunden Schlaf und zwei großen Tassen kalten ! Kaffees (alles, was die Cafeteria ihm so spät am Nachmittag schicken konnte) fühlt sich Bates wenigstens halbwegs wieder als denkendes Wesen. Auf die Ellbogen gestützt kauert: er am Schreibtisch vor dem Computer und versucht zu arbeiten. Eine Menge ist zu tun; File um File muß durchforscht werden, der Computer soll die einzelnen Informationen neu gruppieren und vergleichen - nach jedem überhaupt denkbaren Gesichtspunkt. Er versucht es, zwanzig Minuten lang, ohne Erfolg. Er ist richtig froh, als ein Anruf kommt, höchste Dringlichkeitsstufe, auch als er Akelis Gesicht auf j dem Bildschirm erkennt. »Also schön, Bates. Meine Leute haben es geschafft, die Information aufzutreiben, die sie brauchen: Wir haben Ka Grens Verbindungsmann aufgespürt, er gehört tatsächlich der Botschaft der Allianz an, ein Computeroperator. Sein Name ist War'let'neh.« »Bueno. Werden Sie ihn unter die Lupe nehmen, oder soll ich es tun?« »Zusammen könnten wir am meisten erreichen. Die H'Allevae beeindruckt man nicht durch Gewalt, überhaupt nicht, sondern durch Prestige und Statussymbole Dienstmarken und Dienstgrade, Polizeifahrzeuge und einen Berg von Schriftstücken und so weiter.« »Gut. Und am besten gehen wir gleich. Treffen wir uns bei der Botschaft?« »Auf jeden Fall. Und denken Sie daran, daß ein unauffälliges Vorgehen äußerst ratsam ist.« »Sie meinen: keine Sirenen, denke ich. Ja, sicher. Sie sind sehr empfindlich.« Das Botschaftsgebäude ist ein grauer Turm in der Mitte eines Häuserblocks, der alles übrige um zehn Stockwerke oder mehr überragt. Das Grundstück mit zahlreichen kunstvollen Steingärten ist durch einen Elektrozaun gesichert. Es sind noch einige Stunden bis Sonnenuntergang, weshalb die Rolltore aus Aluminium im Zaun noch geschlossen sind, nicht anders als die Rauchglastüren der Botschaft. Doch steht eine Wache vor einem der Tore. Bates findet Akeli auf dem Rücksitz eines schwarzen Gleiters, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt ist. Zwei Gorillas der Staatspolizei sitzen vorn. Als Bates herankommt, steigen die drei aus. »Also, Männer«, sagt Akeli. »Ihr folgt uns in einem gewissen Höflichkeitsabstand. Es ist nicht ratsam, eure Waffen sehen zu lassen. Aber haltet sie bereit für den Fall, daß ihr sie braucht.« Bates geht voraus. Ganz beiläufig gehen sie hinüber zu dem Wachtposten, ein schwarzhaariger Mensch, der ihnen höflich zunickt. »Die Botschaft ist noch geschlossen, Sir.« »Ich weiß, mein Sohn.« Bates holt das Mäppchen mit der Dienstmarke und klappt es auf. »Deshalb sind wir so früh. Wir möchten kein Aufsehen, damit niemand sein Gesicht verliert. Wir müssen aber dringend mit dem Sicherheitschef sprechen.« »Ich werde ihn rufen, Sir. Ich darf Sie nicht einfach hereinlassen.« Er nimmt das Intercom vom Gürtel und sagt leise ein paar wenige Worte. Es ist die sogenannte >Alltagssprache<, an der die H'Allevae auch andere Spezies teilhaben lassen, während sie die übrigen Elemente ihrer komplizierten Sprache geheimhalten. 224 225 »Er ist auf dem Weg, Sir. Muß nur noch seine Schuhe 1 anziehen.« »Okay, danke.« Während sie warten, steckt Bates die Hände in die Taschen und blickt an der glänzenden Glasfront in die Höhe, in deren unterem Teil sich die blauen und violetten Plastbetonbauten von gegenüber spiegeln. Oben schimmert goldgelb die untergehende Sonne. Plötzlich zischt ihm Akeli etwas zu. Vielleicht vierzig Meter entfernt, zwischen den Felsen und Miniaturbäumen eines Steingartens, ist ein Hüpfer aufgetaucht und läuft auf sie zu, die langen Arme flehend ausgestreckt, während er, die Beine mit den kugelförmigen Kniegelenken in kurioser Bewegung, über Steine springt und mühsam das unebene Gelände ausbalanciert. »Hilfe! Asyl! Retten Sie mich!« Bevor Bates ein Wort sagen kann, hört er das scharfe Knacken einer altertümlichen Schleuder, wie sie bei den H'Allevae früher benutzt wurde. Mit einem gellenden Aufschrei macht der Überläufer seinen letzten Sprung und fällt, sein Hinterkopf ist zertrümmert. Erst als die Wache am Zaun seinen Arm ergreift, bemerkt Bates, daß er seine Pistole gezogen hat. »Bitte, Sir, keine Gewalt. Sicher wünschen Sie keinen diplomatischen Zwischenfall?« »Hör mal, Kleiner! Dafür haben deine verdammten Meister schon gesorgt.« Er schüttelte die Hand des Mannes ab. »Akeli, gehen Sie zu ihrem Wagen! Rufen Sie die Präsidentin an!« Aschfahl im Gesicht geht Akeli hinüber. Inzwischen haben sich die Glastüren weit geöffnet, es wimmelt von Hüpfern auf dem Gelände. Bates fühlt sich sehr allein, als eine Gruppe von ihnen auf ihn losmarschiert, aber auf den barschen Befehl eines Offiziers hin verstreut sich der Haufen in alle Winde. Der Mann in roter Uniform mit goldenen Tressen und bunten Emailorden schwenkt herum, macht einen Sprung und trottet dann auf ihn zu. »Den'ah'vel', nehme ich an.« Bates achtet peinlich genau auf die Verschlußlaute. Kein günstiger Zeitpunkt, um einen Namen zu verunstalten. »Bates, nehme ich an?« Der Hüpfer begrüßt ihn mit einer knappen Verbeugung. »Also, Mann, tut mir leid. Sieht ja aus, als ' ach, wie nennt man das bei euch als würden wir unsere schmutzige Wäsche vor aller Öffentlichkeit waschen, nicht? Ich war auf dem Weg, um mit Ihnen zu sprechen, und nun das. Ist es wichtig, was Sie mir zu sagen haben? Ich habe jetzt natürlich alle Hände voll zu tun.« »Ich weiß, ich weiß. Alles, was ich möchte, ist, mit einem Computeroperator namens War'let'neh sprechen.« »Tatsächlich? Himmel, Sie haben vielleicht ein Pech, Mann.« Er dreht sich um und zeigt mit einem Arm auf die Gruppe von Hüpfern, die sich um die Leiche angesammelt hat. »Er ist tot.« Bates' Magen krampft sich zusammen, so wütend ist er. Den'ah'vels lange Nase legt sich in Falten, seine Mundwinkel hängen herab: Es ist eine recht gute Imitation eines traurigen Menschengesichts. »So ein Pech, daß Sie nicht früher kamen. Dieser Mann war in Schwierigkeiten, seit er sich an die dritte Frau eines Kollegen herangemacht hatte. Ich wußte, daß die Dinge irgendwann außer Kontrolle geraten würden, aber wir haben diesen Brauch ...« »Ja, ich weiß. Auch bei uns gab es das, Blut mußte fließen, und niemand durfte es wagen, sich dazwischenzustellen. Ich nehme an, daß es eine ganze Reihe von Zeugen gibt, die von der Geschichte wissen.« »Aber sicher.« Obwohl Den'ah'vel ein guter Schauspieler ist, kann er den Unterton von Selbstgefälligkeit nicht vermeiden. »Sie können gern mit dem Mann sprechen, der ihn getötet hat, wenn Sie wollen. Schauen Sie sich auch die Waffe an. Es ist vorgeschrieben, diese alte Waffe zu benutzen, wenn man um seine Ehre kämpft.« »Ach ja, ich verstehe.« 226 227 Den'ah'vel lächelt. Bates lächelt. Es gibt absolut keine Möglichkeit zu beweisen, daß es Mord war daß hier ein Zeuge, ein Informant beseitigt wurde. Daß es Blutrache war, würde jeder Hüpfer bestätigen, wenn es sein Vorgesetzter befahl. Und meist war ein Befehl gar nicht nötig; sie logen auch so, denn für die Hüpfer war Wahrheit nichts anderes als das, was ihrer Rasse nützte. Doch kann sich Bates durchaus, nur so aus Spaß, ein wenig revanchieren. »Allerdings hat das Opfer um Asyl gebeten, so daß die Staatspolizei in dieser Sache ermitteln muß. Sie werden sich hier umsehen müssen, sie werden eine Menge Fragen haben und eine Stellungnahme nach der anderen anfordern. Sie werden Sie einen Berg von Formularen ausfüllen lassen, damit sie die nötigen Angaben im Zentralrechner erfassen können. Es ist leider wirklich lästig, Sie werden einige Tage damit beschäftigt sein. Ach so, Sie werden auch jede Menge aufdringlicher Reporter abwimmeln müssen, darauf könnte ich wetten.« Den'ah'vels Lächeln ist schnell genug verflogen. Bates ist zufrieden. So stehen sie da und beobachten die geschäftige Menge um den Toten, bis Akeli zurückkehrt und verkündet, daß ein Beamter des Außenministeriums und zwei weitere Polizisten auf dem Weg seien. Das erste Mal in seiner Karriere ist Bates hocherfreut darüber, einen Fall an die Staatspolizei abgeben zu dürfen. Auch wenn er sich immer bemüht, tolerant zu sein, die H'Allevae gehen ihm schrecklich auf den Geist. Am späten Nachmittag erwacht Mulligan, als John Hancock laut fluchend und schimpfend das Gerumpel in der Halle durchstöbert. Aus einer Ecke des Raums dringt ein wenig gedämpftes Licht, es kommt von einer kleinen Notlampe, I die sich aus der Wand gelöst hat und nun an den altmodischen Drähten baumelt. 228 »Da ist er«, sagt John Hancock schließlich. »Dachte schon, er war' verloren, aber da ist er.« Es ist ein zerlumpter Sonnenschutz, den er sorgfältig über dem Arm zusammenfaltet. Er kommt herüber zu Mulligan und gibt ihm wieder einen leichten Tritt. »Paß gut auf, Weißer. Ich gehe jetzt, um mit Gott zu reden. Am besten fängst du gleich an zu beten, daß er dich kaufen will. Wenn nicht, machen wir kurzen Prozeß.« »Ja, hör mal, das solltet ihr nicht tun. Schade um das schöne Geld. Ich wette, daß Dr. Carol mich kaufen wird, wenn Gott mich nicht haben will.« Das Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt, kratzt sich John in der Achselhöhle und überlegt. »Na ja, wir werden sehen«, meint er schließlich, »erst frag' ich mal Gott, das gehört sich so.« John verschwindet im Tunnel. Mulligan hört Tritte, dann das Fluchen seiner Kumpane, die er aus dem Schlaf geschreckt hat. Nach einigem Hin und Her kommen die beiden in die Halle, um Mulligan zu bewachen, solange John unterwegs ist. »Ich brauche Wasser«, verkündet Del. »Ohne Wasser gibt's keinen Kaffee.« Alter Veteran nimmt eine Blechtonne und trottet davon. Wilder Mann geht hinüber zu dem Holzhaufen, der entlang der Wand aufgeschichtet ist. Er nimmt die Dornenbaumzweige, einen nach dem anderen, und bricht sie, indem er auf ein Ende tritt und mit zwei Händen das andere zu sich heranbiegt; es sind dicke Zweige. Mulligan kann sich gut vorstellen, daß wilder Mann statt des Holzes seinen Hals zwischen den Händen haben könnte. »Willst du Kaffee, Weißer?« fragt Del. »Gerne. Sag mal, wie lange muß John denn gehen, wenn er mit Gott sprechen will?« »Ein paar Stunden oder so. Warum?« »Na ja, schließlich geht es darum, ob ich dran glauben muß oder nicht. Verstehst du?« 229 »Kann man verstehen, ja.« Sie denkt eine Weile nach »Also, er braucht gewöhnlich etwa eine Stunde bis dorthin, und so lange auch für den Rückweg. Du wirst es also bald wissen.« Sie erwartet wohl, daß er jetzt dankbar ist. Wieder einmal nimmt er alle seine Kräfte zusammen und versucht, Nunks zu rufen. Es geht nicht. Nach ein paar Minuten gibt er es auf. Er liegt auf seinem Lager und sieht Del zu, während sie in dem Tragekorb mit den Rationen herumwühlt. Er denkt nach über diese Barriere, die Glasglocke, die ihn umgibt. Ein Kraftfeld? Die lästige Gehirnerschütterung hat er fast überstanden, er kann wieder denken. Und er bemerkt, was ihm längst hätte auffallen müssen: Es ist kaum denkbar, daß ein Mensch mit Psi-Kräften eine solche Sperre aus einiger Entfernung aufrechterhalten kann. Er ist sicher, daß keiner dieser Verrückten hier ein Para ist, und nach Dels Auskunft muß dieser >Gott< mindestens fünf Kilometer entfernt sein. Und er erinnert sich an ein Detail, daß er während seiner Ausbildung am Parapsychologischen Institut trotz seines Widerwillens aufgeschnappt und behalten hat: Ein Dozent erwähnte, daß es theoretisch möglich sei, Psi-Funktionen mit elektronischen Geräten zu beeinflussen. Und eine Barriere war besonders einfach zu bewerkstelligen es genügte ein einfacher Radiosender, der auf die Omega-Frequenzen eines Paras abgestimmt war. Er würde jeden Telepathen innerhalb eines bestimmten Bereichs blockieren. »Del, hör mal - kann ich dich etwas fragen?« »Sicher.« »Was wird Gott für mich bezahlen? Weißt du das?« »Was er auch bezahlt hat, als John den Teufel getötet hat, nehme ich an. Whisky in großen alten Plastikflaschen.« »Das ist alles, was John bekommen hat, nur Whisky? Ich meine, den Teufel zu töten, das ist schon eine Sache. Da hätte Gott schon etwas großzügiger sein können.« »Das gehört sich nicht, Weißer, an Gott herumzumeckern.« Aber sie unterbricht ihre Arbeit und denkt nach; mit den Händen fährt sie sich durchs Haar. »Wir haben noch mehr von Gott bekommen. Ein schönes Lasermesser, um Fleisch und das alles schneiden zu können, und sogar ein Gerät, um es aufzuladen.« »Und den Diamanten.« Das sagt alter Veteran, der mit der gefüllten Wassertonne zurückkehrt. »Du hast den großen Diamanten vergessen.« »Ein Diamant?« Mulligan spielt den Erstaunten. »Ein Diamant von Gott persönlich? Das ist unglaublich: Was meint ihr, könnte ich ihn mal sehen? Das muß toll sein.« »Warum eigentlich nicht? Entweder kauft dich Gott, oder du wirst tot sein. Also kannst du es niemandem verraten.« Alter Veteran stellt die Tonne ab und macht sich zwischen den Bergen von Trödel auf die Suche. Del kocht Kaffee. Als sie die dampfende Flüssigkeit in die rissigen Becher füllt, ist er beim dritten Haufen angelangt. Damit Mulligan den Becher selbst halten kann, löst sie die Handfessel. »Mach keine krummen Sachen, Weißer, oder alter Veteran und wilder Mann werden dich grün und blau schlagen.« »Ich werde euch keinen Ärger machen.« Mulligan stellt den Becher auf den Boden und reibt sich erst einmal die schmerzenden Handgelenke, bevor er trinkt. In den Fingern prickelt es. Den Becher hat er fast geleert, als alter Veteran triumphierend aufschreit und einen leuchtendroten Kasten in der Hand schwenkt. Er ist aus einem matt glänzenden Metall, das Mulligan noch nie gesehen hat. »Da ist er«, sagt der Lizzie und kommt herüber. »Da wirst du Augen machen, Weißer.« Als alter Veteran den Deckel aufspringen läßt, hält Mulligan den Atem an. Es ist ungeheucheltes Erstaunen: In dem Kasten ist ein riesiger Bleikristall, geschliffen zu einem unsymmetrischen zehnseitigen Polyeder, wie man sie von den Hüpfern kennt. In seinem Zentrum eingeschlossen kann man einen trüb-blauen Fleck erkennen, nicht größer als ein Fingernagel. 230 231 »Oh, Donnerwetter! Mann, das ist vielleicht ein Ding. Kann ich es anfassen?« »Von mir aus«, sagt alter Veteran, »davon wird er nicht kaputtgehen.« Sobald Mulligan den Kristall mit der Fingerspitze berührt, kann er ein Pulsieren fühlen. Vom Zentrum geht ein Energiestrom aus, der an- und abschwillt in einem gleichbleibenden Rhythmus. Er kneift die Augen zusammen und] erkennt, daß der blaue Fleck aus winzigen Einzelteilen besteht, ein Modul, das man in den Kristall implantiert hat. »Eines möcht' ich wetten«, sagt Mulligan, »daß Gott nämlich gesagt hat, ihr sollt das hin und wieder in die Sonne legen.« »Klar hat er das.« Del kommt näher, um einen Blick auf das Geschenk Gottes zu werfen. »Du weißt wirklich eine ganze Menge, mein Kleiner.« »Na ja, weißt du, ich kann ganz gut raten. Ich sag' dir noch was: Das ist kein Diamant, das ist ein Stück Glas.« »So ein Quatsch, was redest du da. Es ist ein Diamant!< »Glas.« »Diamant. Gott gibt seinen Kindern doch kein Glas.« Mulligan wünscht sich, daß sie bei dieser Schlußfolgerung bleiben würde. Ganz unschuldig wendet er sich an alter Veteran. »Und? Was meinst du: Glas oder Diamant? Wollen wir wetten?« »Womit willst du denn wetten, Mann.« Alter Veteran läßt die lange Schnauze vibrieren, ein unfreundliches Grinsen nach Lizzie-Art. »Aber ich sage: Diamant, genau wie Del. He, wilder Mann! Friß nicht den ganzen Speck und komm mal her!« Wilder Mann wischt die fettigen Finger an seinem Bart ab, dann kommt er herüber und mustert den Kristall. »Ja«, sagt er schließlich, »jetzt, wo er es sagt, kommt es mir wie Glas vor.« »Idiot!« Alter Veteran ist beleidigt. »Was redest du für einen Unsinn.« »Paß auf deinen Schnabel auf, Wurmfresser!« schimpft Wilder Mann. Alter Veteran läßt wieder die Schnauze vibrieren. »Das kann man sehr leicht herausfinden, wißt ihr das?« Mulligan ist in der Form seines Lebens. »Wenn man einen Diamanten fallen läßt, dann macht ihm das überhaupt nichts aus.« »Genau! Da hat er recht.« Wilder Mann geht einen Schritt auf alter Veteran zu. »Gib mal her!« »Kommt nicht in Frage!« Del kreischt auf, aber es ist zu spät. Wilder Mann stürzt sich auf alter Veteran, der schlägt zurück, und der Kristall saust durch die halbe Halle, bis er auf den Boden schlägt und in tausend Stücke zerspringt. Sofort fühlt Mulligan sich besser. Obwohl dieses Kraftfeld ihm nie bewußt gewesen war, spürt er sein Verschwinden. Es ist ein Gefühl der Erleichterung, wie man es verspürt, wenn man endlich die engen Schuhe von sich kicken kann, die man den ganzen Tag über tragen mußte. Er fühlt sich wiederhergestellt. »Da schaut euch die Bescherung an, ihr Idioten!« heult Del. »Wenn John zurückkommt, werdet ihr was erleben!« »Warum denn«, sagt Mulligan, »Gott hat euch hereingelegt, oder? Und die beiden hier haben es herausgefunden.« Del legt den Kopf auf die Seite und denkt nach. »Vielleicht hast du recht«, meint sie dann. »Aber ich werd' es ihm nicht sagen, wenn er kommt.« »Ich werd's ihm sagen«, sagt wilder Mann, um sie zu beruhigen. »Der Weiße hier ist gar nicht so übel.« Die drei trotten davon. Del macht sich ans Kochen, alter Veteran fegt die Splitter des Kristalls beiseite und läßt sie zwischen dem Gerumpel verschwinden. Wilder Mann kauert sich auf den Boden und starrt ins Leere, doch sieht er so angestrengt aus, daß Mulligan vermutet, daß er, zum ersten Mal seit langer Zeit, nachzudenken versucht. Mulligan 233 trinkt seinen Kaffee aus, dann macht er sich an die Arbeit: Bemüht um einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck versucht er mit aller Kraft, Nunks zu erreichen. Nunks ist nicht weniger müde als jeder andere in diesem Haus, müde genug, um noch Stunden schlafen zu können. Doch schreckt er am späten Nachmittag aus seinem Schlaf und stellt fest, daß er an Mulligan denkt. Seine Spezies kennt keine Schläfrigkeit, ist niemals schlaftrunken; ohne Übergang ist man entweder wach oder schläft. Deshalb ist es nichts Ungewöhnliches, daß er sofort hellwach ist und sich an seinen Traum erinnern kann: Mulligan, hat er geträumt, sitzt unter einer Glasglocke und versucht verzweifelt, herauszukommen; mit den Händen schlägt er gegen die Wandung, bis sie bluten. Nunks steht auf, schüttelt sein Fell und greift nach der Bürste. Er denkt nach; sicher hat das Traumbild eine Bedeutung, aber es ist eben nur ein Symbol. Nach dem Bürsten setzt er sich in den Sessel und schickt seinen Geist auf die Reise, hinaus zum Rattennest. Einige Minuten sitzt er ruhig da, lauscht dem ewigen Gemurmel der armen Seelen dort im Rattennest. Weit entfernt, kaum hörbar, erkennt er die Insektenfrau, die zu schlafen scheint, wo auch immer sie jetzt ist. Mit einem Schlag zerbirst die Glasglocke anders als in der Sprache seines Traums läßt sich dieser Eindruck nicht beschreiben: Mulligans Gefängnis, die für seine Psi-Kräfte undurchdringliche Wand, ist zerstört. Kaum wagt Nunks zu atmen; er konzentriert sich mit aller Kraft und sendet ein Signal, bis er schließlich eine Antwort erhält: Mulligan ruft seinen Namen, immerzu. Kleiner Bruder! Freude. Wo bist du jetzt? Jubel, Dankbarkeit. Tunnelsystem unter dem Rattennest. Sehr alt, erste Kolonie. Wo ist der Tunnel? Unter dem Rattennest. Weiß es nicht genauer. Erleichterung. Todesangst. Erleichterung. Wir finden dich. Beeilt euch!! Todesangst. Die Verrückten haben mich gefangen. Halten den Psi-Killer für Gott, wollen mich ihm verkaufen. Er wird mich töten!! Bald, bald. Ich wecke Lacey, sage es ihr. Halte Kontakt, kleiner Bruder, unbedingt, aber nur schwach der Feind! Und schon rennt er durch den Garten, und erst jetzt fällt ihm ein, daß er es Lacey ja nicht erklären kann. Natürlich kann er Lacey und Sam wecken, aber wie soll er ihnen die Geschichte beibringen? Er stöhnt auf, beginnt wieder die Fäuste zu ballen, dann zwingt er sich zur Ruhe und eilt die Treppe hinauf. Im Büro liegt Sam Bailey noch immer auf dem Sofa, nur mit einer roten Unterhose bekleidet, einen Arm übers Gesicht gelegt. Buddy summt vor sich hin. Er schwenkt die Sensoreneinheit zu Nunks. »Soll ich die Programmiererin wecken?« Nunks nickt und hofft, daß Buddy das versteht, dann packt er Sam an der Schulter und schüttelt ihn. Mit einem Fluch und einem Fausthieb, der ins Leere geht, setzt Sam sich auf. »Oh, Nunks«, murmelt er. »Du bist es? Was ist los?« Genau das war das Problem. Nunks stöhnt und schwenkt verzweifelt seine Arme, während Sam ihn anstarrt, als wolle er durch bloße Willenskraft Nunks telepathische Signale verstehen . »Darf ich einmal stören?« fragt Buddy. »Versuchst du, uns etwas über die Einheit Mulligan zu sagen?« Nunks nickt wieder, und da kommt auch schon Lacey herein, die rasch noch ihre blütenweiße frische Bluse in die blauen Shorts steckt. »Wenn es euch recht ist«, sagt Buddy, »könnte ich ein kleines Programm bereitstellen, das ich selbst entwickelt habe. Es könnte die Sache sehr vereinfachen. Es ist eine Art 234 235 Schlüssel, der durch eine Folge von Ja-Nein-Entscheidungen und den entsprechenden Querverbindungen zu dem gewünschten Ergebnis führt.« »Tu das, Buddy«, sagte Lacey. »Hast du schon Kaffee gemacht?« »Meine Untereinheit für die Hausarbeit hat den Kaffee schon aufgesetzt, bevor ich dich geweckt habe.« Der Kaffee ist in dem Augenblick fertig, als das Programm auf dem Bildschirm erscheint. Nunks staunt, wie elegant das Problem gelöst ist. Eine Liste von Ja/Nein-Fragen, die über Wenn/Dann- Verknüpfungen ans Ziel führen. >Ist die Einheit Mulligan funktionsfähig? Wenn ja, dann weiter zu Schritt 50; wenn nein, dann zu Schritt 2< - und so weiter. In wenigen Minuten hat er ihnen beigebracht, daß Mulligan lebt, gefangengehalten wird und an einem unbekannten Ort sich befindet, über den es jedoch Hinweise gibt. Und nachdem Buddy das Ganze rasch zusammengefaßt hat, liefert er sogar das richtige Stichwort, damit er ihnen klarmachen kann, daß es sich um die unterirdische Kolonie der ersten Siedler auf Hagar handeln muß. »Karten«, sagt Buddy. »Wir brauchen einige Spezialkarten, die meines Wissens in einer Datenbank dieses Planeten gespeichert sind. Wenn ihr mich einen Augenblick entschuldigt?« Auf dem Monitor blitzen Zahlen auf, eine Reihe von Namen - Codewörter für den Zugang zum Zentralrechner der Universität von Freehaven, gut hundert Kilometer von hier. Dann bleibt der Bildschirm einige Sekunden dunkel, bis eine Flut von Daten sich darauf ergießt. So rasch werden die Seiten auf dem Bildschirm umgeblättert, daß man nicht folgen kann; Holographien und Diagramme blitzen auf, überall dieses rätselhafte Wort NASA, bis sich schließlich ein Kartenausschnitt zeigt. »Kannst du mit Mulligan Kontakt aufnehmen und ihm dieses Diagramm senden?« sagt Buddy. »Vielleicht kann er darauf erkennen, wo er ist.« Nunks schüttelt den Kopf und hebt die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. »Du kannst keine Bilder übermitteln?« Wieder schüttelt Nunks den Kopf, immerhin erleichtert, daß die Maschine so schnell begreift. Er sendet ein Signal und erreicht sofort Mulligan, der ihn erwartet hat. Kleiner Bruder. Beschreibe, wo du bist. Beschreibe: runder Raum, Durchmesser achtzehn Meter. Darin: überall Trödel, Schiebetür in der Wand aus grauem Plastbeton; neunzig Grad seitlich Tunnelöffnung. Sie machen Feuer vor dem Tunnel, Rauch zieht hindurch, also Öffnung nach draußen. Dieses letzte Detail stimmt Nunks hoffnungsvoll. Er gestikuliert, sucht auf der Bildschirmkarte, nimmt Buddys Programm zu Hilfe, bis er schließlich eine Stelle findet, die Mulligans Beschreibung entspricht - die Versammlungshalle aus der Zeit des ersten Gouverneurs. Die Karten erfassen einen großen Teil des Terrains, so daß Buddy die Position im Rattennest auf einen Kilometer genau bestimmen kann. Waren sie erst einmal da, dann würde die Rauchsäule den Rest besorgen - vorausgesetzt natürlich, daß das Feuer auch brannte. »Dann wollen wir uns nicht lange aufhalten«, sagt Lacey. »Sam, du weckst Rick, er soll hier oben auf Maria aufpassen. Ach so, du solltest dir besser etwas anziehen, Mann.« »Zufällig hatte ich das gerade vor.« Sam trägt es mit Würde. »Okay, Buddy, das war ganz prima. Mach so weiter, ja?« »Ich werde mein Bestes tun, um auch weiterhin zu Ihrer Zufriedenheit zu arbeiten, aber ich möchte darauf hinweisen, daß meine Programmiererin die Maßstäbe meiner Beurteilung setzt.« »He, du arrogante Siliciumschüssel ...« »Das reicht Sam«, unterbricht ihn Lacey. »Zufällig hat er recht, außerdem haben wir jetzt keine Zeit, darüber zu streiten.« Mit einem gekränkten Winseln sammelt Sam seine Klei- 236 237 der vom Fußboden auf und verschwindet ins Bad. Buddy summt kurz, dann läßt er eine Reihe von Klicklauten hören. »Operation abgeschlossen, Programmiererin. Ein Polizeikontingent wird euch in der Nähe des Kraters erwarten.« »Buddy! Wie hast du das geschafft!?« »Ich habe es mir ausgedacht, während du geschlafen hast. Ich habe mich ganz einfach in den elektronischen Dienstplan eingeschaltet und die einzelnen Einheiten bestimmten Aufgaben zugeteilt. Eine davon war die Suche nach Mulligan, und gerade habe ich diesem Einsatz die höchste Priorität gegeben, als Notfall. Weil die Suche ohnehin geplant war, fiel es dem Einsatzleiter nicht weiter auf. Durch meine Verbindung mit dem Polizeihauptcomputer weiß ich, daß sich soeben ein Fahrzeugkonvoi auf den Weg macht. Ich habe im Einsatzplan auch den vermutlichen Aufenthaltsort Mulligans angegeben.« »Muy bueno, mein Schatz.« Lacey tätschelt sein Gehäuse. »Schlicht und einfach phantastisch. Okay, Nunks, wir werden dir deinen Freund ziemlich rasch herausholen.« Zu gerne hätte Nunks jetzt sprechen können, eine sarkastische Bemerkung war einfach fällig. Natürlich, alles das tut sie ausschließlich um seinetwillen. Er kann sich nur wundern. Die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu täuschen, ist schlechthin erstaunlich. »Was soll das heißen, daß die Leute für die Vermißtensuche im Rattennest auf dem Weg sind?« Bates ist so wütend, daß er brüllt wie auf dem Kasernenhof. »Wer, zum Teufel, hat den Befehl gegeben?« »Sie doch, Sir.« Sergeant Parsons weicht zurück bis zur Wand, als wäre er am liebsten mit ihr verschmolzen. »Ich meine, Sir ... es sah zumindest so aus, als hätten Sie das. Es stand im Dienstplan, ganz normal, mit Ihrem Codewort und allem, ich schwör's!« Fast hätte Bates wieder gebrüllt, doch da fällt ihm Buddy ein. Als er sich über den Datendiebstahl bei der Staatspolizei klammheimlich lustig machte, war ihm nicht bewußt, was für ausgeklügelte Sicherungen Buddy umgangen hatte. Sich in den ganz gewöhnlichen Polizeicomputer einzuklinken, war für ihn sicher nicht schwieriger als eine Quadratwurzel zuziehen. »Na schön, ich hab' es nicht befohlen«, sagt er, so ruhig er nur kann. »Aber es ist zu spät, um sie zurückzurufen. Das einzige, was wir tun können, ist hinterherfahren. Das heißt, ich werde es tun; Sie bleiben hier und schlafen erst mal. Sehen ja aus, als ob Sie gleich umkippen.« »Ich schaff's noch ein paar Stunden, Sir.« »Aber ganz bestimmt. Gehen Sie sofort schlafen. Ich ruf Sie dann in drei, vier Stunden.« Bates läßt den Chefwagen stehen und nimmt einen geländegängigen Gleiter. Doppelt so schnell wie erlaubt jagt er davon, mit Blaulicht und Sirene, und steigt so hoch wie möglich auf, um die Pendler nicht zu gefährden, die nun bei Sonnenuntergang auf dem Weg zur Arbeit in der Stadt sind. Als er erst die Luftkorridore der Stadt hinter sich hat, geht er wieder tiefer und gibt Vollgas. Unter ihm wirbeln die Kompressoren eine Staubwolke wie bei einem Sandsturm auf, ein dunkler Streifen, der seiner Bahn folgt. Schließlich hört er im Intercom, vor dem Hintergrund des üblichen Stimmengewirrs, den Funkverkehr zwischen dem Anführer des Konvois zum Rattennest und den übrigen Maschinen. Er schaltet das Mikrophon ein und meldet sich. »Sergeant Nagura? Hier ist Bates. Wo fahren Sie hin?« »Dahin, wo Sie uns hingeschickt haben, Sir.«Ihre Stimme hört sich etwas unsicher an. »Auf dem Einsatzplan steht Nova-Station, Sir, und wir sollen dort einige Zivilisten treffen.« »Genau so ist es, Sergeant.« Ganz kurz fragt er sich, warum er sich das alles von einem cleveren Computer bieten läßt, aber Buddy hat es so geschickt eingefädelt, daß er wie ein Idiot dastehen würde, wenn er nicht mitspielt. »Ich kann Sie jetzt sehen und werde mich Ihnen anschließen. Ich habe beschlossen, mit Ihnen zu kommen.« »Verstanden, Sir. Willkommen an Bord, Chief. Soll heißen, habe ganz und gar nichts dagegen. Scheint ja eine größere Sache zu sein.« »Da dürften Sie recht haben.« Auf halbem Weg um den Rand des Kraters für das Rehydrierungsprojekt mündet eine Nebenstraße in die Hauptstraße für die Gleiter. Kaum sind sie dort eingebogen, kann man schon den wunderschönen grauen Bentley sehen, der vor einer Reihe Kuppeln aus weißem Schaumstoff geparkt ist. (Dort ist die beeindruckende Formation von Antennen und Meßinstrumenten untergebracht, die rechtzeitig Alarm schlagen sollen, wenn der Rote Riese über Hagar etwa beschließen sollte, zur Nova zu werden.) Da Bates den Bentley nicht kennt, fragt er sich, ob vielleicht doch nicht Lacey hinter dieser Geschichte steckt; aber kaum ist der Konvoi gelandet, steigt sie aus dem grauen Gleiter und kommt auf ihn zu. Mit ihrem entwaffnenden Schulmädchenlächeln reicht sie ihm die Hand. »Ach, Chief, das freut mich aber! Daß Sie Ihre Meinung doch noch geändert haben!?« Schon wieder dieses Dilemma: Entweder gibt er zu, daß Buddy ihn zum Narren gemacht hat und den Polizeicomputer nicht weniger, oder er spielt einfach mit. Er schüttelt ihre Hand. »Prioritäten können sich ändern. Aber zur Sache: Wo steckt dieser verdammte Mulligan?« Drittes Zwischenspiel: Die Beute Den ganzen Nachmittag lang durchstreift Tomaso Porttown auf der Suche nach Mulligan. Weil er die Aura eines anderen Paras auch noch aus einer Entfernung von einem Kilometer identifizieren kann, war eigentlich zu erwarten, daß er ihn leicht finden würde. Doch seit Stunden schon ist ihm klar, daß er, der Mulligan nachjagt, der Gejagte ist. Das halbe Ghetto ist hinter ihm her. Wahrscheinlich wissen sie gar nicht, wer er ist, aber er hat genug fremde Gedanken aufgeschnappt, auch einiges an alltäglichem Geplapper, um zu verstehen, daß ein Mensch, den man den Bürgermeister von Porttown nennt, mehr als genug über ihn weiß. Zu viel, als daß er hier noch sicher wäre. Und nach allem, was er über Polar City erfahren hat, kann er sich denken, daß es besser für ihn wäre, von der Polizei geschnappt zu werden als von diesem dubiosen Bürgermeister. Schließlich waren Polizisten bestechlich. Er muß deshalb aufpassen, wohin er geht; die halbwegs gesitteten Bezirke von Porttown darf er nicht verlassen, denn hier hat er immer die Chance, sich unter die Passanten zu mischen oder in einem Lokal oder Laden zu verschwinden, der auch eine Hintertür hat. In den schlimmsten Gegenden Porttowns sahen es die Inhaber gar nicht gern, wenn jemand nur so durch ihren Laden schlüpfte, um jederzeit von Nutzen sein zu können. Aber wo immer er geht, Vielfraß geht mit ihm. Seine Gier ist immer gegenwärtig, ein ständiges Gemurmel, ein Hintergrundrauschen in seinem Geist. Fressen, fressen nichts anderes. Ein Gieren und Sabbern beim leisesten Geruch nach Eßbarem; muffige Sojaburger, Lizzie-Chips - keine Imbißstube, an der er vorbeigehen kann, ohne daß es in seinem Kopf ärgerlich knurrt und protestiert. Bis es schließlich eins wird mit seinem Haß und er sich dabei ertappt, daß er die Passanten prüfend mustert und überschlägt, wie viele Scheiben Fleisch man wohl aus ihnen machen könnte. Ein Mörder, nun gut, aber doch kein Kannibale! Bei Sonnenuntergang ist Tomaso so aufgebracht über diese zwanghaften Phantasien von Lizzie-Keulen und gegrillten Menschenrippchen, daß er Vielfraß anfährt, er | solle schweigen oder er würde ihm mit Antibiotika und Laserskalpellen auf den Leib rücken. Es sind natürlich telepathische Drohungen, doch muß er zu seinem Entsetzen feststellen, daß die beiden jungen Lizzies, die ihm in der Sackgasse entgegenkommen, ihn anstarren: Er hat laut gesprochen. Er hört sofort damit auf und bleibt stehen. Er lehnt sich gegen die Mauer aus Ziegelimitation und hebt die Arme, starrt auf die Hände und versucht scheinbar, mit größter Anstrengung die Fingerspitzen aneinanderzulegen. So kann man es häufig bei Geisteskranken sehen, die mit Psychopharmaka behandelt werden. Das Theater scheint die Lizzies überzeugt zu haben, er hört dieses zischende Hecheln, das einem menschlichen Kichern entspricht; sie laufen die Gasse hinunter und verschwinden um die Ecke. Tomaso bleibt an die Wand gelehnt stehen, sein Atem geht schwer, bis er sich wieder in der Gewalt hat. Er versucht, Vielfraß zu ignorieren, der jetzt etwas von Äpfeln und frischem Grünzeug wispert, die ganz nahe sein müssen. Hinter der Mauer vielleicht. Mit einem Ruck richtet Tomaso sich auf und ist hellwach, er erinnert sich: Als er die Psi-Blockade in Jack Mulligans Geist aufgebaut hat, da umschwirrten ihn ständig Erinnerungsfetzen über einen Garten, einen grün wuchernden Gemüsegarten mitten in Porttown. Am Ende der Gasse klappert ein 3-D-Ladenschild im Wind: A-bis- Z-Unternehmungen. Er konzentriert sich und richtet seine Antennen auf dieses Gebäude. Ja, eine schwache Andeutung von Mulligans Aura, aber sehr alt und überlagert von der zweier anderer Paras, eine davon auch stark verblaßt, die andere jedoch prä- 242 sent. Mulligan hat sich zweifellos vor einiger Zeit hier aufgehalten. Aber jetzt ist er weg. Der anwesende Para, obwohl etwas schwächlich und ganz ungeübt, bemerkt ihn plötzlich: Er fühlt das Mißtrauen, dann den Schreck, der eine Welle von Haß auslöst. Hastig schützt er sich mit einer Sperre und läuft davon. Von der Gasse gelangt man auf die Straße zum Raumhafen, doch geht er in die andere Richtung. Von den Toren des Hafens wird er sich fernhalten, was er jetzt am wenigsten brauchen kann, ist irgendein Uniformierter, der nach seinen Papieren .fragt - nicht, daß seine Papiere nicht über jeden Zweifel erhaben waren, aber man würde ihm nahe genug kommen, um den Essiggestank zu bemerken, der ihn wie eine Wolke umgibt. Noch immer kann er diesen wachsamen Geist spüren (es scheint eine Frau zu sein), der sich in dem Haus aufhält. Er nähert sich nun von der anderen Seite und findet schließlich wieder eine Gasse, die zu der Ziegelmauer führt. Oben auf der Mauer ist keine Alarmvorrichtung zu sehen, doch steckt in seiner Hemdtasche ein kleines Täfelchen, getarnt als Kreditkarte, das auch schwache elektromagnetische Felder und Ultraschallpulse aufspüren kann. Er fühlt die Wärme, die es ausstrahlt: das Alarmsignal. Bei der verrosteten Tür auf der Laderampe zögert er; noch während er nach dem unter seinem rechten Ärmel versteckten Ultraschalldietrich greift, fragt er sich, ob es das Risiko überhaupt lohnte. War es nicht viel zu gefährlich, diese Para da drinnen zu töten? Doch bevor er den Dietrich hervorgeholt hat, spürt er das unbeholfene Signal von John Hancock, der über den kleinen Psi-Verstärker spricht, den er im Rattennest zurückgelassen hat. Großer und allmächtiger Gott, dein Diener ruft zu dir. Erbarme dich meiner und erhöre mein Gebet. Dein Gott und Herr erhört dich. Was, zum Teufel, ist jetzt wieder los? Allmächtiger Gott, wir haben einen deiner Feinde gefangen. Ein blonder Weißer, war hier im Rattennest. Ein Polizeispitzel, Freund von Dr. Carol. Wohl nie zuvor war ein Gott mehr erfreut über das Opfer eines seiner Diener. Ein Blutsopfer, denkt Tomaso, das würde es wohl werden: Es mußte dieser Mulligan sein! Der Herr dein Gott ist gnädig. Mit Wohlgefallen nimmt er dein Opfer an. Endlich hab ich diesen Spion. Was möchtest du als Belohnung? , Whisky, o Herr, gib uns Whisky! Manna, du Esel, es heißt Manna. Gott gibt keinen albernen Whisky. Herr der Heerscharen, ich knie vor dir. Manna, ja. Hinter sich hört Tomaso ein leises Knirschen, eine Stiefelsohle auf Plastbeton. Das Messer ziehen und auf dem rechten Bein herumwirbeln ist eines; vor ihm stehen zwei Männer in Sonnenpelerinen. Sie mustern ihn. Einer hat die rechte Hand aus dem Schlitz seines Umhangs geschoben, sie hält die graue Trichtermündung eines Streulasers auf ihn gerichtet. »Was ihr tut, tut ihr richtig, hab' ich recht?« sagt Tomaso. »Der Bürgermeister will dich sehen, Kleiner. Laß das Messer fallen.« Statt dessen macht Tomaso einen Satz zur Seite, von der Laderampe herunter, und rollt auf dem Boden ab. Mit der Linken stößt er dem Mann mit dem Laser das Messer in den Rücken, mit der Rechten zieht er seine Pistole und feuert. Der Streulaser streift ihn, versengt die Pelerine; sie beginnt zu brennen. Doch hat er mit seinem scharf gebündelten Laser den anderen Mann zu Fall gebracht. Sicherheitshalber macht er noch eine Rolle und feuert ein zweites Mal, als er wieder auf die Beine kommt. Ohne die Hitze und die rasenden Schmerzen an seiner Seite zu beachten, bohrt er mit dem Strahl ein Loch in den Helm des Mannes, der schreiend auf der Straße liegt. Inzwischen ist der Rauch seiner brennenden Pelerine bis in den Helm gestiegen. Er bekommt keine Luft mehr, er würgt, doch kann er die Panik überwinden, seine Hände zur Ruhe zwingen; gerade rechtzeitig kann er den Helm vom Kopf ziehen und mit dem brennen- den Gewebe zu Boden werfen. Ein letztes Aufflammen, eine letzte schwarze Qualmwolke in dem rosa Dämmerlicht ein wahres Leuchtfeuer, das mehrere Straßen weit zu sehen ist. Hustend und schwankend geht er zurück zu dem Toten, um sein Messer zu holen. Als er es herauszieht, schießt ihm ein Strahl Blut entgegen. NEIN!! Ein Gefühl, kein Wort. Aber es brennt in seinem Geist, weit schmerzhafter als die verbrannte Haut. Vielfraß möchte die Toten haben, möchte sich in ihrem Blut wälzen, und so stark wird diese Vorstellung, daß sie ihn die Kehle eines der Männer aufschlitzen läßt, bevor er sich noch zurückhalten kann. Es sind seine infizierten Hände, die in das rote Blut eintauchen möchten. »Nein! Ich will nicht!« Er hält den Atem an, wieder hat er laut gesprochen. Er würgt, während er da steht, ohne erbrechen zu können. Die verletzte Seite pocht, es stinkt nach verbranntem Fleisch und Stoff. Hinter ihm hüstelt es plötzlich. Das blutige Messer noch immer in der Hand, fährt Tomaso herum und muß feststellen, daß er beobachtet wurde. In einer Türnische sitzt ein alter Mann mit einem spitzen, hohlen Schädel, in einem viel zu weiten Hemd und schmutzigen Shorts. Die dunkel verbrannten Beine sind spindeldürr, die bloßen Füße mit Schwielen und Beulen übersät. »Wie lange sitzt du hier schon?« Tomasos Stimme ist heiser vor Wut, doch ist er nur wütend auf sich selbst - daß er so tölpelhaft sein konnte, einen Zeugen zu übersehen, der nicht weiter als fünf oder sechs Meter entfernt saß und nicht einmal ein Para war. »Lange genug.« Die alten Augen, tief in den Höhlen und von zahllosen Falten umgeben, mustern ihn gelassen, als er hinübergeht und mit dem Messer ausholt. Kein Blinzeln, keine Regung, ein völlig kaltes Beobachten. Tomaso zögert. »Fressen und gefressen werden.« Die brüchige, dünne 244 Stimme bleibt ganz ruhig, als ginge es um alltägliche Dinge, vielleicht Baseballergebnisse. »Das Rad des Lebens und des Todes dreht sich immerzu, und letzten Endes geht es um nichts als Fressen und Gefressenwerden.« »Was meinst du damit?« »Nada.« Wieder zögert Tomaso, schmerzhaft ist ihm bewußt, daß er keine Zeit zu verlieren hat, daß er den alten Mann töten muß, den einzigen Zeugen. So schnell wie möglich muß er zum Rattennest. Die braunen Augen sind fest auf ihn gerichtet. »Ach, Scheiße!« Tomaso dreht sich um und läßt den Alten unbehelligt. Als er die Gasse hinunterläuft, brennt seine Seite wie Feuer, doch läßt der Schmerz allmählich nach. Angenehme Kühle breitet sich über der Wunde aus. Vielfraß ... mit einem Mal wird ihm klar, daß Vielfraß das verbrannte Gewebe verzehrt und eine kühlende, schmerzstillende Flüssigkeit ausscheidet. Er bleibt stehen. Keuchend ringt er nach Luft, während Vielfraß seine Arbeit tut. Als er sich umschaut, ist der alte Mann verschwunden, wahrscheinlich zum nächsten Telefon, um diesen Bürgermeister von Porttown zu benachrichtigen. Am besten würde er jetzt zur Botschaft der Allianz laufen, sagt sich Tomaso. Er weiß nun, daß er versagt hat, weiß, daß er Zuflucht suchen muß bei den Meistern. Die letzte Chance, sein Leben zu retten, obwohl auch das nicht sicher ist: Die H'Allevae mögen es nicht, wenn man versagt. In einen der hinteren Backenzähne hat man ihm eine Kaverne gebohrt, dort wartet ein Quantum Gift, wie die Likörfüllung einer Praline. Ein kleiner Happen vor dem langen Tod. Als er mit der Zunge über den Zahn spielt, spürt er, wie Vielfraß giert bei der Aussicht, seinen ganzen Körper in einer letzten Freßorgie verschlingen zu können, bevor es auch mit ihm zu Ende geht. Er haßt ihn, er hat ihm das Blut der Opfer verweigert, hat seine Hände nicht darin gebadet und ihn so um die 246 Möglichkeit gebracht, sich über ihre Körper auszubreiten und vielleicht weiterzuvermehren. So ist er mit ihm zum Untergang verdammt. Die Stimme des kleinen Jungen gellt ihm in den Ohren. Er schaut auf seine Hände, die bluten müßten von den Schlägen gegen die stählerne Tür; aber es sind noch immer die schweren, muskulösen Hände eines Mannes, der gelernt hat zu töten - auf jede erdenkliche Art. Er ist nicht mehr in diesem Zimmer mit dem endlos plätschernden Wasserfall, er ist frei. Nie wieder wird er dorthin zurückkehren. Das weiß er, das schwört er sich. Und fast lautlos beginnt er zu lachen, über einen Witz, den niemand sonst verstehen kann: Sein Leben lang war er allein, tatsächlich, aber mit seinem Sterben wird es anders sein. Als der auf so unübliche Weise zustandegekommene Polizeikonvoi sich in Richtung Rattennest in Bewegung setzt, schaltet Bates den Autopiloten ein, der die Steuerbefehle vom vorausfahrenden Transporter übernimmt. Er hat jetzt zu telefonieren. Zuerst tippt er Akelis Code ein, denn aus leidvoller Erfahrung weiß er, daß der ihn zuerst einmal warten lassen wird, bevor er sich meldet, wie dringend die Sache auch sein mag. Er ist angenehm überrascht, als nach wenigen Sekunden das Telefon piept und Akelis Gesicht auf dem Bildschirm auftaucht. »Bates, wie günstig, daß Sie jetzt von sich hören lassen.« Akelis Gesicht auf dem kleinen Monitor ist totenbleich. »Um es auf die flotte militärische Art zu sagen: Die Scheiße quillt schon aus den Luftschächten. Ich habe fast eine Stunde mit der Präsidentin telefoniert. Dieses Amnestieverlangen im 247 Fall des getöteten H'Allevae droht sich zu einem interstellaren Zwischenfall erster Kategorie auszuweiten.« »Und erste Kategorie heißt Landungstruppen hier bei uns?« »Genau, verdammt.« Akeli ist nun selbst so erschrocken, daß er sich ungewohnt kurz faßt. »Und zwar Carli-Truppen, wenn wir nicht ganz schnell die Karre aus dem Dreck ziehen können.« Bates gibt ein Gurgeln und Ächzen von sich, als würde er ersticken. »Der Carli-Botschafter hat offensichtlich eine Möglichkeit gewittert, ihre Einflußsphäre zu vergrößern«, fährt Akeli fort. »Es scheint, daß sie schon seit einiger Zeit etwas von einem möglichen Erstkontakt mit einer fremden Spezies wissen.« »Verfluchter Ka Pral! Dann hat er mich angeführt, der Kerl.« »Ich würde es nicht so kraß sagen. Er hatte Befehl vom Botschafter, nichts verlauten zu lassen. Er hat mich selbst angerufen, um es zu erklären, und mir aufgetragen, Ihnen sein Bedauern für diese unumgängliche Irreführung zu übermitteln. Ich glaube sogar, daß er die Sache bis vor wenigen Stunden selber nicht durchschaute. Aber wie dem auch sei, der Botschafter hat die Carlis, und ich zitiere hier die Übersetzung, zu den >Beschützern aller hilfsbedürftigen und im All verirrten Wesen< erklärt.« »Verdammt! Und natürlich hat die Allianz protestiert.« »Natürlich. Und auch unsere Präsidentin ...« Akeli macht eine Pause, um nach Luft zu schnappen wie ein balzender Frosch. »Sie hat erklärt, daß es an uns ist, Schutz zu gewähren, da dieses fremde Wesen sich auf unserem Staatsgebiet befindet.« »Sie hat sich mit beiden angelegt? Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Aber wie kommt der tote Hüpf er jetzt ins Spiel?« »Sowohl die Carlis als auch unsere Präsidentin haben die 248 offiziellen Verlautbarungen zu dem Todesfall als unglaubwürdig bezeichnet. Sie haben beide der Hauptfrau des Toten und dem Hauptneutrum aus dieser verrückten Familie Asyl angeboten. Die Konföderation verlangt, daß sie einer gemeinsamen Abordnung von Menschen und Carlis übergeben werden. Wenn man sie allerdings nicht aus der Allianz-Botschaft freibekommen kann, dann werden sie gefoltert, damit sie vor Gericht gegen den Toten aussagen.« »Ja, ich kenne die Hüpfer und ihre Vorstellungen von Recht und Gesetz, aber eine gemeinsame Abordnung?« »Eine gemeinsame Abordnung. Das bedeutet Carli-Truppen in unserer Stadt.« Bates würde gern fluchen, aber es fehlt ihm einfach die Luft dafür. »Sie müssen dieses fremde Wesen mit gebotener Schnelligkeit finden, Bates. Wir können von einer Frist von zwanzig Stunden ausgehen. Nicht Tage, Bates -r Stunden.« »Habe schon verstanden. Wenn die Carlis hier erst einmal Truppen gelandet haben, könnte es passieren, daß sie für immer hierbleiben wenigstens, solange sie nicht einbalsamiert in hübschen Paketen die letzte große Reise um ihre Sonne antreten.« »Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund. Aber wenn wir erst diesen Alien unter unsere Fittiche genommen haben, dann haben wir eine Trumpfkarte im Spiel. Für einen Anteil an den Handelsrechten mit den Fremden werden die Carlis sicher zu der Überzeugung kommen, daß auch eine Einheit unserer Truppen zum Schutz der Witwe und dieses Neutrums oder was das auch immer ist ausreichen könnte. Sie haben verstanden? Höchste Eile.« »Ja, ich ...« Bates muß lächeln bei diesem Gedanken, der keineswegs neu ist, vielmehr von Lacey stammt. Es war zu einem früheren Zeitpunkt dieses endlosen Alptraums, daß sie ihren Spaß damit trieb. »O Mann, mir ist da was eingefallen!« 249 »Tatsächlich? Etwas, das einer militärischen Präsenz der Carlis auf Hagar entgegensteht?« »Etwas, das jede Armee des ganzen Universums von der Stadt fernhalten wird und auch vom Rest des Planeten. Äh ... aber passen Sie auf, das muß sehr vorsichtig gehandhabt werden, sonst wird es hier eine Panik geben.« Bates zögert. Das wollte gut durchdacht sein. Akeli war damit überfordert, er würde selbst die Nerven verlieren und es zu früh bekanntgeben. »Da sind noch ein paar Dinge zu klären, bevor ich davon am Telefon reden kann. Aber eines müssen Sie für mich tun, ja? Ich wette, daß die Reporter wie die Schmeißfliegen um Sie herumschwirren?« »Leider haben Sie mit dieser Metapher völlig recht.« , »Ich möchte, daß Sie ein paar Andeutungen über ein medizinisches Problem in Polar City fallen lassen, etwas, von dem Sie noch zu wenig wüßten. Geben Sie am besten wörtlich wieder, was ich Ihnen jetzt sage: Unsere Wissenschaftler arbeiten daran, und es gibt keinen Grund für die Leute, sich zu ängstigen.« »Großer Gott, Bates ... wenn ich derart vage Andeutungen mache, dann wird das die Öffentlichkeit alles andere als beruhigen.« »Sie haben's erfaßt, mein Lieber. Genau das ist es, was ich erreichen möchte: daß eine Menge Leute sich zu fragen beginnt, was auf sie zukommt.« »Mich eingeschlossen. Was soll das heißen, ein medizinisches Problem?« »Wie ich schon sagte, es ist einiges noch zu klären. Aber wenn es sich bestätigen sollte, dann können wir der Presse ein paar Tips geben, sagen wir morgen früh. Und Sie werden sehen, daß die Carlis zu ihren Schiffen laufen werden, so rasch die kleinen Kuschelbeinchen sie tragen.« »Oho! Langsam begreife ich den versteckten Sinn Ihres Kriegsplans. Sehr schön, wir versuchen es mit List und der Büchse der Pandora.« »Und warum versuchen Sie es nicht mit ganz gewöhnli- 250 chem Merrkan! Aber ich denke, Sie haben begriffen, worum es geht. Am besten Sie machen sich gleich an die Arbeit. Wir haben ein dickes Brett zu bohren, aber es ist unsere einzige Chance.« Bates schaltet mit einer solchen Vehemenz ab, daß das Funktelefon wütend zu piepsen beginnt. »Entschuldigung«, sagt er. »Wirst du mich jetzt mit dem Hauptquartier verbinden, ja?« Ein vor Aufregung fast aufgelöster Beamter in der Einsatzleitung verbindet ihn sofort mit einem nicht minder aufgeregten und wieder hellwachen Parsons. Die Nachricht, die er nun wiedergibt, hat zweifellos beim ersten Hören seinen Adrenalinspiegel hochgetrieben. Kurz nachdem Bates das Hauptquartier verlassen hat, hat sich ein anonymer Anrufer gemeldet: Zwei Leichen lägen in einer Gasse vor A-bis-Z-Unter nehmungen. Dem einen Mann war das Gesicht von einem Laser weggebrannt, dem anderen hatte man eine tiefe Stichwunde am Rücken beigebracht und sicherheitshalber noch die Kehle durchschnitten. Der Tatort war inzwischen wieder geräumt, und zwei Beamte hätten sich an die Arbeit gemacht, in der Umgebung Zeugen zu finden. Ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen in Porttown, doch mußte es versucht werden. »Hört sich an, als hätte das etwas mit diesem Assassinen zu tun«, sagt Bates. »Nun, das haben wir auch gedacht, el jefe ...« Parsons zögert so merkwürdig. »Ach, da war noch ein Anruf, kaum daß wir die Leichen in die Gerichtsmedizin geschafft hatten.« »Ja? Derselbe Kerl?« »Nein. Diesmal eine Frau. Äh ... hat behauptet, sie rufe im Auftrag des Bürgermeisters von Porttown an.« »Mist! War doch sicher eine Verrückte, oder?« »Na ja, dann sicher die vernünftigste Verrückte, mit der ich je gesprochen habe. Hören Sie, sie hat uns erzählt, daß der Bürgermeister seine Gründe hätte, diesen Killer aus dem 251 Weg zu räumen, und daß er ihn die ganze Zeit hätte überwachen lassen. Gab uns eine wirklich gute Beschreibung, konnte uns sagen, was er den ganzen Tag gemacht hat ich meine, der Killer, nicht der Bürgermeister. Und das beste: Sie sagte, es gäbe noch eine Leiche in einem Hotel im Basar, und unsere Leute fanden tatsächlich einen Mann, dem man wie dem anderen die Kehle durchgeschnitten hatte.« »Sie haben das auf Band? Ja? Gut geben Sie es mir auf mein Terminal, über diese Frequenz hier. Ich werd's mir während der Fahrt anhören. Aber wahrscheinlich weiß die Sekretärin des Bürgermeisters, oder wer immer sie ist, auch nicht, wo der Dreckskerl jetzt steckt.« »Sie hat uns immerhin einen Tip gegeben. Jemand hätte gesehen, wie er mit einem gestohlenen Transporter in Richtung Rattennest verschwunden ist, sagt sie.« »Was!? Menschenskind, dort sind wir ja gleich.« »Ich wäre darüber nicht so erfreut. Sie sagt, er wäre bis an die Zähne bewaffnet.« »O Mann, als ob ich mir das nicht denken könnte.« Nunks, der sich auf dem Rücksitz des Bentley zusammengerollt hat, befindet sich in einem Zustand zwischen Trance und Wachheit. Zwar nimmt er die Außenwelt durchaus noch wahr das weiche Leder unter ihm, das Summen des Gleiters, die Stimmen von Sam und Lacey auf den Vordersitzen -, doch beansprucht der Psi-Kontakt mit Mulligan den größten Teil seines Bewußtseins. Heute ist es doppelt schwierig, denn er muß die Verbindung mit dem kleinen Bruder aufrechterhalten, dabei aber sein eigenes Signal so stark dämpfen, daß es vom Killer nicht entdeckt werden kann. So ausschließlich ist er darauf konzentriert, daß sie fast das Rattennest erreicht haben, bevor er bemerkt, daß die Insektenfrau ihn schon seit einiger Zeit zu erreichen versucht. Schwester! Überraschung, Erleichterung. Du weißt, was mit kleiner Bruder passiert ist? Ich weiß. Schuldgefühle. Meine Schuld. Ich habe euch nicht geantwortet bei eurer Suche. Großes Bedauern. Schwester! Freude, Erleichterung. Du hilfst uns? Ich helfe. Reue, Gewissensbisse. Habe zuvor aus Angst nicht geholfen. Verstehe. Bleib jetzt in Kontakt. Ich bin hier mit Freunden, wir nähern uns schnell. Wenn du Mißt, können wir triangulieren. Nicht nötig. Sehe Feind, gerade jetzt. Kriecht in eine Höhle. Wir fangen ihn, er muß sagen, wo kleiner Bruder ist. Wir finden kleiner Bruder. Du kennst diesen Mann, den Feind? Woher? Ich habe ihn gesehen. Er tötete meinen ... Schmerz, Verzweiflung. Ich verstehe, Schwester. Sprich nicht weiter. Bleib in Verbindung. Führe uns zu der Höhle. Nicht nötig. Ich zeige sie dir. Schau. Und Nunks blickt auf eine Szene, so klar und detailliert, als betrachte er ein Hologramm. Es ist irgendeine Ecke im Rattennest. Für einen Augenblick verschlägt ihm die Bewunderung für diese Leistung den Atem, seine Konzentration läßt nach. Dann hält er das Bild fest (natürlich im übertragenen Sinne) und prägt sich jede Einzelheit ein. Er sendet seinen Dank an die Insektenfrau, aber sie hört ihn nicht mehr, ist schon unterwegs im Rattennest. Nunks beugt sich nach vorn und tippt Sam auf die Schulter. Nach langem Gestikulieren und mit Unterstützung Buddys, der über das Terminal an Laceys Gürtel mitreden kann, hat Sam endlich verstanden, daß Nunks von jetzt an die Richtung angeben möchte. Hinter ihnen folgt die Schlange der Polizeifahrzeuge. Doch auch jetzt, als sie wie die wilde Jagd im Rattennest einfallen, peinigt Nunks der Gedanke, daß sie zu spät kommen könnten, denn er fühlt noch ein anderes Psi-Wesen herankommen, ein Bewußtsein, das ebenso stark wie das der Insektenfrau ist, aber absolut bösartig, und das nach Blut geradezu schreit. John Hancock kehrt zurück, als die anderen gerade das Frühstück beendet haben. Del hat ihm seinen Anteil in der Bratpfanne aufgehoben. Sie will es ihm auf einen Teller geben, aber er winkt ab und ißt aus der Pfanne. Zwischen den einzelnen Bissen erzählt er, Mulligan fällt es schwer, ihm zuzusehen. »Also gut, ich habe mit Gott gesprochen. Ich habe den Kopf auf den Heiligen Altar gelegt, genau wie er mir gesagt hat, und habe gesprochen. Er will diesen Weißen kaufen, basta. Er ist sehr zufrieden, daß wir ihn gefangen haben.« Mulligans Magen krampft sich zusammen, aber es liegt nicht an John Hancocks Tischmanieren. Wilder Mann und alter Veteran tauschen einen verstohlenen Blick aus, zwei Verschwörer. »Und was wird er uns bezahlen?« fragt wilder Mann. »Schnaps, wie das letzte Mal. Aber, Mensch, wir haben den Namen nicht richtig verstanden. Es ist Manna, sagt er, Manna vom Himmel, Mann!« »Das ist nicht genug.« Wilder Mann steht auf. »Was?« John legt die Pfanne beiseite und starrt ihn an. »Was ist in dich gefahren, Blödmann? Man kann nicht mit Gott herumstreiten!« »Klar kann ich das. Als du weg warst, haben wir herausgefunden, daß Gott uns betrogen hat. Erinnerst du dich an den Diamanten, den er uns gegeben hat? Es war Glas, kein Diamant!« John Hancock steht auf und wischt die Hände an seinen , Shorts ab. Er stellt sich ihm gegenüber. Del rafft das Kind an sich und drückt sich gegen die Wand, nicht weit von Mulligan. Auch alter Veteran, der noch einen Augenblick gezögert hat, gesellt sich zu ihnen. Mulligan wird klar, daß es nun ums Ganze geht. »Nun hör mir mal zu, Mann.« Wilder Mann hebt einen schmutzigen Zeigefinger, um seine Worte zu unterstreichen. »Wir haben den Diamanten aus dem Kasten genom- 254 men, den Gott uns gegeben hat. Wir haben ihn genau angeschaut, und es war Glas. Nichts als Glas.« »So ein Quatsch. Es ist ein Diamant.« »Nein, Glas.« »Diamant, sag' ich.« »Falsch.« Mit triumphierender Miene holt wilder Mann einen langen Splitter aus der Tasche seines Overalls. »Siehst du das? Das ist alles, was von deinem Schwindeldiamanten noch übrig ist.« »Gib das her!« Als John ihm die Glasscherbe aus den Fingern reißt, schneidet er sich. Blut quillt hervor. Mit einem Fluch wirft er ihn nach wilder Mann, der überraschend geschickt ausweicht. »Da schau, was du gemacht hast!« »Du hast dich geschnitten, weil es Glas ist. Kein Diamant, niemals. Gott hat dich hereingelegt, und ich werde mir nie wieder von dir sagen lassen, was ich zu tun habe.« Mit einem Wutschrei stürzt sich John Hancock auf ihn. Sie beißen und knurren wie Hunde, zerren sich über den Fußboden, kaum, daß sie Schläge austeilen. Sie rollen durch die Halle, zerbrechen krachend irgendwelches Gerumpel, kommen dem Feuer gefährlich nahe. Del sieht unbeteiligt zu, mit großen Kuhaugen, und schaukelt das Baby in den Armen, um es ruhig zu halten. Den Kopf leicht schräg steht sie da, während wilder Mann nun John unter sich begräbt und die Hände um seinen Hals legt. John keucht, schnappt nach Luft, wehrt sich verzweifelt, dann wird er matt. Doch als wilder Mann den Griff lockert, bäumt er sich auf und kann ihn mit einer einzigen raschen Bewegung abschütteln. Er packt ihn, drückt ihn bäuchlings zu Boden und setzt sich auf ihn. Dann greift er in den dichten Haarschopf und schlägt den Kopf gegen den Plastbetonboden. Wilder Mann bettelt um Gnade. »Wirst du tun, was ich sage, Hurensohn?« »Ja.< 255 »Und es tut dir leid, daß du Streit angefangen hast?« »Ja, es tut mir leid.« »Na gut.« John läßt ihn los und rollt zur Seite. Del gähnt, streichelt das Kind und starrt ins Nirgendwo. Doch scheint es dort jemanden zu geben, der ihr zuhört. »Er gewinnt immer«, sagt sie zu dem Unsichtbaren. »Weiß nicht, warum sie sich die Mühe machen. Er gewinnt doch immer.« Leise winselnd humpelt wilder Mann zur Wassertonne und nimmt einen herumliegenden Lappen, um das Blut abzuwischen. Alter Veteran will ihm helfen, doch zögert er, den Blick auf den neu bestätigten Anführer gerichtet. Der zeigt mit dem Daumen auf wilder Mann. »Wasch ihm das Gesicht. Gott will diesen Weißen so schnell wie möglich haben. Wir haben schon genug Zeit verloren.« Nicht genug, bei weitem nicht genug, denkt Mulligan. Als er seine Antenne spielen läßt, kann er Nunks spüren, der noch immer sein Signal so schwach wie möglich hält, damit der Killer es nicht entdeckt. Er spürt, daß sein Freund rasch näher kommt, aber es ist noch ein langer, langer Weg. »Nunks?« fragt Lacey, »bist du sicher, daß wir hier richtig sind?« Nunks zuckt mit den Schultern und hebt die Hände, um ihr zu bedeuten, daß er es hofft. Langsam wird Lacey nervös; plötzlich ist ihr auch bewußt, daß Sam und Bates ihr und Nunks blind vertraut haben und daß dieses Vertrauen nun in Zweifel umschlägt. Es ist auch kaum vielversprechend, was sie hier sehen: eine schiefe weiße Mauer, brüchig und umgeben von windzernagten braunen Schutthaufen; ein Dutzend Felsbrocken ringsum verstreut und eine rostige Metallhülse, vielleicht zwanzig Meter hoch, die einmal der Rumpf eines Raumgleiters, vielleicht auch eines antiken Flugzeugs war. Bates kommt herüber zu ihnen, gefolgt von einer Polizistin, die einen Berg Ausrüstungsstücke in den Armen trägt. »Okay, Lacey. Denke, wir machen es so: Ich gebe euch unsere Standardausrüstung - Helme mit Funk und Infrarotsichtgeräten, denn da unten wird es dunkel sein, und dann reflektierende Westen und Betäubungspistolen. Sollen ein paar meiner Leute mitkommen?« Auf seine Frage blickt Nunks auf und schüttelt abwehrend den Kopf. Kein Gedanke, daß einer der Polizeihelme mehr als die Hälfte seines zweigeteilten Kopfes bedecken könnte, doch findet sich eine riesige Weste, die er über seinen Overall ziehen kann. »Nein, Chief, aber vielen Dank. Besser, wenn Sie Ihre Leute hier oben verteilen; sie könnten sich umsehen, ob es noch einen anderen Eingang gibt. Aber lassen Sie ein paar hier und sagen Sie ihnen, sich schußbereit zu halten, falls wir überstürzt auftauchen sollten. Vielleicht verfolgt man uns.« »Das hatte ich ohnehin vor.« Er macht eine Pause und blickt suchend über die Schuttberge. »Wo ist bloß dieser Eingang?« Mit einem Wink seiner riesigen Hand bedeutet Nunks ihnen zu folgen; in hastigen Schritten umrundet er den zerbeulten Flugzeugrumpf bis zu einem Wall aus allerlei Trümmern und Abfall. Er zögert, dann bückt er sich rasch, fegt einen wahren Regen von Gerumpel zur Seite, und da ist es: eine runde Einstiegsluke, flach in den Boden eingelassen, darauf die unvermeidlichen Buchstaben NASA. Der Lukengriff ist sauber, glattpoliert - ganz offensichtlich wird er ständig benutzt. »Himmel«, sagt Bates, »ein Tunnel? Da bin ich wirklich froh, daß ich nicht mitkommen muß.« Lacey und Sam tauschen ein kurzes Grinsen aus. Raumfahrer waren gewohnt, durch Röhren zu kriechen, denn eine andere Verbindung zwischen den einzelnen Modulen 256 257 der Schiffe gab es nicht. Aber von Nunks kommt eine Art Seufzer, den Lacey als Unbehagen oder gar Furcht versteht, obwohl sie sich nur schwer vorstellen kann, daß Nunks sich vor irgend etwas fürchtet. »Meinst du, daß du da reinpassen wirst?« fragt sie. Er zuckt die Achseln, dann bückt er sich und zieht an dem Lukengriff. Mit einer eleganten Bewegung, als würde er den Deckel eines Topfs abnehmen, öffnet er die schwere Luke aus massivem Metall. Stählerne Tritte führen hinunter ins Dunkel. Lacey klappt das Infrarotvisier ihres Helms herunter und zieht die Betäubungspistole, mit der sie zumindest so lange wird vorlieb nehmen müssen, wie Bates sie sehen kann. Bald hofft sie, ihren Laser in der Hand zu haben ein tröstlicher Gedanke. »Okay, Leute. Jetzt kann's losgehen, nicht wahr? Ich geh' voraus, dann kommt Nunks, zum Schluß Sam. Du wirst uns den Rücken freihalten, also mach die Augen auf, ja? Nunks, du legst mir eine Hand auf die Schulter, damit du mir die Richtung angeben kannst. Du bist der einzige, der Mulligan " finden kann.« Doch als sie endlich bis zur Sohle des Tunnels hinabgeklettert sind, weiß Lacey, daß sie Mulligan auch ohne Psi-Fähigkeiten finden können: Fleißige Füße haben auf der Mitte des staubigen Tunnelbodens eine Spur freigetreten, und im I Infrarotsichtgerät leuchtet sie in einem matten Orange; sie 1 gibt noch etwas Wärme ab, vor nicht allzu langer Zeit muß jemand hier gegangen sein. Sie lächelt und rückt das Mikrophon des Funkgeräts zurecht. »Okay, Chief. Wir sind auf dem richtigen Weg. Können Sie mich hören?« »Einwandfrei.« Bates' Stimme dröhnt in ihren Ohren. »Bleiben Sie in Verbindung, ja? Viel Glück und Waidmanns Heil!« »Glaubst du, daß er gehen kann?« fragt wilder Mann. »Keine Ahnung.« Nachdenklich beißt sich John Hancock auf die Unterlippe, während er Mulligan mustert. »Du hast ganz schön zugeschlagen.« »Kannst du gehen, Weißer?« Wilder Mann stößt Mulligan mit der Stiefelspitze gegen die Rippen. »Nicht weit.« Mulligan spricht die Wahrheit. Er hat jetzt lange nicht mehr geschlafen, und sein Kopf beginnt wieder zu schmerzen; er sieht auch nur noch verschwommen. »Du hast mir beinahe den Schädel eingeschlagen.« Wilder Mann lacht und schwingt zum Spaß seinen Arm, als würde er mit einem Rohrende ausholen. »Besser, wir fahren ihn«, sagte John. »Wo bringen wir ihn hin?« »Zum Tempel. Kann mir keinen anderen Ort denken. Gott hat nicht zu Ende gesprochen, hat mir nicht gesagt, wie ich es machen soll. Vielleicht eine Prüfung. Hol die Karre!« Das Gerät erweist sich als eine altmodische, rotlackierte Schubkarre, die man mit Muskelkraft bewegen mußte. Zweifellos stammte sie noch aus der Zeit, bevor man in der Kolonie das Supraleiternetz verlegt hatte. John und wilder Mann nehmen Mulligan an Schultern und Füßen und verstauen ihn wie einen Sack auf der Karre, daß sein Kopf zwischen den Griffen liegt und die Füße vorne in die Luft ragen. »Vielleicht kann ich doch gehen«, sagt Mulligan, »wenigstens ein Stück.« »Damit du uns noch wegstirbst! Nein, wir wollen unser Manna haben.« Sie waren kaum hundert rumpelnde, nervtötende Meter gefahren, als Mulligan klar wird, daß seine Überlebenschance deutlich größer wäre, wenn er nur auf seinen Füßen stände. Aber was er auch sagt, John Hancock bleibt stur. Alter Veteran schiebt die Karre, und so eilen sie durch ein Labyrinth von Tunneln, biegen rechts und links ab, so oft und willkürlich, daß schon nach fünf Minuten Mulligan hoffnungslos verwirrt ist. Einmal, als er versucht, Nunks zu 258 259 erreichen, spürt er ein anderes Bewußtsein, das nach ihm sucht: ein hungriges Suchen, dessen Berührung sich wie das Schnappen gefährlicher Zähne anfühlt. Eilends bricht er den Kontakt ab und konzentriert sich auf nichts weiter als die Windungen und Biegungen des Tunnels, der sich hin und wieder überraschend zu einem Raum öffnet. Immer weiter geht es, hüpfend und ratternd, bis er auch das nicht mehr spürt und sein Universum nur noch aus Schmerz besteht. Schließlich gelangen sie in einen kleinen, halbrunden Raum, dessen blaugrauer Plastbetonboden sauber gefegt ist, fast schon glänzt. In der Mitte steht eine Blechtonne, ein fleckiges weißes Tuch darüber, und darauf liegt wieder ein Kristall - diesmal lang und flach. Der Heilige Altar, das mußte er sein, denkt Mulligan. Höchstwahrscheinlich ist es nichts anderes als eine Art Psi-Verstärker. Er behält recht; John macht eine Kniebeuge, dann kniet er sich vor den Altar und legt kurz die Stirn auf den Kristall, wenige Sekunden nur. Auf einer Seite des Raums ist eine Tür aus durchscheinendem Kunststoff, vor der ein Berg Schutt liegt; auf der anderen Seite sind die Eingänge, so scheint es Mulligan, zu zwei Schwebeplattformen. Doch wie sich herausstellt, sind es altertümliche Fahrstühle. Ihre Stromversorgung scheint noch zu funktionieren, denn als John hinübergeht und auf einen Knopf drückt, gleiten die Türen auf. »Legt ihn rein und schickt ihn nach oben«, sagt John. »Gott sagt, daß das Manna in dem anderen runterkommt.« Nicht ohne Sorgfalt legen alter Veteran und wilder Mann Mulligan auf den Boden des Fahrstuhls. Wenn er nicht solche Kopfschmerzen gehabt hätte, hätte er sicher laut aufgelacht. War es nicht grotesk, daß sie ihn im Fahrstuhl in den Tod schickten? Daß sie ihn buchstäblich zum Himmel ließen, während >Gott< oben auf ihn wartete? Aber so wie sein Kopf schmerzt, erscheint ihm das Messer des Killers als Erlösung. Die beiden Kerle gehen hinaus, und John legt den Finger auf den Knopf. 260 »Vaya con Dios.« Kräftig drückt er den Knopf. Schaukelnd und mit dem gequälten Quietschen einer schlechtgeölten Mechanik setzt sich der Lift in Bewegung. Mulligan konzentriert sich und lauscht auf ein Signal von oben. Dieses Mal hat er Erfolg. Trotz seiner Benommenheit schockiert ihn die Energie dieses Bewußtseins, das mit ihm Kontakt aufnimmt. Okay, Gott, wer bist du? Das wirst du gleich sehen. Habe keine Angst, ich werde dich nicht töten. Warum nicht? Ich brauche eine Geisel. Gleich wirst du sehen, warum. Warte. Mit einem letzten Ächzen stoppt der Lift. Als die Türen aufgleiten, dringt Essiggeruch herein, der sogar die Muffigkeit der Tunnelluft übertönt. »Hättest nie gedacht, daß Gott wie ein Raumfahrer aussieht, oder?« Die Stimme ist überhaus freundlich, wenn auch der Humor etwas gequält wirkt. »Willkommen im Himmel, mein Freund!« Der Mann, der den Fahrstuhl betritt, trägt einen ausgeleierten grauen Overall wie die Arbeiter im Raumhafen. Er ist blond, muskulös, mit einem gutgeschnittenen Gesicht wahrscheinlich, wenn es nicht halbseitig gelähmt wäre: Ein Mundwinkel hängt nach unten, die Augenbrauen sind auf verschiedener Höhe. Auch der Gang ist merkwürdig, breitbeinig und etwas schleppend, als würde ihm im Schritt etwas zu schaffen machen. Ein Schlaganfall, denkt Mulligan. Kein Schlag.. Eine Hautgeschichte, Infektion vielleicht. Du bist meine Fahrkarte zum nächsten Arzt. Werde dich eintauschen: Medizinische Vorsorgung und ein Platz im nächsten Schiff. Will diesen verdammten Planeten nie wieder sehen! Überraschung. Erleichterung. Aber Mulligan sendet ein falsches Signal. Mit der letzten Energie, die ihm verblieben ist, verbirgt er seine wahren 261 Gefühle. Obwohl dieser Kerl ein guter Lügner ist - ein Lügner ist er allemal. Das einzige, was er in seinem Geist lesen kann, ist: Blutdurst. Ungefähr zehn Minuten sind sie nun der Wärmespur durch den langen, geraden Tunnel gefolgt. Plötzlich packt Nunks Lacey an der Schulter und schüttelt sie. Ihr erster Gedanke ist, daß er Platzangst bekommen hat, aber mit einigen Gesten kann er ihr schließlich klarmachen, daß etwas Schreckliches passiert ist. Zwar lebt Mulligan noch, aber sie müßten sich beeilen, wenn es dabei bleiben sollte. Ohne daß sie darüber ein Wort verlieren müßten, tut Sam es ihr nach, als sie die Betäubunspistole in die Tasche der Polizeiweste steckt und ihren Laser zieht. . »Dann also los«, sagt Lacey. »Vamos, muchachos!« Sam rückt zu ihr auf, und Seite an Seite laufen sie los. Nunks folgt ihnen schnaufend. Der Tunnel wendet sich nun in einer sanften Kurve nach rechts; sie passieren Schiebetüren, einige halboffen, die meisten aber geschlossen. Hin und wieder zweigt ein Seitentunnel ab, doch führt die leuchtende Spur immer geradeaus, wird heller und heller, bis sie voraus blendende Helligkeit sehen. Sie verlangsamen, um etwas zu verschnaufen. »Ein Lagerfeuer«, flüstert Sam, »man kann kaum hingucken mit diesem Sichtgerät.« »Ja.« Lacey klappt das Visier hoch. Einen Augenblick lang kann sie gar nichts mehr sehen, dann zeichnet sich allmählich der Umriß der Tunnelmündung ab, und dahinter brennt ein Holzfeuer. »Nunks, ist dort Mulligan?« Unter Stöhnen und Fäusteballen schüttelt Nunks den Kopf. »Ich wußte die ganze Zeit, daß es einfach zu glatt läuft«, murmelt Sam. Lacey nickt, dann geht sie voran; sie hält sich dicht an der Wand und vermeidet jedes Geräusch. Gleichzeitig mit Sam 262 stürzt sie aus der Tunnelmündung, den Laser beidhändig im Anschlag. »Keine Bewegung!« Eine zu Tode erschrockene Frau hockt beim Feuer, ein Baby in den Armen; sicher Carols Patienten, denkt Lacey, diese Del und ihr namenloses Kind. Weil die Halle sonst leer ist, kommt sie sich äußerst lächerlich vor und läßt die Pistole sinken. Als Nunks aus dem Tunnel tritt, kreischt Del auf und weicht geduckt zurück. »Also gut«, fährt Lacey sie an. »Niemand tut dir etwas, wenn du uns die Wahrheit sagst. Wo ist der blonde Weiße?« »Sie haben ihn zu Gott gebracht, er will ihn kaufen.« »Was?« »Wie ich gesagt habe, Kleine.« Sie richtet sich auf den Knien auf und blickt Lacey mit dem Ausdruck beleidigter Würde in die Augen. »Und sag mir nicht, was ich tun soll, weiße Schlampe.« »Ach ja?« Als Lacey den Laser hebt, duckt sich Del wieder. »Ich habe gefragt: Wo ist er?« »Ich habe es doch gesagt, sie haben ihn zu Gott gebracht. Ich weiß nicht, wo Gott wohnt. Nur John weiß das.« Nunks kommt näher; er zeigt auf Del und nickt mehrmals, sehr bestimmt. »Du glaubst wirklich, daß sie die Wahrheit sagt?« fragt Lacey. Wieder nickt Nunks, dann gestikuliert er; verzweifelt versucht er, etwas zu sagen. Lacey kann es nicht erraten. »Nun kommt schon«, sagt Sam. »Wo immer er ist, hier ist es nicht.« »Da hast du sicher recht.« Lacey stellt sich mit dem Rücken zum Feuer und klappt das Visier herunter, um sich die Ausgänge aus der Halle anzusehen. Ein deutlich stärkeres Leuchten führt in einen kleineren Seitentunnel. »Ich wette, sie sind diesen Weg gegangen.« »Sind sie nicht!« sagt Del in einem Anflug verzweifelten Muts. »Sind hier langgegangen.« »Nunks?« 263 Nunks zeigt in die Richtung, die Lacey angegeben hat. »Hör mal, Kleine«, wendet sie sich an Del. »Wenn ich du wäre, würde ich mich schleunigst hier verziehen und mich der Polizei ergeben.« Del greift nach einem zerbrochenem Stück Geschirr auf dem Boden und wirft es in Laceys Richtung. Lacey duckt sich, während sie den anderen voran zum Tunnel geht. Und wieder laufen sie; sie schaltet das Funkgerät im Helm ein. Irrt ersten Kanal hört man nichts als Stimmengewirr, Gruppenführer, die ihre Positionen durchgeben und um Anweisungen bitten oder das umliegende Gelände beschreiben. Auf dem zweiten hört sie jedoch neben einem Rauschen Bates' dröhnende Stimme, der mit einem Sergeant Nagura spricht. »Was soll das heißen, eine Bewegung?« sagte Bates. »Ist dort jemand, ja oder nein?« »Ich weiß nicht, Chief.« Es ist eine Frauenstimme, die ihm antwortet. »Alles, was wir sehen können, ist etwas, das zu dem alten Kontrollraum hinaufklettert. Vielleicht ist es nur ein Hund oder so etwas. Hier draußen gibt es Tiere.« »Mist.« Es klingt beleidigt. Vielleicht mag Bates Hunde nicht. »Okay, behalten Sie es im Auge und sehen Sie zu, daß sie etwas Deckung haben.« »Wird gemacht, Chief. Ende.« »Bates?« Lacey meldet sich rasch, bevor er ausschalten kann. »Hier ist Lacey.« »Wird auch Zeit, verdammt. Wo haben Sie bloß gesteckt?« »Wir haben eine Spur verfolgt. Wir wurden leider etwas abgelenkt. Hören Sie, wir haben herausgefunden, wo sie Mulligan gefangen hielten, aber er ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, wo sie ihn hingeschafft haben, aber diese Frau hier plappert etwas von Gott.« »Himmel, was haben Sie erwartet? Hier sind doch alle übergeschnappt. Haben Sie eine neue Spur gefunden?« »Ja eine ziemlich frische, dem Infrarotbild nach zu urteilen.« »Gut, dann machen Sie weiter. Aber halten Sie mir diesen 264 Kanal frei, ja? Es ist die Kommandofrequenz, und ich hab' sie ständig auf dem einen Ohr.« »Okay, Chief, wird gemacht.« Nach weiteren vierzig Schritten ändert sich der bisher einfache Grundriß des unterirdischen Komplexes, er wird zum Labyrinth: schmale Durchlässe, größere Räume, meist rund, endlose Reihen von Türen. Aber immer ist da diese eine Spur, die heller leuchtet als jede andere bis auf jene natürlich, die sie selbst zurücklassen, denn auch ihre eigene Körperwärme bleibt nicht ohne Wirkung. Sie laufen, und Lacey fühlt die heftigen Schläge ihres Herzens. Aber es ist nicht nur das Laufen. Irgendwie war ihr nicht klar gewesen, daß Mulligan Verrückten in die Hände gefallen war, wirklich Verrückten, die ihn aus einer Augenblickslaune heraus töten konnten. Als Nunks sie an der Schulter berührt, fährt sie herum und hätte vor Schreck und Elend fast auf ihn geschossen. »Was, zum Teufel ...« Nunks schwengt seine Arme, zeigt schließlich den Tunnel hinunter, in die Richtung, die sie laufen. »Es kommt jemand«, sagt Sam, »hör mal.« Weit ab hört man Männerstimmen, Menschen, aber auch ein Lizzie scheint dabei zu sein; es ist ein munteres Geplapper. Lacey deutet mit der Pistole auf eine Tür in der anderen Tunnelwand, und Sam schlüpft hinein. Sie selbst tritt in einen Raum auf ihrer Seite und winkt Nunks zu sich herein. So warten sie, während die Stimmen langsam näher kommen und mit ihnen der scharfe Geruch ungewaschener Körper. »Whisky und Schnaps, Whisky und Schnaps, gib mir 'nen Whisky, oder ich krieg 'nen Klaps!« singen sie jetzt, ein reichlich unsauberer Chor, doch tut das ihrer Begeisterung keinen Abbruch. Immer wieder erklingt der Vers. Da ist noch ein metallisches Geräusch; etwas rumpelt und dröhnt den Korridor entlang, und als sie um die Ecke biegen, sieht Lacey eine rotlackierte Schubkarre, auf der Pla- 265 stikkanister mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aufgetürmt sind offensichtlich der Whisky, von dem die Rede ist. Lacey gibt Sam ein Zeichen, dann treten sie aus dem Versteck, den Laser schußbereit, und stellen sich den drei Kerlen in den Weg. Sie kreischen auf und bleiben wie angewurzelt stehen; der Lizzie läßt die Griffe der Schubkarre los, daß sie mit einem Knall aufsetzt. Einer der Kanister kullert herunter und bleibt schwabbelnd liegen. »Ein Überfall!« schreit der Schwarze. »Sie wollen uns ausrauben, John!« »Halt's Maul, wilder Mann.« Der rothaarige Weiße scheint der Anführer zu sein. »Sie haben Pistolen, und wir nicht.« »Wir wollen nicht euren stinkenden Whisky«, sagt Lacey. »Was habt ihr mit Mulligan gemacht?« »Wer?« »Der blonde Weiße. Del hat gesagt, ihr hättet ihn Gott verkauft.« »Mulligan heißt er, ja? Wir haben ihn Gott verkauft, genau wie Del gesagt hat. Haben ihn mit dem Fahrstuhl in den Himmel geschickt, und mit dem anderen kam das Manna von oben runter.« Zuerst überläuft sie ein kalter Schauer, dann steigt die Wut in ihr auf, daß sie für einen Augenblick kaum noch weiß, was sie tut und erst als John Hancock der Schweiß übers Gesicht läuft, bemerkt sie, daß sie unwillkürlich den Laser gehoben und auf ihn gerichtet hat. Hat doch keinen Sinn, diesen armen Schmutzfinken umzulegen, Mädchen er kann nichts dafür. Mit einem tiefen Atemzug läßt sie die Pistole sinken, und John stöhnt leise; offenbar ist er noch klar genug im Kopf, um zu wissen, wann es ernst wird. »Und wo ist dieser komische Fahrstuhl zum Himmel?« kommt es von Sam, es ist mehr ein Knurren. »Dort entlang, Sir«, stammelt John, dem die Furcht in den Knochen steckt, und zeigt zu einem Nebentunnel. »Genau da, aber Gott ist nicht mehr da. Wir haben gehört, wie er gegangen ist.« Genau in diesem Augenblick ertönt Bates' Stimme in Laceys Helmlautsprecher. Sie klappt das Ohrstück in die Höhe, damit Sam mithören kann. »Lacey, um Himmels willen, kommen Sie rauf! Wir haben den Killer ausgemacht, er hat noch jemanden bei sich, oben im alten Kontrollraum. Passen Sie höllisch auf, wo Sie rauskommen. Ich will Sie nicht in unserer Schußlinie haben!« »Herr im Himmel!« Sam richtet den Laser auf John Hancock. »Hör gut zu, mein Lieber du kennst dich hier unten aus. Du wirst uns hübsch brav den nächsten Ausstieg zeigen, oder ich brenne dir den Dreck von deinem Fell!« »Jawohl, Sir!« John salutiert mechanisch, dabei mit solcher Präzision, daß man den ehemaligen Soldaten erkennt. Ein Deserteur also, vielleicht auch eine Entlassung wegen Geisteskrankheit aus der einen oder anderen Flotte, kein Zweifel. »Wird gemacht!« Er wendet sich an seine Kumpane. »Ihr schafft das Manna nach Haus, aber ihr trinkt keinen Tropfen mehr, bis ich zurückkomme. Klar?« Sie nicken> ohne die Laserpistolen aus den Augen zu lassen. »Nun geht schon, tut, was der Sergeant sagt. Okay, zeig uns den Weg.« John Hancock salutiert wieder und setzt sich in Bewegung; in einem schlurfenden Trab verschwindet er in dem Tunnel, Sam und Nunks hinterdrein. Lacey wartet noch einen Augenblick; sie möchte sichergehen, daß die beiden anderen auch wirklich die Karre mit dem kostbaren Whisky wegbringen, anstatt ihnen nachzuschleichen. Erst als sie das ratternde Gerät um die nächste Biegung gekarrt haben, folgt sie ihren Freunden. Was hätte sie darum gegeben, an Gott oder Allah oder wenigstens das Galaktische Bewußtsein zu glauben, so daß sie einen Adressaten für ein Stoßgebet um Mulligans Leben gehabt hätte. Sie erreicht Sam gerade, als John Hancock stehenbleibt und nach links deutet, wo ein weiterer Tunnel abzweigt, der in einer Spirale aufwärts zu führen scheint. 266 267 »Sir, der führt genau zu der alten Landebahn hoch, kaum ein Kilometer von dem weißen Turm.« »Nicht schlecht«, sagt Sam, »aber du wirst bis zum Ausgang mit uns kommen.« John verzieht mürrisch das Gesicht, dann blickt er auf den Laser und seufzt resigniert. Wie sich herausstellt, ist es nicht mehr weit; schon nach zweihundert Metern taucht eine riesige Doppeltür auf, deren Flügel halb geöffnet schief in den Angeln hängen. Rotes Licht scheint von draußen hereinzudringen, die warme Luft über dem Rattennest erzeugt ein starkes Infrarotsignal. Als Lacey das Visier hochklappt, ist es verschwunden. »Okay, Sergeant«, sagt Sam. »Sie können gehen.« John Hancock legt wieder zackig die Hand an die Stirn, dann dreht er sich um und läuft davon. In seiner Eile rammt er mit der Schulter die geschwungene Tunnelwand. Lacey schaut Sam erstaunt an. »Woher wußtest du, daß der Kerl einmal Sergeant war?« »Er ist einfach der Typ dafür. Hast du nicht bemerkt, wie er diese Typen im Griff hat, so verrückt sie auch sind - alle drei?« Von weit her trägt der Wind einige Geräusche herüber, durch das Heulen und Seufzen im Tunnel erkennen sie Bates' Stimme. Er spricht über ein Megaphon. »Wir sind bereit zu verhandeln. Ich wiederhole ... wir werden verhandeln. Ich bin AI Bates, Polizeichef dieser Stadt, und ich bin ermächtigt, mit Ihnen zu verhandeln. Nennen Sie Ihre Bedingungen!« Die Antwort können sie nicht hören. Lacey klappt das Visier wieder herunter und läuft zum Tunnelausgang. »Kommt, Leute. Nichts wie raus hier.« Es ist genug Platz zwischen den verklemmten Türen, um sich hindurchzuschieben. Der kühle Nachthimmel über ihnen erscheint im Sichtgerät rein schwarz, während das Rattennest ein einziges Meer von blaßrosa Licht ist. Vor ihnen, nicht einmal ein Kilometer entfernt, ragt der Turm 268 auf, ein dunkler Balken, weil sein weißer Anstrich während des Tages weit mehr Sonnenstrahlung reflektiert als die Ruinenhügel ringsum. Darum verstreut erkennt man verwischte Lichtpunkte, die die Anwesenheit von Bates' Leuten verraten. Und auf der Plattform oben am Turm muß noch ein Wesen sein, das Wärme abstrahlt; der Killer, vermutet Lacey. Sie spürt einen Stich in der Brust, als nirgendwo eine Spur von Mulligan zu erkennen ist. »Wir sind fast schon da«, flüstert Sam. »Nunks, du bleibst ein Stück hinter uns. Du hast keinen Helm, vergiß das nicht.« Nunks stöhnt kurz auf; er ballt wieder die Fäuste. Geduckt und im Zickzack hin und herlaufend, suchen sie sich einen Weg durch die Schuttberge, lassen sich leiten von Bates' Stimme, der erneut durch das Megaphon seinen Verhandlungswillen bekundet. Auch dieses Mal hören sie keine Antwort, auch nicht, als sie schon nahe genug sind, um die geschlossene Linie der Polizisten rings um den Turm im Infrarotlicht zu erkennen. Die Beamten haben in dem Schutt und Gerumpel notdürftig Schützenlöcher und Gräben ausgehoben. Bates' massige Gestalt ist gut zu sehen; er steht in vorderster Linie mit dem kleinen Kästchen des elektronischen Megaphons in der Hand. Während sie näherschleichen, wird aus dem unscharfen Klecks oben auf der Plattform die Gestalt eines großen, kräftigen Mannes, der sich in den Überresten des Kontrollraums verschanzt hat. Jetzt taucht er wieder auf, er schiebt etwas Großes, Schweres vor sich her. Gerade als Lacey zu Bates in die Deckung kriecht und sich neben ihn kauert, zeigt er sich noch einmal. An den Knöcheln schleppt er einen Menschen hinaus auf die Plattform. »Ich hab' deinen Polizei-Para hier bei mir, Bulle!« Eine tiefe Stimme hallt über ihren Köpfen. »Sollten Sie irgendeine krumme Tour versuchen, dann ist er tot!« »Ich denk' nicht dran.« Bates reckt sich ein wenig. »Ich bin 269 bevollmächtigt, mit Ihnen zu verhandeln. Wünschen Si einen Priester oder Mullah? Möchten Sie etwas essen?« Aber der Assassine wirft den Kopf in den Nacken und lacht schrill auf, ein langes, gellendes Gelächter. Laceys Brust krampft sich zusammen, als sie erkennt, daß der Mann wahnsinnig ist. Die Betonplattform ragt wie eine Hutkrempe über die Mauern des Turms hinaus, etwa zwei Meter breit. Sie erstreckt sich über etwa ein Drittel seines Umfangs; der Turm selbst hat einen Durchmesser von neun Meter. Mulligan kann an ihrem Rand ein paar verbogene Streben sehen, doch das ist alles, was vom Geländer übrig ist. Der Gedanke ist nicht gerade angenehm, daß sie sich hier gut fünfzig Meter über dem Boden befinden. Nachdem Tomaso aufgehört hat zu lachen, schiebt er einige große Metallkisten zum Rand der Plattform und kauert sich dahinter. »He, da oben!« dröhnt Bates' Stimme herauf, und diesmal klingt er etwas gequält humorvoll. »Wir warten, mein Junge. Wo bleiben deine Forderungen?« Statt einer Antwort nimmt Tomaso ein Lasergewehr und kriecht zum Rand. Mulligan wird bewußt, daß er weit mehr den gefährlichen Lichtbündeln ausgesetzt ist als der Killer, wenn es zum Schlagabtausch kommt. Er wartet, bis Tomaso sich aufs Zielen konzentriert, dann schiebt er sich Zentimeterweise bis zu der Stelle, wo die zerbrochene Tür des Kontrollraums liegt. Nun ist er notdürftig abgeschirmt. Bei dem leisen Zischen des Lasers zuckt er zusammen und dreht den Kopf. Da bemerkt er aus dem Augenwinkel eine Bewegung zwischen den Steinbrocken an der Basis des Turms. Als er genauer hinschaut, erkennt er eine Gestalt, die herankriecht, wohl in einer Art Panzer, denn irgend etwas glitzert. Die einzig denkende Möglichkeit ist die, daß einer der Polizisten sein Leben riskiert, um ihn hier rauszuholen, und daß dieser Mann nun in schrecklicher Gefahr ist. Noch nie in seinem Leben hat Mulligan sich so hilflos gefühlt. Weil Tomaso nicht vergessen hat, ihn zu knebeln, kann er dem Mann keine Warnung zurufen; auch bewegen kann er sich kaum. Wie soll er seinem Retter helfen? Dann fällt ihm endlich das Naheliegende ein, daß es ja keiner gesprochenen Worte bedarf, um Tomaso abzulenken. Zwar schreckt er davor zurück, ihn direkt anzugreifen, aber er hat die Möglichkeit, einiges von seiner Energie von ihm abzuziehen, wenn er sich nur trauen würde. Über das Megaphon meldet sich Bates so versöhnlich, wie er nur kann; er verspricht medizinische Versorgung, politisches Asyl vor den H'Allevae und einen fairen Prozeß mit einer Chance zur Rehabilitierung, wenn Tomaso sich ergibt. Die einzige Antwort ist das Zischen des Lasers. Eine Weile kämpft Mulligan gegen seine Angst, dann schließt er die Augen und macht sich an die Arbeit. Er stellt sich vor, wie er kurz nach Sonnenuntergang an einer Ecke der Plaza vor dem Rathaus steht und Chief Bates beobachtet; er drängt sich durch die Menge, die um eine Leiche versammelt ist, ein Carli, wie es scheint. Das Bild ist deutlich, es fällt ihm nicht schwer, sich zu erinnern; da kommen auch schon die Gehilfen des Gerichtsmediziners mit der Schwebetrage. Und er selbst geht jetzt hinüber; zuerst ohne bestimmte Absicht, dann zielstrebig, als er erkennt, daß er an diesem Unfall vielleicht ein paar dringend benötigte Dollars verdienen kann. Er wird Bates anbieten zu lesen. Daß es ein Mord ist, weiß er noch nicht. Er macht einen Schritt und prallt gegen eine Mauer. Eine Mauer aus Schmerz. Das Bild, das sein Unbewußtes für diesen Schmerz findet, ist Feuer. Ein loderndes, sengendes Flammenmeer, das mehr Qual bereitet als jedes wirkliche Feuer. Mulligan weicht zurück, sein Atem geht keuchend, es ist seine physische Reaktion, hier und jetzt, und er öffnet die Augen. Noch immer liegt er auf der Plattform, und natürlich hat sein Körper an dem Feuer keinen Schaden genommen, wie hartnäc- 270 271 kig auch immer sein Gehirn die brennenden Schmerzen vorspiegelt. Der Schmerz ist in deinem Kopf. Er kann dich nicht umbringen. Es kann nur weh tun, das ist alles. Wieder schließt er die Augen, wieder steht er auf der Plaza, aber diesmal kann er die Wand aus Flammen erkennen, sie trennt ihn von Chief Bates. Da taucht Tomaso neben ihm auf, aber sein Bild ist merkwürdig verschwommen und blaß. Hör auf damit! Mörderische Wut. Hör auf oder ich töte dich auf der Stelle! Du kannst mich nicht töten. Du brauchst mich, mehr denn je. Wäre ich nicht hier, hätten sie längst eine Granate hier hochgeworfen. Es wäre aus mit dir! Tomasos Bild verblaßte. Eine lange Weile steht Mulligan da und kämpft mit sich selbst. Er möchte durch das Feuer gehen, ganz zweifellos, doch ein Teil seines Geistes weigert sich schlicht. Feigheit ist es nicht, denn sie ist die bewußte Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten; aber dieser hartnäckige Teil seines Ichs hat nur das eine Bestreben, diese Qual meiden, die das vor ihm auflodernde Feuer bedeutet. Das übrige Bewußtsein kann noch so viel argumentieren, bitten, schmeicheln, an die Ehre appellieren der Überlebensinstinkt hört nicht zu. Dann fällt ihm ein, daß, wenn er durch die Feuerwand geht, Lacey einen Grund haben wird, auf ihn stolz zu sein. Das genügt; schon ist er auf dem Weg, ohne eine bewußte Anstrengung taucht er in die Flammen ein. Von weit her hört er einen Mann schreien; er bemerkt, daß er selbst das ist. Er zwingt sich, weiterzugehen, obwohl jeder einzelne Nerv seines Körpers vor Schmerz tobt und um Schonung bittet. Es kann dich nicht umbringen, es kann nur weh tun. Nur der Wille zählt noch, eine blinde Rücksichtslosigkeit, die jeden Fuß zum Gehen zwingt, einen nach dem anderen. Es gibt nichts anderes mehr auf der Welt; das Leben besteht im Aufsetzen der Füße, noch ein Schritt, wieder einer, während die Flammen auf seiner Haut brennen. Er kann dich nicht umbringen, es kann nur weh tun. Tomaso ist wieder da; er sieht seinen Mund Worte formen, doch er hört ihn nicht. Er schwenkt wild seine Arme, wie ein Gärtner, der einen Hund aus seinen Beeten scheucht. Mulligan lächelt nur. Das muß man dir schon lassen. Du bist große Klasse, mein Lieber. Wie du das in mein Gehirn gekriegt hast ... Tomaso stampft und tanzt vor Wut, aber sein Bild wird blasser und blasser, als er seine Aufmerksamkeit wieder den Polizisten zuwenden muß. Mulligan winkt ihm zu und geht weiter, noch einen Schritt; er macht eine Pause, schreit, dann der nächste Schritt und mit einem Mal ist der Schmerz verschwunden. Von dem Feuer keine Spur mehr. So groß wie der Schmerz, so groß ist nun der Schock über sein Aufhören fast kann er seine Vision nicht aufrechterhalten. Er bleibt ruhig liegen, genießt das Gefühl des Nicht Schmerzes. Und nun geht er wieder über die Plaza. Chief Bates dreht sich um, um mit ihm zu reden, und im Brunnenbecken liegt das tote Carli. Er hat gewonnen, und er hört, das ist keine Vision, wie Tomaso vor ihm auf der Plattform wütend aufheult. Als Mulligans erster Schrei von oben ertönt, etwas dünn gegen die Megaphonstimme von Bates, ist Lacey schon halb aufgesprungen, bevor Sam sie packen und herunterzerren kann. Der grelle Laserstrahl zischt nur wenige Zentimeter an ihr vorbei. »Arschloch!« schimpft Sam. »Du tust Mulligan keinen Gefallen, wenn du dich umbringen läßt.« »Ja, sicher. Aber sag mir um Himmels willen, was der Kerl mit ihm macht!« »Denk nicht daran. Du willst es gar nicht wissen.« Da meldet sich Sergeant Nagura im Kopfhörer, und sie kann sehen, daß auch Bates das Megaphon sinken läßt, um zuzuhören. 272 273 »Sir, jemand klettert an der Rückseite des Turms hoch.« Die Frau hört sich erschrocken an. »Sir! Es ist kein Mensch!« Mit einem Fluch klappt Lacey das Visier herunter und späht in die Nacht hinaus. Es ist nichts zu erkennen. »Wie ist er durch unsere Linien gekommen?« knurrt Bates. »Ich kann nichts sehen.« »Er ist genau auf der anderen Seite, Sir. Hab' keine Ahnung, wie er dort hingekommen ist. Vielleicht hat er sich unsichtbar gemacht?« »Und vielleicht ist das gär kein Witz«, mischt sich Lacey ein. »Wenn ich richtig vermute, dann haben wir es mit einem Para allererster Klasse zu tun, und außerdem ist es eine Sie.« »Großer Gott.« Bates hört sich furchtbar müde an. »Okay, aber sie wird es nicht überleben, wer immer sie ist. Der Killer muß sie bemerken, klar. Haben Sie vergessen, daß er auch ein Para ist?« Als Mulligan wieder schreit, beißt Lacey die Zähne zusammen wie in einem Krampf. Sie würde die Hälfte ihres Lebens geben, würde sogar schwören, nie wieder einen Fuß in ein Schiff zu setzen, wenn er nur wohlbehalten von der Plattform herunter käme. Plötzlich streckt sich der knieende Bates, holt mit dem Arm aus und schleudert etwas gegen den Turm - eine Leuchtgranate. Strahlend weißes Licht ergießt sich über das Areal vor dem Turm. Einen Augenblick lang ist sie geblendet, der Killer heult vor Wut auf. Als sie wieder sehen kann, sieht sie ihn am Rand der Plattform stehen; die Scharfschützen unten hat er vergessen, das Gewehr baumelt in seiner Hand. »Nicht schießen!« hört sie Bates im Kopfhörer schreien. »An alle, nicht schießen!« Jemand klettert auf die Plattform, richtet sich zu voller Größe auf und steht jetzt Tomaso gegenüber. Eine drei Meter hohe Gestalt; ein ganzer Kranz von grün schimmernden Augen rankt sich um den Körper, der ebenso metallisch glänzt, von den mit einem Tuch umwickelten Hüften bis zu 274 den nackten Schultern. Darauf ein riesiger, ovaler Kopf mit drei großen goldenen, wie aufgesetzten Augen. Sie beugt sich vor, streckt das oberste Armpaar aus, als wollte sie dem Killer etwas zeigen. Der Killer starrt, schreit auf und macht einen Schritt nach hinten ins Leere. Noch ein Schrei, der anhält, bis er hart auf dem Boden aufschlägt. Reglos bleibt er liegen. Im Licht der Leuchtgranate macht das Wesen auf der Plattform eine Geste, ein kurioses Nachahmen eines menschlichen Winkens. Ihr Körper leuchtet grün und golden. Dann wendet sie sich ab, kniet nieder und macht sich an etwas zu schaffen. »Mulligan!« Lacey schreit, so laut sie nur kann. Schon ist sie auf den Beinen und rennt hinüber zum Turm. »Ist er okay?« Auf der Plattform wendet sich ihr der glitzernde Kopf zu. Man erkennt einen feinen, fedrigen Saum, der vom Hinterkopf zum Nacken läuft. Der Mund ist eine zierliche Ausstülpung, von zahlreichen dünnen Lippen gebildet, die sich wie Blütenblätter überlappen. Er öffnet sich kräuselnd und vibrierend, und was sie sagt, ist durchaus zu verstehen. »Okay, Freund. Wir sind Freunde?« »Das will ich meinen, verdammt.« Als Lacey keuchend oben angekommen ist, hat die Insektenfrau Mulligan schon losgebunden. Er sitzt im Kontrollraum gegen die Wand gelehnt und reibt sich die Gelenke. Am liebsten wäre sie neben ihn gesunken, um ihn in die Arme zu nehmen und zu küssen. Statt dessen klappt sie nur das Visier hoch und schmollt. »Altes Miststück, die halbe Polizei mußten wir deinetwegen zusammentrommeln .« Mulligan schaut verblüfft zu ihr auf, dann bringt er ein dünnes Lächeln zustande. »Sorry, war nicht meine Absicht, mich von den Verrückten einfangen zu lassen. Wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich dir.« »Gut, das will ich hoffen.« Sie wendet sich der Insektenfrau zu. »He, danke auch.« Der Blütenmund kräuselt sich wieder. »Gern geschehen.« Und Lacey hat das merkwürdige Gefühl, daß sie sich glänzend verstehen. 8 Sobald Tomaso den Schritt ins Leere tat, war Bates auf den Beinen und rannte. Doch als er ihn erreichte, war er schon tot - das Genick war gebrochen, die Brust zerschmettert, und kein Arzt in ganz Polar City hätte eine Chance gehabt, ihn wiederzubeleben. Bates war sicher, daß es auch die Möglichkeiten der besten Kliniken im ganzen erforschten Sektor überstieg. Und er war froh darüber. Es ersparte der Stadt die Mühe eines endlosen Prozesses und die sonst unvermeidlichen politischen Verwicklungen. Wäre der Killer am Leben und würde aussagen, dann würde die Allianz mit der üblichen Selbstgerechtigkeit alle Anschuldigungen zurückweisen und rücksichtslos alle Spuren zu verwischen suchen. Doch blieb noch die Frage offen, wie der Mann gestorben war. In dem langsam schwächer werdenden Schein der Leuchtgranate konnte Bates deutlich genug sehen, daß diese geheimnisvolle Fremde ihn weder gestoßen noch sonstwie berührt hatte. Wenn diese neue Spezies tatsächlich die Möglichkeit besaß, aus der Distanz zu töten, dann verhieß das nichts Gutes für die Zukunft. Er steht auf, wischt sich einigermaßen erleichtert die Hände und entdeckt Sergeant Nagura hinter seinem Rücken, das Funktelefon in der Hand. Ein Teil der Leute ist um den Turm herum ausgeschwärmt. Sie fotografieren die 276 Szene; auch der Gerichtsmediziner mit seinen Gehilfen steht schon bereit, um sich der Leiche anzunehmen. »Schaut euch sein Gesicht an«, sagt Bates. »Ihr habt doch Handschuhe dabei? Ja? Dann benutzt sie auch.« Von dort, wo Sergeant Nagura steht, hört man ein Würgen. »Sie Ärmste.« Bates nimmt ihr das Telefon ab. »Bleiben Sie in der Nähe, ja? Aber gucken Sie nicht so genau hin.« »Ja, Sir. Danke. Einer der Männer kümmert sich um die Zivilisten. Sieht nicht so aus, als ob die Geisel eine Ambulanz benötigt.« »Gut so. Mulligan hat uns schon genug Arbeit gemacht.« Sobald Bates die Zentrale erreicht hat, schaltet sich Parsons ein. »Himmel, Chief, hier wimmelt es von Reportern. Was, zum Teufel, ist das für ein Quatsch mit dieser Epidemie? Wann werden Sie zurück sein?« »Wenn ich, verdammt noch mal, so weit bin. Hören Sie, Sergeant. Sagen Sie ihnen, daß ich, wenn ich zurückkomme, die Story des Jahrhunderts für sie habe. Sagen Sie, daß ich ihnen nur das eine gesagt hätte - und sagen Sie es wörtlich: Wir haben möglicherweise einen Erstkontakt hier, aber es sind gewisse Probleme damit verbunden.« Parsons gibt eine gurgelndes Geräusch von sich, das Bild auf dem Schirm zeigt einen Mann, dessen Augen groß und größer werden. »Haben Sie das soweit?« sagt Bates. »Ich sage Ihnen nicht, wo ich jetzt hingehe, aber ich werde mich melden, sobald ich eine abhörsichere Verbindung habe.« Er schaltet aus, bevor Parsons noch etwas sagen kann. »He, Lacey ... am besten fahren wir alle zusammen zu A-bis-Z. Es wird eine Weile dauern, bis uns dort jemand aufgespürt hat. Nagura, Sie übernehmen das hier. Sie brechen nicht eher als in einer Stunde auf, ja? Wir brauchen etwas Vorsprung. Ach ja, eines noch: Rufen Sie Dr. Carol an und sagen Sie, daß sie uns bei 277 Lacey treffen soll. Und sie soll ihre Fotos von dieser verdammten Krankheit mitbringen. Verstanden?« Nagura ruft einige Befehle, dann nickt sie Bates zu und geht hinüber zum nächsten Transporter. Bates wendet sich der Insektenfrau zu, die etwas unschlüssig bei Nunks und Mulligan steht. Der riesige Kopf neigt sich, eine geradezu königliche Geste, wie Bates sie noch nie gesehen hat. »Das Wesen Mulligan hat mir erlaubt, auf seine gespeicherten Erinnerungen zurückzugreifen. Ich verfüge nun über den nötigen Wortschatz Ihrer Sprache. Sicher haben Sie Fragen an mich.« »Sicher. Am besten fangen wir mit Ihrem Namen an.« »Ich habe keinen Namen in Ihrem Sinne. Nennen Sie mich einfach >Insektenfrau<, wie die andern auch.« Obwohl Bates zusammenzuckt bei diesem Wort, das nach menschlicher Überheblichkeit klingt, scheint sie es ganz amüsant zu finden. »Also gut, Madam. Wie, zum Teufel, haben Sie den Mörder da oben getötet?« »Ich habe ihn nicht getötet. Ich habe ihm nichts anderes als ein Bild seiner Seele gezeigt, telepathisch natürlich. Er sah es, erkannte, was mit ihm los war, und tötete sich selbst aus Entsetzen darüber.« Die Insektenfrau neigt den Kopf nach einer Seite und mustert ihn kurz mit dem dritten Auge, dann nickt sie; sie beherrscht die menschliche Gestik schon vollkommen. »Der Name dieser Gottheit ist von Bedeutung, so weit ich das aus Mulligans Gedächtnisspeicher erfahren konnte. Er scheint als Kind dem Einfluß einer Religion ausgesetzt gewesen zu sein, die >Neo- Katholizismus< heißt, und dieser Jesus symbolisiert das Unsterbliche in jedem Menschen. Diese Gottheit kämpfte gegen das Übel an sich - Sünde, glaube ich, nennt man es , und es opferte dafür sogar sein Leben. Entschuldigen Sie, natürlich nicht es, sondern er. Aber bei meinem Volk ist es nicht üblich, Gottheiten ein Geschlecht zuzuordnen.« 278 »Ich verstehe. Nun, Sie dürfen mich jetzt nicht mißverstehen: Ich bin verdammt froh, daß der Kerl tot ist, und es gibt überhaupt keinen Verdacht auf eine Straftat, doch müssen wir eine Art Anhörung über diesen Todesfall durchführen. Es muß jede Unklarheit ausgeräumt sein.« Sie nickt nachdenklich, dann wendet sie sich Nunks und Mulligan zu. Alle drei stecken sie die Köpfe zusammen; unbeweglich stehen sie da, schweigend, doch findet zweifellos ein intensiver geistiger Austausch statt. »Die Form des Körpers scheint nicht viel zu bedeuten, hab' ich recht, Chief?« Es klingt fast feierlich, wie Lacey das sagt. »Scheint, daß mir das noch nie aufgefallen ist. Vielleicht haben die Anbeter des Galaktischen Bewußtseins gar nicht so unrecht?« »Mag sein, aber sie könnten verdammt noch mal aufhören, die Wände zu beschmieren und Bomben zu werfen, um sich zu beweisen. Aber kommen Sie, wir müssen endlich die Sache ins Rollen bringen.« Um in Porttown keine Aufmerksamkeit zu erregen, überläßt Bates seinen Dienstgleiter Sergeant Nagura und zwängt sich in den Fond des Bentley der glücklicherweise die üblichen Maße eines Luxusgefährts bietet - neben Mulligan und die Insektenfrau. Nunks quetscht sich vorne zwischen Lacey und Sam. Bates versucht, es zu ignorieren, so gut er nur kann, aber der Essiggeruch hängt schwer in der Luft; nicht nur die Fremde riecht danach, auch auf Mulligan haben die Bakterien offensichtlich übergegriffen, schließlich muß ihn der Assassine oft genug berührt haben. Lacey scheint nicht zu befürchten, daß sie die Gefühle der Insektenfrau verletzt; sie dreht sich um und beugt sich über die Lehne des Sitzes. »Lady, was sind das für Bakterien, die Sie da mitgebracht haben? Sie scheinen Ihnen nicht zu schaden, aber uns richten sie übel zu.« »Das habe ich bemerkt.« Es scheint sie fast zu amüsieren. »Machen Sie sich keine Sorgen, man kann die Bakterien 279 leicht wieder loswerden, und ich werde nach Kräften dabei helfen.« »Gott sei Dank.« Gott sei Dank, wiederholt Bates im stillen, während Sarrt meckert, daß Lacey sich endlich hinsetzen und anschnallen solle, damit er losfahren kann. Als der Gletscher aufsteigt, sitzt die Insektenfrau schweigend da; ihre vielen Arme winden sich in Spiralen eng um den Körper, den Mund mit den zahllosen Lippen hat sie geschürzt, wie es ein konzentriert nachdenkender Mensch nicht anders tun würde. Als das Rattennest schon ein gutes Stück hinter ihnen liegt, wendet sie sich an Bates. »Sie sehen nicht wie ein Mann aus, der andere Wesen unnötig sterben läßt.« »Na, hören Sie, es ist mein Job, dafür zu sorgen, daß es dazu nicht kommt.« »Ich habe keine andere Wahl, als Ihnen zu vertrauen.« Sie zögert, denkt nach. »Ich bin nicht allein hierhergekommen. Sie wissen natürlich von dem Tode meines ...« Eine lange Pause tritt ein. »... der andere, der mit mir auf diesen Planeten kam. Aber wir sind mit einem Schiff gekommen - sie würden es als Kolonistenschiff bezeichnen , lange bevor Ihr Volk diesen Planeten besiedelt hat.« »So etwas habe ich vermutet. Gibt es noch mehr Überlebende?« »Ich weiß nicht, wie viele jetzt noch am Leben sind. Sie befinden sich im Kälteschlaf.« »Was!? Soll das heißen, daß sie noch im Schiff sind?« »Ja, und das Schiff ist noch immer auf einer Kometenbahn um Ihre Sonne. Es gab einen Unfall, ich weiß nicht, was es war, denn damals waren mein ... Begleiter und ich noch in unserem Kokon, könnte man es nennen. Bei dem Unfall wurde das ganze Schiff in Kälteschlaf versetzt. Es waren über vierhundert meiner Artgenossen an Bord. Sicher wurden viele von ihnen getötet, bevor die Sicherungen des Schiffs reagierten. Aber wenn wir überlebten, dann gibt es sicher noch mehr Überlebende.« Ihre Arme wickeln sich noch enger um den Leib. »Ich fürchte um ihr Leben. Warum sprengen Ihre Ingenieure Kometen in Stücke?« »Um sie hier runterzubringen, um das Wasser zu gewinnen. Aber da ist etwas, was Sie wissen sollten: Das ist nicht die eigentliche Gefahr, die Ihren Leuten droht. Wenn ich alles richtig zusammenbringe, dann wurde dieser Killer von seiner Regierung hergeschickt, um Sie und jeden andern zu töten, der aus dem Schiff auf diesen Planeten gelangt ist. Ich möchte wetten, daß ihr nächster Schritt sein sollte, das Schiff zu übernehmen.« »Was?« Die Insektenfrau ist völlig verwirrt. »Warum?« »Um herauszufinden, woher es kommt. Wenn sie seinen Kurs zurückverfolgen, könnten sie Ihre Heimatwelt erobern, bevor irgend jemand im erforschten Sektor überhaupt weiß, daß es sie gibt.« Lacey pfeift durch die Zähne, als sie sich auf dem Sitz umdreht. »Das hört sich aber ganz nach Allianz an, Chief? Werden Sie das je beweisen können?« »Verdammt noch mal nein, aber vielleicht können wir sie daran hindern, die Sache zu Ende zu bringen. Jetzt seid mal alle still und laßt mich nachdenken, es wird nicht einfach sein.« Und Bates verbringt den Rest der Fahrt in die Stadt damit, einige der gefährlichsten Entscheidungen seiner Karriere zu treffen. Als Sam den Gleiter parkt, sieht Lacey schon den roten Transporter von Carol mit Kurs auf A-bis-Z heranstürmen. Die Landung ist sogar für ihre Verhältnisse ziemlich hart; schaukelnd kommt die Maschine vor der Laderampe zum Stehen. Mit wehenden Locken springt Carol heraus. »Himmel, Lacey - so, wie das im Fernsehen aussah, dachte ich, daß ihr drauf gehen würdet!« 280 281 »O verflucht«, sagt Bates. »Was war denn im Fernsehen zu sehen?« »Eine ganze Menge. Kanal Neunzehn brachte gegen Sonnenuntergang eines seiner Magazine; das meiste natürlich Spekulationen über diese Seuche, aber das neueste Gerücht ist so ein Unsinn über einen Erstkontakt. Großer Gott, ich möchte wissen, wie sie bloß auf solches Zeug kommen!« Carol macht ein paar Schritte zu Mulligan, der auf der Kante seines Sitzes hockt, die Beine aus der offenen Tür gestreckt, als wage er nicht herauszukommen, solange Carol vor ihm steht. »Sie haben dich also gerettet? Schrecklich.« »Irgendwie wußte ich, daß du so etwas sagen wirst.« Es hört sich ziemlich erschöpft an. »Aber würdest du mal aus dem Weg gehen? Wir haben hier jemanden, der ins Haus muß, und zwar möglichst schnell.« Als Carol zurückweicht, schlüpft Mulligan heraus. Auf der anderen Seite hält Bates galant die Tür für die Insektenfrau auf, die sich aus der Enge herauswindet und langsam aufrichtet, bis sie alles überragt: Bates, den Gleiter. Ein Schimmern und Glänzen geht von ihr aus. Zum ersten Mal in ihrer langjährigen Freundschaft erlebt Lacey Carol sprachlos; der Unterkiefer hängt schlaff herunter, während sie den Kopf in den Nacken legt und hinauf zu den goldenen Augen der Insektenfrau blickt. »Hallo«, flötet die Insektenfrau. »Sie sind die Ärztin? Wissen Sie, ich durfte auf Mulligans Gedächtnisspeicher zurückgreifen. Seine Eindrücke von Ihnen sind besonders lebhaft.« »Lassen wir das lieber«, unterbricht Lacey. »Carol! Frag sie nach den Bakterien. Sie sagt, sie könnte uns helfen.« »Gott sei Dank.« Nach einem energischen Kopf schütteln ist Carol wieder ganz die alte. »Sie können uns sagen, wie man diese Krankheit heilt?« »Für uns ist es keine Krankheit, obwohl ich mir vorstellen kann, daß es auf andere so wirkt. Es ist ein Symbiont, mit dem wir von Geburt an zusammenleben. Er reinigt unseren 282 Körper und hilft, uns zu ernähren; dafür erhält er einen Anteil an unserer Nahrung, und wenn wir sterben, gehören wir ihm.« »Du lieber Himmel«, flüstert Carol, »kein Wunder, daß ich nichts herausgefunden habe.« »Nun macht schon, wir müssen ins Haus!« Lacey blickt nervös die Gasse hinunter. »Sonst werden wir noch gesehen, ein Glück, daß hier noch niemand aufgetaucht ist.« Als sie den Garten durchqueren, öffnet sich oben die Tür zu Laceys Büro, und Rick kommt heraus, den Laser im Anschlag. Dann erkennt er sie. »Lacey, was bin ich froh, euch zu sehen. Dieser Killer ist vor ein paar Stunden ums Haus geschlichen, Maria hat es gespürt.« »Tatsächlich? Nun, der Mistkerl ist tot. Du kannst deine Kanone wegstecken. Es macht mich nervös, wie du da herumwedelst.« Erst als sie die Treppe hochsteigen, bemerkt Rick die Insektenfrau. Aber er beschränkt sich auf ein höfliches Nicken und macht Platz, um sie vorbeizulassen. Im Büro wartet Maria an der Bar; sie trinkt von dem selbstgebrauten Bier. Buddys Sensoreinheit schwenkt zu ihnen herum, der Monitor leuchtet zur Begrüßung auf. »Meine Haushaltsuntereinheit hat eine größere Menge Kaffee bereitet, und Maria hat Milch geholt und für etwas zu essen gesorgt.« »Kekse«, sagt Maria. »Das einzige, was ich machen kann. Und Rick hat Karotten und einiges andere aus dem Garten geholt.« Lacey ist viel zu aufgeregt, um zu essen, aber die anderen wissen das improvisierte Büffet zu schätzen und machen sich mit Appetit darüber her. Der Insektenfrau beim Essen zuzusehen sagt mehr über diesen Symbionten, als jede wissenschaftliche Abhandlung es könnte: Sie nimmt sich einen der krümeligen Kekse und hält ihn an ihren viellippigen Mund. Fast sofort bilden sich lange Fäden von grauen Zuk- 283 kerkristallen, die sie mit der Mundröhre graziös einsaugt. Carol läßt sie nicht aus den Augen, die Kaffeetasse in der Hand ist vergessen. »Ich wüßte gerne, wie wir es von den Leuten wieder wegkriegen, die es nicht brauchen können.« »Sehr einfach«, sagt die Insektenfrau. Sie hat mit einem der unteren Arme eine Serviette genommen und sie von Arm zu Arm weitergereicht, bis sie sich anmutig und dezent den Mund abtupfen kann. »Ich werde sie bitten zu gehen.« »Bitten ...« »Bitten. Trotzdem werden wir vielleicht etwas mit Chemie nachhelfen müssen, weil es sich um keine intelligente Lebensform handelt, was immer man darunter verstehen mag. Aber es ist mehr eine Frage der Kommunikation als einer medizinischen Behandlung. Tatsächlich wäre es das beste, ich würde Mulligan und Nunks zeigen, wie man mit ihnen spricht. Es kann den Vorgang beschleunigen. Diese Bakterien können eine normale Sprache nicht verstehen, weder gesprochene noch telepathisch übermittelte.« Carol gibt einige erstickte Laute von sich. »Nun, ich vereinfache natürlich«, fügt die Insektenfrau rasch hinzu. »Bitten ist sicher nicht das richtige Wort.« »Ach ja? Gut. Vielleicht könnten Sie das richtige Wort finden?« »Es ist eine Frage der Willenskraft ... ein telepathischer Zwang? Meine ich das?« Sie überlegt; die Lippen schieben sich zusammen wie eine Irisblende, dann öffnet sich der Mund wieder. »Eine energische Aufforderung, eine Drohung? Nein, nein ... ich kann es in Ihrer Sprache nicht formulieren. Sie können diese Art von Symbiose nicht verstehen ...ja ..., sie beruht auf Gegenseitigkeit ...« Sie schweigt. Und schweigend geht sie hinüber zu Nunks und Mulligan, die sich ebenso schweigend ihr zuwenden. »Bitten.« Carol spricht zu ihrem Gott oder vielleicht auch nur zu der Wand gegenüber. »Einfach bitten. Ich hab' Gott weiß für wie viele Dollars Tests und Recherchen am Com- 284 puter des Quäker-Hospitals gemacht, und alles, was man tun muß, ist bitten. Ich glaub', gleich werde ich heulen. Ganz leise. Nur so vor mich hin.« Als Bates sieht, daß Carol allein ist, kommt er herüber. Er will nach ihrem Arm greifen, dann zögert er man weiß nicht, wie viele Patienten mit dieser Krankheit sie schon angefaßt hat. »Sagen Sie, Doc, haben Sie die Photos mitgebracht?« »Sicher habe ich das.« Carol klopft auf ihre Tasche. »Wofür brauchen Sie sie?« »Das werden Sie in ein paar Minuten sehen. Ich muß noch ein, zwei Dinge ...« »Chief Bates?« Buddy sagt es mit einem leisen Drängen. »Ich hasse es zu stören, Sir, aber da ist ein dringender Anruf von Mr. Akeli von der Staatspolizei.« »Verflucht.« Bates setzt sich auf den Sessel vor das Telefon, links von Buddys Gehäuse. »Dann mach mal.« Akelis Gesicht erscheint auf dem Bildschirm. Die Krawatte hat er gelockert, nun hängt sie schief an seinem Kragen. »Bates, die Carlis haben trotz Protests der Raumkontrolle ein Landungsboot ausgesetzt, das jederzeit den Orbit verlassen und hier eintreffen kann. Zu einem früheren Zeitpunkt haben Sie einmal eine Strategie erwähnt, die Sie als letztes Mittel einsetzen könnten. Es wäre ratsam, das jetzt zu tun, am besten gleich.« »Äh ... Scheiße! Das geht alles ein bißchen zu schnell, Mann.« »Bates, um Himmels willen! Sie haben doch einen Plan, oder?« »Sicher. Hören Sie zu. Sobald Sie das Telefon ausgeschaltet haben, lassen Sie Ihren Einsatzleiter alles zusammentrommeln, was er an Leuten auftreiben kann. Ich brauche Ihre Unterstützung, sowohl um den Mob auf den Straßen zu 285 kontrollieren, als auch um gewisse Informationen unter die Leute zu bringen.« »Sehr gut. Ich werde auch sehen, was wir an Büro- und Computerpersonal mobilisieren können, das dienstfrei hat.« »Tun Sie das.« Bates schaltet hastig ab. »Buddy, ruf mir die Nachrichtenredaktion von Kanal Siebenunddreißig an. Sag ihnen, daß Chief Bates Luisa Jimenez Ibarra sprechen möchte; es geht um Fragen der öffentlichen Sicherheit.« Er schaut über die Schulter. »Dr. Carol, bringen Sie mir diese Holos, ja? Buddy soll sie den Fernsehleuten überspielen, und wenn Sie dran sind, dann werden Sie denen was vorlügen. Sagen Sie, daß es noch kein Mittel gegen die Seuche gibt, daß Sie aber einen vielversprechenden Durchbruch erzielt hätten nicht mehr.« »Was?« kreischt Carol auf. »Was haben Sie vor, wollen Sie eine ganze Stadt in Panik versetzen?« »Ich habe keine Wahl. Ich muß den Carlis einen gehörigen Schrecken einjagen, und ich habe nicht mehr als eine Stunde Zeit dafür.« Carol zögert, das Gesicht finster, dann bricht sie plötzlich in Lachen aus. »Carlis ohne Haare«, prustet sie. »O mein Gott, kann man sich das vorstellen? Ein Häuflein Carlis mit Glatzköpfen! Die größten Ästheten der ganzen Milchstraße, die sich in Schönheit geradezu suhlen ... Sie haben recht, el jefe, das wird funktionieren wie ein Zauberspruch.« »Ein hervorragender Plan, tatsächlich.« Buddy schnurrt geradezu vor Begeisterung. »Dr. Carol? Wenn Sie mir die Speicherboxen geben, werde ich mit der Übertragung beginnen. Mrs. Jimenez Ibarra ist in der Leitung.« Während Bates bis ins kleinste, abstoßende Detail die Arbeit der fremden Bakterien beschreibt, sitzt Carol nicht weit von ihm und übt ernste, besorgte Mienen. Es kann nicht mehr 286 lange dauern, bis sie mit der populärsten Talkshow-Gastgeberin von Polar City über ihre imaginäre Forschungsarbeit an diesem Krankheitserreger diskutieren wird. So gerne sie auch einen ordentlichen Drink gehabt hätte, Lacey gießt ihr nichts anderes als kalten Kaffee ins Glas. Die Insektenfrau sitzt graziös auf dem Fußboden, nicht weit von Nunks und Mulligan, die in identischen Posen auf der Couch lungern. Lacey vermutet, daß die drei sich unterhalten telepathisch, versteht sich. Sam geht ruhelos vor der Bar auf und ab. »Hast du nicht vor, dich endlich zu setzen?« fährt sie ihn an. »Das macht einen schon beim Zuschauen nervös.« »Du hast allen Grund, nervös zu sein, und nicht nur wegen mir, amiga. Da sind vielleicht mehr als dreihundert Leute da oben im Eis. So weit wir wissen, hat die besch... Allianz vor, sie in Stücke zu pusten. Schau, sie müssen inzwischen begriffen haben, daß ihr Plan nicht aufgeht. Glaubst du, daß sie die Republik nun diese Fremden retten lassen, einfach so?« »Nicht eine lausige Sekunde lang, Kleiner. Lieber töten sie jeden einzeln, als daß sie uns das Schiff überlassen.« »Verdammt wahr.« Das kommt von Bates, der seinen Job mit dem Fernsehen erledigt hat und herübergekommen ist. »Sobald Carol die Leitung frei macht, werden wir die Flotte verständigen.« »Die Flotte, Chief?« Sam verzieht verächtlich das Gesicht. »Wissen Sie, wie lange es dauert, bis Sie einen vom Oberkommando an die Strippe kriegen? Die Freunde unserer Insektenlady werden schon alle atomisiert sein, bis die Flotte überhaupt ein Schiff auf den Weg gebracht hat.« »So? Nun gut, und was schlägt unser Schlaumeier vor, was wir tun sollen?« »Ich habe ein Schiff im Orbit.« Er dreht sich zu Lacey. »Du, ich, ein Kanonier und der Bordcomputer mehr braucht es nicht, um die Alliierten von dem fremden Schiff fernzuhalten, bis die Flotte da ist. Wenn wir Nunks und die Insekten- 287 frau mitnehmen, dann können sie ihre Psi-Kräfte einsetzen, um es vor den andern zu finden.« »Hört sich nicht schlecht an. Rick ist übrigens als Kanonier ausgebildet, wußtest du das?« »Was!?« Bates kreischt auf. »Ihr wollt einen gottverdammten Krieg anfangen, nachdem ich mir den Arsch aufgerissen hab', ihn zu verhindern?« »Ach, wir wollen doch nicht auf sie schießen, höchstens einen Warnschuß oder so. Wir wollen doch nur eines, Chief: da rausfahren, an das fremde Schiff andocken und abwarten, ob die Allianz es wagen wird, uns wegzupusten. Wenn Bürger der Republik davon betroffen sind, dann werden sie sich das gut überlegen. Töten sie uns, dann geben sie der Konföderation einen perfekten Grund, einzugreifen.« »Ja.« Bates überlegt, reibt sich müde den Nacken. »Könnte hinhauen, nur hat Lacey keine Papiere, und auch die Insektenfrau werden sie nicht durch die Hafentore lassen.« »Wir werden sie verstecken«, sagt Lacey. »Und was meine Papiere betrifft, da sind Sie gefordert. Sie brauchen sich nur ans Telefon zu setzen und sich etwas Schönes auszudenken, eine richtig gute Geschichte, damit sie uns ohne Kontrolle passieren lassen. Es schadet ja nicht, wenn sie später die Wahrheit herausfinden, wenn es nur eine Stunde oder so dauert. Bis dahin sind wir längst an Bord des Shuttles, und sie können uns nicht mehr aufhalten.« »Herr im Himmel! Okay, wollen mal sehen, äh ... Könnte sagen, daß Sie einen Sonderauftrag haben, einen Drogenkurier verfolgen das könnte eine gewisse Zeit funktionieren, besonders wenn Sie die Insektenfrau im Kofferraum verstecken oder so.« Bates wendet sich zu Buddy, der zugehört hat; vor Aufregung leuchtet der Bildschirm ganz hell. »Buddy, schalte unter meiner Codenummer - ich bin sicher, du weißt sie schon eine Verbindung zum Computer der Hafenbehörde; dann setzt du Lacey und Nunks auf die Liste der Personen, die freien Zutritt zum Hafen haben.« »Ich war so frei, Sir, und habe das erledigt, als Sie es zum 288 ersten Mal erwähnten. Außerdem habe ich Captain Bailey als Sonderkurier der Polizei eingetragen, der mit geheimen Papieren zum Justizministerium auf Sarah unterwegs ist.« »Du bist immer einen Sprung voraus, nicht? Also gut, Lacey. Das ist alles, was ich tun kann. Wenn ihr erst durch die Tore seid, dann beeilt euch, daß ihr vom Boden wegkommt. Sie werden nicht lange brauchen, um es zu überprüfen und herauszufinden, daß es erstunken und erlogen ist.« »Oh, wir haben nicht vor, uns lange aufzuhalten, el jefe. Carol, verdammt, hör endlich auf und komm her!« »Okay, okay.« Carol läßt das Bildtelefon sein. »Chief, Mrs. Jimenez möchte noch einmal mit Ihnen sprechen.« »Sagen Sie ihr, daß ich in einer wichtigen Konferenz mit Regierungsbeamten bin. Das wird spätestens dann wahr sein, wenn Buddy das mit dem Hafencomputer geregelt hat.« »Ich werde es der Dame erklären«, sagt Buddy. »Sie ist begierig darauf, die Geschichte unter die Leute zu bringen. Dr. Carol, ich glaube, meine Programmiererin möchte mit Ihnen sprechen.« »Das wundert mich sehr, da sie mich ganz zufällig eben gerufen hat. Wenn ich dich nicht hätte!« Sie überläßt Bates den Stuhl und geht zu Lacey und Sam an die Bar. »Ich weiß nicht, wie es mit euch steht, aber ich brauche jetzt was zu trinken!« »Warte noch, bis du an mir herumgeschnippelt hast«, sagt Lacey. »Du mußt die Anschlüsse des Implantats freilegen; ich werde es brauchen, wenn wir rechtzeitig das fremde Schiff erreichen wollen.« »Lacey, du bist verrückt! Wie lange ist es her, seit du zum letzten Mal dieses Ding benutzt hast?« »Ein paar Jahre, aber das ist ein Ausrüstungsstück der Flotte, das wird noch funktionieren.« »Ja, aber was wird mit deinem Gehirn sein, wenn euer Abenteuer vorbei ist?« »Ach, wir haben eine gute Chance, überhaupt nicht 289 zurückzukommen. Warum sollte ich mir da Gedanken über einen Implantat-Kater machen!« »Da hast du recht, du verdammtes stures Miststück. Okay, komm mit ins Bad. Ich habe genug Zeug in meiner Tasche, um eine Steckdose zu reparieren. Es wird eine Weile weh tun, ich sag's dir lieber gleich.« »Wenn schon, das ist jetzt unwichtig.« Lacey will zur Tür gehen, da erblickt sie Mulligan, der steif in der Ecke steht, das Gesicht kalkweiß. »Was ist los, Mensch?« »Was meinst du damit, daß du vielleicht nicht zurückkommst?« Er klingt eher ärgerlich als erschrocken. »Genau wie ich es gesagt habe. Es kann gut sein, daß die Alliierten erst einmal schießen und dann überlegen.« »Dann mußt du mich mitnehmen.« »Sei nicht albern. Du kannst da oben doch nichts tun. Außerdem braucht Carol dich. Wenn wir alle ums Leben kommen, dann bist du der einzige, der mit diesen Bakterien reden kann.« Er verschluckt, was er hat sagen wollen. Er steht nur da und sieht sie an, mit diesem traurigen, ergebenen Blick, der sie verlegen macht. Sie möchte etwas Nettes sagen, ihm vielleicht einen Kuß geben, ihm jedenfalls zu verstehen geben, daß er ihr nicht gleichgültig ist, auch wenn sie sich noch so spröde gibt. Aber zu viele Jahre liegen hinter ihr, in denen sie gelernt hat, ihre Gefühle zu unterdrücken, sie in das Korsett der Offiziersdisziplin einzuschnüren. Und so ist ihre Kehle wie zugeschnürt, sie kann es nicht aussprechen. Nur zu einem kleinen Klaps auf die Schulter reicht es, dann folgt sie Carol auf den Flur. In dem engen Badezimmer hat Carol schon alles vorbereitet: Ein Laserskalpell und eine Tube Desinfektionsmittel liegen auf einem sauberen Handtuch; im Waschbecken dampft heißes Wasser. In der Hand hält sie eine kleine Schere. »Ich werde dir die Haare etwas stutzen müssen«, sagt Carol, »dann muß ich die Stelle rasieren.« »Tu, was du nicht lassen kannst.« Lacey setzt sich auf den Toilettendeckel. »Kommst du so gut dran?« »Ja. Jetzt halt still.« Als Carol sich an die Arbeit macht, fühlt sich Lacey in ihre Schulzeit zurückversetzt, als sie und ihre ältere Schwester sich abwechselnd ans Frisieren machten. Sie legten das Haar in Wellen, so dichte Locken, wie es nur ging, bevor sie ihr Haar dann schwarz färbten. Tausend Jahre mußte das her sein, als sie ein alberner Teenager war, der sich für nichts als Jungen und Mathematik interessierte. Carol spürte etwas Kaltes auf ihrer Kopfhaut, ein Anästhetikum wohl. »Gleich tut's weh«, sagt Carol. Lacey ballt die Fäuste, als das Skalpell in die Haut schneidet. Carols geschickte Hand führt es im Kreis, es folgt dem Rand des Implantats, das bündig mit dem Knochen eingesetzt ist. Lacey ächzt, als Carol ein blutstillendes Spray auf die kreisrunde Wunde sprüht. »Schon fast vorbei, Liebe. Ich muß die Wunde noch versiegeln.« Wieder ein Spray, wieder ein Stöhnen, dann läßt der Schmerz langsam nach. »Wie lange braucht ihr mit dem Shuttle zu Sams Schiff?« »Ungefähr eine Stunde, einschließlich der Fahrt zum Hafen.« »Okay, bis dahin dürfte es nicht mehr allzu riskant sein, den Stecker anzuschließen. Aber wenn du eine Infektion kriegst, dann sag nicht, dein Doktor hätte dich nicht gewarnt!« Sam, der draußen im Büro gewartet hat, empfängt sie mit einem strahlenden Lächeln, als wollten sie zu einer ausgedehnten Kneipentour aufbrechen. Bates sitzt noch immer am Telefon; diesmal diskutiert er mit jemandem im Hauptquartier die Frage, wie man an die Beamten, die frei haben, herankommen könnte. Mulligan steht bei der Tür, aufrecht wie ein Soldat, und sein Mund sieht aus wie der eines Kindes, das fest entschlossen ist, nicht zu weinen. Gern hätte 291 sie ihn berührt, wäre ihm übers Haar gefahren und hätte einen Scherz gemacht, daß sie unbedingt zurückkommen werde, um den Saisonbeginn der Profi-Liga nicht zu versäumen. Sollten die Alliierten beschließen, ihr Schiff aus dem Weg zu räumen, dann wäre wohl das Bedauern darüber, daß sie Mulligan nie ein Wort über ihre wahren Gefühle gesagt hat, ihr letzter und kaum zu Ende gebrachter Gedanke. Aber es sind zu viele Leute in diesem Zimmer, Bates steht vom Telefon auf, Sam wartet und Buddy beginnt Alarm zu blinken, weil seine Sensoren die Wunde an ihrem Kopf entdeckt haben. »Programmiererin!« Er spricht Kangolan. »Du bist verletzt.« »Nein, Buddy. Nur mein Implantat wurde freigelegt, damit ich mich an den Computer von Sams Schiff anschließen kann.« Er gibt einen Ton von sich wie das Wimmern einer elektrischen Gitarre; man kann es sich gut als den Aufschrei eines eifersüchtigen Computers vorstellen. »Wir reden darüber, wenn ich zurück bin«, sagt Lacey bestimmt, dann spricht sie auf Merrkan weiter. »Okay, Mulligan, paß gut auf Maria auf, ja?« »Ich werde mir Mühe geben.« Seine Stimme ist etwas unsicher; er ist überrascht, daß sie ihm ein Stück Verantwortung überträgt, auch wenn es eher ein Scherz ist. »Und paß du auf dich selber und die Insektenfrau auf!« »Sicher. Sam, wo ist Rick?« »Verstaut die Lady im Kofferraum des Bentley und bringt ihn vor die Tür. O Lacey, ich möchte wissen, was der Zoll sagen wird, wenn sie sie finden.« »Stell deinen Laser auf Betäubung und sorg dafür, daß sie keine Zeit für Fragen haben. Vamos, amigo.« Während sie die Treppe hinunterlaufen, denkt sie an Mulligan und wünscht sich, daß sie wenigstens diese drei ganz einfachen Wörter herausgebracht hätte ... Es stellt sich heraus, daß es eine Untertreibung wäre, die Insektenfrau gelenkig zu nennen; sie hat sich zu einem Bündel zusammengerollt, das ohne weiteres in den Kofferraum des Gleiters paßt. Als sie einigermaßen bequem liegt, steigen Nunks und Rick hinten ein, Sam und Lacey vorn, und sie starten zum Flughafen. Sobald sie aus der Gasse in die D-Straße einbiegen, stoßen sie schon auf eine dichte Menge aus Menschen und Lizzies, die dicht gedrängt auf den Gehwegen sich tummeln und die Kreuzungen belagern; man redet gedämpft mit hängenden Köpfen, die Stimmung ist gedrückt. Jemand hat einen großen Fernseher in ein Fenster im ersten Stock gestellt und den Ton voll aufgedreht; die Leute starren hinauf, als Mrs. Jimenez Ibarra immer von neuem wiederholt, daß es keinen Grund zur Panik gäbe, daß Chief Bates und sein oberster wissenschaftlicher Berater (damit muß Carol gemeint sein, denkt Lacey) versichert hätten, daß eine Lösung in Sicht sei. Als das Band ein weiteres Mal abläuft, fängt die Menge zu johlen und zu lachen an. »Nichts wie weg hier«, sagt Sam. Aber er ist nicht schnell genug. Bevor die große Maschine abgehoben hat, erkennt jemand Lacey und ruft ihren Namen. Eine Gruppe von Menschen kommt auf sie zu, umringt den Gleiter und drängt sich dagegen, als sie das Fenster herunterkurbelt, um mit dem dickbäuchigen Mann zu reden, der nicht weniger aufgeregt ist als die übrigen. Irgendwer murmelt, daß es Lacey noch am ehesten wissen müßte. »Was ist los, Mac?« »Was los ist, was soll das heißen! Mist, Lacey, hast du nicht die Sendung gesehen?« »Sicher, habe ich das. Ich wollte wissen, was ihr darüber denkt!« »Die verfluchte Regierung will es uns besorgen. Sie reden schon seit Jahren davon, daß in Porttown endlich aufgeräumt werden muß. Ha ... Wenn du mich fragst, sie haben da ein Virus in Umlauf gebracht, und jetzt ist es außer Kontrolle geraten.« »Das ist nicht richtig.« Sie zwingt sich, ruhig und gelassen zu sprechen. »Es ist ein Bakterium, und es ist nicht gegen uns, sondern gegen die Carlis gerichtet. Ehrenwort, ich schwör's dir.« Mac dreht sich um und brüllt es über die Straße, so laut er nur kann. Wie eine Welle breitet es sich aus, und sicher nicht darauf würde sie wetten - ohne mehr und mehr verfälscht zu werden. Sie fragt sich, ob man ihr glaubt. Wahrscheinlich nicht. »Hör mal, Mac.« Sie senkt die Stimme und flüstert es ihm zu. »Tu mir den Gefallen, aber sei vor allem verschwiegen. Es wird sich sicher für dich lohnen. Du weißt, wo du den Bürgermeister von Porttown findest?« »Sicher weiß ich das.« »Dann geh und sag Richie ihm persönlich, und nicht am Telefon -, daß Lacey die Sache arrangieren wird, wie es versprochen ist. Er soll seine Leute losschicken, damit sie für Ordnung in den Straßen sorgen. Aber es wird bald erledigt sein, in fünf oder sechs Stunden höchstens. Hast du verstanden?« Er wiederholt die Botschaft mit solcher Genugtuung, daß sie weiß, daß es in nicht einer Stunde ganz Porttown wissen wird und es wird beruhigend wirken. Nach einigem Hin und Her um den Gleiter verläuft sich die Menge, und Sam kann endlich starten. Während der kurzen Fahrt zum Hafen kann Lacey aus der Luft sehen, daß immer mehr Leute in die Straßen strömen. Es ist, als würde Milch gerinnen und immer größere Klumpen bilden. Weil man in den Luftraum über den Hafen nicht eindringen kann, ohne Alarm auszulösen, müssen sie durch das Tor. Was Bates und Buddy sich ausgedacht haben, ist den Wachen schon bekannt. Als sie ihre Ausweise zeigen, öffnet man ihnen das Tor. Gleich dahinter erwartet sie jedoch der Zoll; sie müssen eine metallene Röhre, hundert Meter lang, 294 passieren, doch zunächst stellen sich ihnen vier Beamte, zwei Menschen und zwei Lizzies, in den grünen und rotbraunen Uniformen der Hafenbehörde in den Weg. Als Sam das Fenster öffnet, legt eine dicke Lizzie-Frau eine Klaue auf den Rahmen und lehnt sich herein. »Ein Sonderkurier, so? Und eine Drogenfahnderin in geheimer Mission? Donnerwetter, kann ich nur sagen. He, Lacey, sie werden Ihnen die Papiere nicht zurückgeben, ohne vorher mit uns zu reden.« Lacey zieht mit einer raschen Bewegung den Laser und feuert. Als der Betäubungsstrahl die Lizzie trifft, schreit sie auf und fällt zuckend zu Boden. Sam tritt das Gaspedal durch, der Bentley schießt nach vorne. Die drei übrigen Zollbeamten werfen sich zur Seite und prallen gegen die Metallwand, daß es nur so dröhnt. Mit einem Aufheulen jagt der Gleiter durch die Röhre. Während sie über das Hafengelände brausen, ertönen Alarmsirenen. Lacey kann das zierliche Shuttle der Montana erkennen, das schon aufgerichtet an einer Startrampe steht. Sam sucht etwas in seiner Hemdtasche, dann wirft er ihr ein kleines Kästchen zu, eine Art Fernbedienung. Obwohl dieses höchst illegale Gerät nur zehn Knöpfe hat, kann sie damit den Shuttlecomputer dazu bringen, die Frachtluke zu öffnen und die Verbindungen zur Startrampe zu lösen, während sie noch fast einen Kilometer entfernt sind und ohne daß die Hafenverwaltung erfährt, daß ein Raumfahrer sich anschickt zu starten, ohne seine Rechnung bezahlt zu haben. Als sie das Shuttle erreichen, ist das Tor zum Rampenkomplex geöffnet, und an der weißen Wolke um den Rumpf kann man erkennen, daß es vollgetankt ist. »Also, Leute«, sagt sie, »tun wir doch einfach so, als ob es ein Notfall wäre und wir die Lady aus dem Kofferraum und ins Schiff schaffen müßten, als ginge es um Leben und Tod.« »Teufel noch mal«, sagt Sam, der den Bentley mit einem Ruck zum Stehen bringt, »vielleicht ist es so.« Als Rick die Insektenfrau im Kofferraum verstaute, hat er 295 in Laceys Garage eine Rolle Plastiktuch gefunden, die er ihr als Kissen unterschob. Als sie nun herausklettert, wickelt sie das Tuch um ihre untere Körperhälfte, während Sam aus der Frachtluke eine große Kiste holt, die er vor ihrer oberen Hälfte herbalanciert. Wie sie nun gemeinsam unten oder oben anfassen und schieben, sieht es zumindest von weitem so aus, als würden sie ein gewöhnliches Frachtstück in den Laderaum schaffen. Leider werden sie aus der Nähe beobachtet. Gerade als Lacey die Luke schließen will, sieht sie zwei Hafenarbeiter, die sie anstarren. »Mist! Sam, bring alle schleunigst in die Kabine, wir müssen starten. Es gibt Ärger.« Es war nicht schwer zu erraten, daß die beiden Arbeiter losrennen und Alarm schlagen würden, während nun die Luke einrastet und luftdicht abgeschottet wird. Der Computer des Shuttles ist eine Nebenstation des Schiffscomputers, deshalb schaltet Lacey sofort ein, als sie den Kontrollraum erreicht. Zwar kann Sam das Shuttle auch mit Handsteuerung in die Umlaufbahn bringen, aber sie muß sich jetzt langsam mit dem Schiffsrechner vertraut machen. Doch wird sie das Implantat erst an Bord der Montana benutzen; sie muß sich an diesen Gedanken noch gewöhnen. Im Kopfhörer meldet sich die ruhige Stimme des Computers. »Willkommen an Bord, Programmierer.« »Danke, Delta Vier. Hier spricht Bobbie Lacey, Lieutenant Commander im Ruhestand, Dienstnummer ...« »Nicht nötig, Programmiererin. Ich weiß, wer Bobbie Lacey ist, und ich weiß auch die Ehre zu schätzen, mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen.« »Was sagst du da?« »Es ist nicht wichtig, Programmierer in. Ich verfolg gerade den Polizeifunk. Drei bewaffnete Gleiter nähern sich dem Shuttle.« »Aufgepaßt!« ruft Sam. »Es geht los!« Die Triebwerke beginnen zu brüllen, der Raumtransporter schüttelt sich, dann drückt die Beschleunigung sie in die Sitze. Unsanft lösen sich die Verbindungen zur Startrampe. Noch in dem ohrenbetäubenden Lärm kann Lacey das Poltern von ungesicherten Gegenständen hören, die in der Kabine herumkullern. Ihr Atem geht keuchend, während der Andruck noch zunimmt, aber Lacey kennt dieses lähmende Gefühl auf der Brust nur zu gut. »Programmiererin, Flugobjekt bei drei Uhr.« »Ausweichkurs steuern«, keucht Lacey, »übernehmen Sie, Captain.« Nunks kreischt auf, als das Shuttle sich zur Seite neigt. Für einen Augenblick läßt die Beschleunigung nach, dann drückt die Riesenfaust sie wieder nieder. »Delta Vier«, sagt Lacey, »ich übergebe dir die Steuerung des Schiffs. Leite Rendezvous-Manöver ein. Ich verlaß mich ganz auf dich, wirst du es schaffen, Baby?« »Ja, Sir. Ich bin schon dabei, den Antrieb zu aktivieren. Ich werde die nötigen Codes fälschen, um die Station ohne Genehmigung verlassen zu können. Wie tief soll ich heruntergehen?« »So tief du kannst, ohne die Umlaufbahn aufzugeben. Evakuiere das Shuttle-Dock und öffne die Luken, damit wir keine Zeit verlieren.« Mulligan steht am Fenster von Laceys Büro und starrt hinüber zum Hafen. Ein Schiff steigt auf und heult durch die Nacht, und obwohl es zu weit entfernt ist, um irgend etwas erkennen zu können, denkt er, daß er nun Lacey gesehen hat, zum letzten Mal wohl. Ohne sein Zutun hat ein Teil seines Bewußtseins zu senden begonnen. Lacey, geh nicht. Tu es nicht. Bleib hier. Als ob sie ihn empfangen könnte. Seine Angst um sie ist wie frostige Luft, die bei jedem Atemzug Schmerzen bereitet. »Einheit Mulligan?« sagt Buddy. »Ja? Was willst du?« 296 297 »Ich muß dir etwas gestehen. Ich habe dich angelogen. Sam Bailey ist nicht Laceys Liebhaber. Tatsächlich zieht er Männer vor.« Mulligan wirbelt herum und starrt den matt leuchtenden Bildschirm an, als könne er darin lesen wie in dem Gesicht eines Gesprächspartners. »Du verfluchter Mistkerl!« »Es tut mir sehr leid. Es war eine vorübergehende Funkstörung, die meine Programmiererin, behoben hat.« »Wenn du das jemals wieder tust, werde ich mir deine Schaltkreise vornehmen, verdammter Steckdosenlutscher.« Buddy summt kurz, dann verstummt er. Mulligan hat die Arme fest über der Brust gekreuzt und geht ruhelos im Zimmer auf und ab, bis Buddy ihn anspricht. »Kannst du dich nicht setzen oder wenigstens stillstehen? Du überlastest meine Sensoren, und ich brauche die volle Kapazität, um meiner Programmiererin zu helfen.« »Okay, okay.« Mulligan läßt sich auf das Sofa fallen. »Was tust du da überhaupt?« Buddy zögert; ein buntes Kräuselmuster läuft über den Bildschirm. »Du weißt nicht genug, um mich daran hindern zu können, deshalb werde ich es dir sagen. Ich habe einen Bericht über diesen Vorfall verfaßt und gebe ihn jetzt an die Computer aller Nachrichtenredaktionen des ganzen Sonnensystemsweiter.« »Du machst was?« »Die H'Allevae fürchten die öffentliche Meinung. Sie wissen, daß sie im ganzen erforschten Raumsektor gehaßt und gefürchtet werden, und sie wollen diesen Zustand nicht noch verschlimmern. Solange sie es heimlich tun können, werden sie nicht zögern, Captain Baileys Schiff zu vernichten. Aber sobald das ganze System zuschaut, werden sie sich zurückhalten.« »Buddy, manchmal bist du wirklich ein Genie!« »Obwohl ich mit deiner Einschätzung meiner Intelligenz übereinstimme, muß ich gestehen, daß ich diese Idee von Chief Bates übernommen habe. Seine Taktik, diese Epidemie bekanntzugeben, war so geschickt, daß ich nur dasselbe Prinzip auf diesen Fall anzuwenden brauchte.« »Sehr gut. Schaltest du mir den Fernseher ein, ja?« Mit einem leichten Zischen leuchtet der große Bildschirm auf. Die Polar City Bears spielen gegen die Freehaven Pirates, und es ist das vierte Inning. Mulligan nimmt sich etwas zu trinken, setzt sich auf die Couch und wartet. Zwei Gläser später, zum Beginn des fünften Innings, taucht ein Ansager auf, ein grimmig aussehender Lizzie hinter einem Stehpult, ein Blatt Papier in der Hand. Seine Nickhäute flattern nervös. »Wir unterbrechen die Übertragung für eine Sondermeldung. Heute hat die Polizei von Polar City, wie es heißt, gewisse Aktivitäten der Botschaft der Allianz aufgedeckt. Zu den Vorwürfen, in denen ermittelt wird, gehört der Verdacht auf versuchten Völkermord ...« »... an einer bisher unbekannten intelligenten Spezies.« Das Gesicht des Ansagers auf dem Bildschirm zwischen den Armaturen des Shuttles ist ziemlich verschwommen. »O Mann!« sagt Sam grinsend. »Woher wissen die das? Wie, zum Teufel, haben sie es herausgekriegt?« »Die Medienleute verstehen ihr Handwerk, Mensch.« Lacey beachtet es kaum. »Den Hauptsichtschirm einschalten, Captain.« Flackernd und nach einigen Lichtblitzen erhellt sich der große Bildschirm, dann taucht die Montana auf, die vielleicht zwanzig Kilometer über ihnen schwebt. Ein Bündel aus silbernen Kugelelementen, große und kleine, die durch kurze Tunnelröhren verbunden sind. Dicke Kabelstränge winden sich um die Kugel. Das Shuttle bäumt sich leicht auf, als Sam die Frontdüsen zündet, um abzubremsen, dann gleitet es 298 299 stetig weiter. Über ihnen öffnet sich die riesige Luke des Shuttle-Docks wie zur Begrüßung. »Lieber Gott, was ist sie niedrig«, murmelt Sam. »Sei froh, Mann. Seitensichtschirm einschalten.« Auf einem zweiten Bildschirm, aus einem etwas anderen Blickwinkel, erscheint ein Ausschnitt der roten Kugel von Hagar, auf der man die riesigen Wirbel von Sandstürmen sehen kann und, deutlich dagegen abgehoben, den schwarzen Keil einer Fregatte, die eben die Atmosphäre hinter sich läßt und auf sie zukommt. »Mist«, sagt Sam. »Na, wenn schon, Captain. Bring uns rein, und zwar schnell. Sie sind schon fast in Schußweite.« Fluchend läßt Sam die Finger über die leuchtenden Sensorfelder huschen. Jetzt ist der Augenblick gekommen, den Lacey die ganze Zeit fürchtete; sie öffnet eine Klappe zwischen den Armaturen und holt ein kleines Modul heraus, hält es eine Weile in der geschlossenen Hand, damit es durch die Körperwärme aktiviert wird, und steckt es dann in das Implantat. Zuerst ist nichts zu spüren, dann fühlt sie ein leichtes Elektrisieren, und ihre Augen beginnen zu blinzeln, sie sieht verschwommen. Als es endlich vorbei ist, ist der Hauptsichtschirm schwarz geworden, bis auf eine dünne rote Linie, die schließlich auch verschwindet. Sie sind im Shuttle-Dock, und die Luke ist geschlossen. »Sicher an Bord, Captain.« »Das wird uns eine Menge nützen«, schimpft Sam. »Sie sind längst in Schußweite.« Als das Shuttle erzittert, schreit Lacey auf; aber sie haben nur den Anlegetrichter des Docks berührt und gleiten jetzt hinein. Als der Trichter den ganzen Bug bedeckt, schaltet Lacey auf den Sichtschirm der Montana um. Da unten ist noch immer die Fregatte, sehr schön, und sie kommt immer näher. Sam ist schon aufgestanden und geht um die Instrumententafel herum zur Hauptschleuse. Rick ist schon bei ihm. 300 »Komm schon«, fährt er Nunks und die Insektenfrau an, »es eilt.« Lacey bleibt noch einen Augenblick an ihrem Platz, um mit Delta Vier zu sprechen. »Gut gemacht, mein Junge. Ich habe jetzt das Implantat aktiviert, du kannst mir Daten übermitteln. Öffne die Schleuse, so schnell es geht.« »Noteinschleusung vorbereitet, Programmiererin. Beide Befehle ausgeführt.« Sie hört ein Jaulen wie das einer vorbeihuschenden Polizeisirene; ihre Augenlider flattern und beruhigen sich dann wieder, während vor ihren Augen scheinbar Zahlenreihen in verschiedenen Farben auftauchen, neben dem räumlichen Bild des Navigationskegels. Über das Implantat erhält die Sehrinde ihres Gehirns visuelle Reize ohne den Umweg über die Augen. Sie taumelt und fällt beinahe; sie muß sich erst wieder daran gewöhnen, wie man diese Bilder aufnimmt, ohne das zu vernachlässigen, was die Augen tatsächlich sehen. Und außerdem schmerzt die Wunde, wie Carol es schon angekündigt hat. »Lacey.« Sam nimmt ihren Arm und stützt sie. »Alles in Ordnung?« »Es geht gleich wieder. Laß uns hier verschwinden.« Die Iris der Schleusenöffnung gleitet auseinander, und sie gelangen direkt in die Druckkabine des Lifts. Als sie alle fünf sich hineinzwängen, meldet sich die Stimme von Delta Vier mitten in Laceys Kopf. Um zu antworten, muß sie allerdings ihre Stimme und das Mikrophon benutzen. »Befehle, Programmiererin?« »Starte die Hilfstriebwerke und bring uns auf die ursprüngliche Umlaufbahn zurück. Wir haben einen Kanonier an Bord. Mach den Geschützturm bereit.« »Ein Kanonier, Programmiererin? Habe ich richtig gehört?« »Du hast richtig gehört, Delta Vier. Bereite das Programm zum Verlassen der Umlaufbahn vor. Mach das Schiff 301 gefechtsklar. Diese Fregatte kann jeden Moment auf uns schießen.« »Wird gemacht, Programmiererin. Ich gebe die neuen Navigationsdaten ein. Über die Fregatte sollten Sie sich keine Sorgen machen. Sie wird nicht schießen.« »Ach ja? Und woher weißt du das?« »Ich darf es nicht sagen. Aber Sie werden schon sehen, daß ich recht habe.« Vor ihrem inneren Auge tanzt der Navigationskegel hin und her, während der Lift nach oben gleitet; fast hätte Lacey sich erbrochen. Doch als der Kegel rot aufleuchtet, zum Zeichen, daß die Montana sich in Bewegung setzt, da ist mit einem Mal die alte Fertigkeit wieder da, die zu den Dingen gehört, die man nie wieder völlig verlernt, wenn man sie einmal beherrscht. Die Zahlen und Graphiken vor dem inneren Auge sind ihr nicht mehr bewußt, sie versteht sie ganz unmittelbar und kann sie sofort auf die Steuerung des Schiffs anwenden. Flüsternd gibt sie Delta Vier ihre Anweisungen, läßt ihn winzige Kurs- und Schubkorrekturen ausführen, während das Schiff beschleunigt und in einer Spiralbahn sich aus Hagars Gravitationssenke windet. Wie eine Fliege, die aus einem Glas krabbelt. Obwohl der Computer das auch allein ausführen könnte, läßt sich durch menschliches Eingreifen, vor allem durch Intuition, das Manöver präzisieren, so daß sie am Ende vielleicht drei oder gar vier Minuten eingespart haben. Das bedeutet einen beträchtlich größeren Abstand von der Fregatte. Als der Lift mit einem Ruck anhält, nimmt Sam wieder ihren Arm und führt sie in die Kommandozentrale, ein Halbrund über einem transparenten Fußboden, die obere Hälfte eines Kugelelements. Ohne daß man es ihm sagen muß, macht Rick den Geschützturm in der unteren Kugelhälfte aus und ist schon durch den Verbindungstunnel geglitten. Vor dem inneren Auge sieht Lacey die Kontrollampen an der Luke aufleuchten, die ihm den Zugang freigeben. Bevor sie noch den Befehl geben muß, startet Delta Vier das Lernprogramm, das Rick in die Bedienung des ihm unbekannten Geschütztyps einweist. »Nunks, Lady, schnallt euch an«, befiehlt Sam, »da drüben. Da wären wir also, Lacey. Hier ist dein Platz.« »Genau rechtzeitig. Wir können die Umlaufbahn gleich verlassen, Captain.« »Gut. Für die Beschleunigungsphase bereit machen.« Lacey kniet sich auf die Liege und schmiegt sich an das Polster, das den Körper vom Kinn bis zur Hüfte unterstützt. Während des Beschleunigens bläst sich das Polster auf und macht so den Andruck erträglich, der einige Sekunden lang, bis sie die Gravitationssenke verlassen haben, unvermeidlich ist. Neben ihr legen Nunks und die Insektenfrau die Gurte an - nicht nur Schiffskameraden, sondern zugleich Navigationshilfen. Die Insektenfrau in ihrer schimmernden Körperhülle scheint ruhig zu sein, Nunks jedoch verliert vor Aufregung wieder Haare. »Verdammt«, sagt Sani. »Hör dir mal diese Funksprüche an, Lacey.« Sie schaltet ein, und eine barsche Stimme dringt aus dem Kopfhörer. »Station an Montana, Sie haben keine Startfreigabe. Hören Sie mich, Montana? Starten Sie nicht ohne Erlaubnis! Kehren Sie zur Station zurück, oder Sie machen sich strafbar. Montana, hören Sie mich?« »Leck mich«, murmelt Sam. »Also, meine Lieben, es geht los.« Die Montana erzittert. Ein ohrenbetäubendes Brüllen dringt aus allen Poren des Schiffs, während sie gegen ihre Liegen gepreßt werden, deren Polster sich mit Luft füllen. »Montana, stoppen Sie! Ich befehle Ihnen, den Start abzubrechen! Schalten Sie die Triebwerde ab!« »Ich habe gesagt, ihr könnt mich«, keucht Sam in sein Mikrophon. »Verstehst du kein Merrkan, Kumpel?« »Delta Vier«, flüstert Lacey, »bring uns hier weg.« »Wird gemacht.« 302 303 Mit einem Ruck schießt das Schiff davon; die Montana beschleunigt nun mit voller Kraft, daß es ihnen den Atem nimmt. Auf dem Hecksichtschirm sieht Lacey Hagar kleiner und kleiner werden, bis er nur noch ein roter Fleck zwischen den funkelnden Sternen ist. Die Fregatte folgt ihnen noch ein Stück, dann fällt sie langsam, aber stetig zurück. Im Funkgerät wird das Rauschen immer stärker. »Sehr gut, Montana. Es wird Anklage gegen Sie erhoben werden. Ihr Schiff wird im nächsten Hafen, den Sie ansteuern, beschlagnahmt werden. Haben Sie verstanden, Montana? Es wird Anklage erhoben ...« Die Stimme verstummt, als Sam mit einem kräftigen Schlag den Schalter umlegt. »Operator, wir verringern die Beschleunigung. AntiSchwerkraft einschalten.« »Verstanden, Captain. Delta Vier, auf null-acht g zurückgehen, Triebwerke bei voller Leistungsbereitschaft halten. Wir müssen jederzeit gefechtsbereit sein.« Das Brüllen hört auf, und für kurze Zeit sind sie schwerelos, bis das Anti-Schwerkraftfeld eingeschaltet ist. Lacey legt sich auf der Liege zurecht, daß sie ihre Arme frei bewegen kann, für den Fall, daß sie das Schiff manuell steuern müssen; das konnte leicht passieren, wenn etwa die H'Allevae mit einem guten Schuß den Computer ruinierten. Sam neben ihr ist dabei, die Triebwerke zu überprüfen. »Also, ihr beiden«, wendet sich Lacey an die Telepathen. »Wo, zum Teufel, soll es jetzt hingehen?« »Wir haben mein Schiff trianguliert. Ich kenne seine Position jetzt«, sagt die Insektenfrau und lockert ihre Gurte ein wenig, um sich zu Lacey umdrehen zu können. »Im Gedächtnis Mulligans bin ich auf ein Kinderspiel gestoßen, das >Heiß oder Kalt< genannt wird. Damit könnte ich wohl am besten den richtigen Kurs angeben. Gerade jetzt ist es etwas warm. Wir müssen uns mehr aus der Sonnenbahn entfernen.« »Kurskorrektur in kleinen Schritten, Captain. Wie sieht es jetzt aus, Lady?« »Ziemlich warm.« »Nicht mehr als drei Grad korrigieren, Captain.« »Heiß! Definitiv heiß!« »Okay! Wie weit ist es noch?« »Bei dieser Geschwindigkeit, drei Stunden Ihrer Zeitrechnung, würde ich sagen.« »Okay«, meint Sam, »wenn wir so lange noch leben. Diese Fregatte hat mir kaum Sorgen gemacht, Lacey. Aber ich habe da ein paar Hüpfer in meinem Kopfhörer. Ich denke, wir sind hier nicht so allein, wie es auf den ersten Blick scheint.« »Ja? Verfolgen sie uns?« »Verflucht, genau das tun sie. Und wenn sie unser Spielchen mit der Fregatte mitbekommen haben, dann wissen sie auch, daß wir nicht irgendein Handelsschiff sind. Ich wette, sie lassen sich von uns dahin führen, wo wir und auch sie hinwollen. Und im letzten Moment werden sie es uns vor der Nase wegschnappen.« »Können wir sie nicht abhängen?« »Vielleicht.« Er beugt sich über die Konsole, bunte Kontrollampen spiegeln sich in seinem Gesicht, und dann betätigt er einige Schalter. Vor Laceys innerem Auge huschen die Daten zur Schiffskonfiguration vorbei. Fast körperlich kann sie fühlen, daß die Schiffsmasse abnimmt. Delta Vier sendet ihr ein Alarmsignal, als die Montana giert und rollt. Lacey gibt über die Tastatur die Korrekturdaten ein, während sie Sam fragt: »He, Mann, was machst du denn?« »Ich schmeiß die ganzen Frachtcontainer raus. Teufel, wozu ist man versichert? Sag Delta Vier, daß er das Schiff ausbalancieren soll, und zwar schnell. Ich werd' jedes Gramm über Bord werfen, das wir nicht brauchen, um zu beschleunigen.« 304 305 Während sie die Befehle gibt, fällt Lacey ein, daß der Computer recht behalten hat, was die Fregatte anging: Sie wurden nicht beschossen. Aber sie hat jetzt keine Zeit, um darüber nachzudenken. Weil er den Polizeigleiter Sergeant Nagura überlassen hat und der Bentley mit Lacey und ihren Freunden verschwunden ist, fährt Bates mit Laceys alter Kiste zurück zum Hauptquartier. Inzwischen färbt sich der Himmel langsam rosa, mit jenem bräunlichen Unterton, der einen besonders klaren Tag auf Hagar ankündigt. Als er sich dem Hauptquartier nähert, kann er sehen, daß alle Eingänge von dichtgedrängten Massen belagert werden und Transporter mit den Aufschriften der verschiedenen Fernsehgesellschaften den Verkehr in den umliegenden Straßen blockieren. Zum Glück hat das Polizeigebäude ein flaches Dach, und nach einem vorsichtigen Überflug gelingt Bates eine perfekte Landung. Er parkt auf der Seite, für den Fall, daß noch andere diesen improvisierten Landeplatz benutzen müssen. Dann geht er hinüber zum Schwebeschacht, dessen Eingang von sechs bewaffneten Männer bewacht wird. »Chief!« salutiert Maggio kurz. »Die Leute warten, daß sie endlich kommen!« »Wer sind die Leute?« »Einmal Parsons und Akeli, Sir. Sie haben versucht, die Fernsehleute bis jetzt aufzuhalten. Und außerdem hat die Armee in Ihrem Büro eine Kommandozentrale eingerichtet.« »In meinem Büro, sieh an! Nun, wir werden sehen. Okay, Maggio, gehen Sie voraus und melden Sie, daß ich auf dem Wegbin.« Als Bates aus dem Schacht tritt, stolpert er fast über einen rotäugigen und heiseren Parsons, der auf ihn wartet. »Die Geschichte ist raus, Chief. Sie senden es schon alles! Über den Erstkontakt, den versuchten Völkermord, diese Krankheit wirklich alles.« Ganz kurz nur wird Bates schwindlig, dann kann er sich aufraffen. Er zuckt mit den Schultern. »Dann können wir uns die blöde Pressekonferenz sparen, hab' ich recht? Sagen Sie dem Pack, daß es nach Hause gehen soll. Wir wissen nicht mehr als sie.« »Das erzähle ich ihnen schon die ganze Zeit. Sie glauben mir nicht.« Bates kann noch ein paar Flüche aus seiner Zeit bei den Marinetruppen der Republik zusammenkratzen. »Besorgen Sie mir Kaffee, Parsons, ja? Ich werde mich um die Staatspolizei kümmern. Dann sehen Sie mal zu, daß Sie irgendwo ein bißchen schlafen können.« Er findet Akeli in seinem Büro, in die Ecke neben dem Wasserbehälter gequetscht; er starrt aus dem Fenster, als könnte er die Antwort auf seine Probleme in dem Geflacker des Nordlichts lesen. Mindestens eine halbe Tonne Elektronik hat man auf Bates' Schreibtisch gestapelt, und dabei sitzen zwei graugesichtige, vor sich hinmurmelnde Techniker, um sie zu bedienen. Auf Bates' Schreibtischstuhl sitzt General Spinks, Kommandeur der Territorialreserve von Polar City ein kleiner Schwarzer mit schmalen Augen, der Bates ganz unverhohlen feindselig mustert, als er hereinkommt. »Zutritt nur für Regierungsbeamte.« »Was Sie nicht sagen, mein Lieber!« Bates geht hinüber und packt ihn beim Kragen. »Das ist mein Büro, und hier gilt, was ich sage.« Er hievt den General von seinem Stuhl und stellt ihn auf die Beine. »Und wenn Ihnen das nicht paßt, dann sagen Sie's der Präsidentin, mein Junge.« Er setzt sich auf den Sessel und wendet sich Akeli zu. »Also, was ist los?« »Nicht viel, was die momentane Lage betrifft. Eine Zeit 306 307 wachsamer Anspannung, könnte man sagen, hin und wieder gestört durch ein Kommunique entweder der Carlis oder der Allianz-Botschaft. Wir dagegen haben formell Beschwerde eingelegt bei den einen, damit sie den Truppentransporter aus dem Orbit entfernen, bei den andern, daß sie die Witwe des Ermordeten und das Hauptneutrum seiner Familie ausliefern.« Spinks starrt mit offenem Mund erst zu Akeli> der mit Bates von gleich zu gleich redet, dann zu Bates, der ihn keines Blicks mehr würdigt, bis er dann das tut, was er schon längst hätte tun sollen: Er verdrückt sich aus dem Büro. »Also können wir nichts tun, als zu warten«, sagte Bates, während die Verwirrung nun auf die beiden Techniker übergreift. »Ein frustrierender Verlauf, aber jede andere Handlungsweise wäre nicht weniger unfruchtbar. Übrigens, Bates, was hat Sie bewogen, die Medien derart umfassend zu informieren?« »Hab' ich gar nicht. Nichts liegt mir ferner, mein Lieber. Diese Medienleute verstehen ihr Handwerk, kann man wohl sagen.« Er nimmt sich vor, daß er bei nächster Gelegenheit Buddys Plastikhaut einmal tüchtig gerben wird. »Hat Parsons die Einheiten richtig in der Stadt verteilt?« »Ich habe mir erlaubt, dem Sergeanten zu assistieren. Ich denke, das ist in Ihrem Sinne. Der Einsatzplan wurde in Ihrem Computer gespeichert.« Akeli gestattet sich das erste menschlich wirkende Lächeln, das Bates je an ihm gesehen hat. »Das heißt, wenn Sie das verdammte Ding finden können.« Das veranlaßt einen der beiden Techniker, die Kisten und Kästen von Bates' Schreibtisch zu räumen und auf einem freien Stuhl zu stapeln. Sobald Bates wieder seinen Bildschirm sehen kann, versucht der Computer hektisch mit ihm Kontakt aufzunehmen: Gut, daß Sie da sind, Sir. Das heißt, gut, daß ich wieder sehen kann. Meine Sensoren waren seit Stunden blockiert. Kann ich sprechen, oder ist dies, wie ich ver- mute, eine heikle Situation? Wo ist Bobbie Lacey, ist sie in Sicherheit? »He, mein Junge, nun beruhige dich. Tut mir leid wegen der Sensoren. Aber auf diesem Planeten ist die Hölle los, und ich konnte nicht früher zurückkommen. Und Lacey, nein, leider kann man nicht sagen, daß sie in Sicherheit ist, aber wenn jemand damit fertig werden kann, dann sie. Okay?« Ich denke, daß Sie recht haben, aber seit dieses Gespräch über das Datennetz kam ich meine, Entschuldigung - ich bin bereit für Input und Ihre Befehle, Sir. Sicher möchten Sie die Aufstellung der Einheiten in der Stadt überprüfen. Ist schon auf dem Monitor, Sir. Obwohl Bates sich fragt, was der Computer mit diesem Gespräch über irgendein komisches Datennetz meint, er hat jetzt keine Zeit, sich darum zu kümmern. Auf dem Bildschirm erscheinen die Abschnitte des Stadtplans von Polar City. So weit sich das rein geometrisch beurteilen läßt, sind die roten Punkte - für die Leute der Staatspolizei - und die blauen seine eigenen Leute genau richtig verteilt; Akeli und Parsons haben die kritischen Punkte abgedeckt, so gut es mit den verfügbaren Beamten ging. Er möchte gerade etwas Lobendes äußern, als eines dieser Armee-Geräte zu piepsen und jaulen beginnt. »Alarm. Unbefugte Person im Schwebeschacht. Alarm. Unbefugte Person im Korridor. Alarm. Unbefugte Person an der Tür.« Bates steht auf, die Betäubungspistole in der Hand, als die Tür sich öffnet und Ka Pral hereinrauscht. Der Protokollchef in vollem Ornat, die grüne Robe mit goldenen Ehrenketten und Orden über und über geschmückt, daß es bei jeder Bewegung nur so klingelt und glitzert. So schnell er kann, steckt Bates die Pistole weg und erwidert die Verbeugung des Carlis. »Bates, ich habe mich einer grotesken Unhöflichkeit schuldig gemacht. Ich habe meine diplomatische Immunität 308 309 benutzt, um meine unwürdige Person durch Ihre hervorragenden Sicherheitskontrollen zu schleusen.« »Ka Pral, ich habe die Ehre, jeden Gedanken an eine Unhöflichkeit zurückzuweisen. Ich bin glücklich, daß meine bescheidenen Sicherheitsvorkehrungen Sie nicht aufhalten konnten.« »He«, murmelt der eine Techniker, »so übel auch wieder nicht.« Der andere zischt ihn an, zu schweigen. Bates und Ka Pral kümmern sich nicht darum. »Was verschafft mir die unschätzbare Ehre Eures Besuchs in unserem erbärmlichen Hauptquartier?« »Aber nicht doch. Dies alles ist weitaus stattlicher und erfreulicher anzusehen, als ein Wicht wie ich mit eigenen Augen zu sehen verdient.« Ka Pral zögert; die dünnen blauen Lippen zucken, was bedeutet, daß er ein schwieriges Problem auf dem Herzen hat. »Ich bin überaus glücklich, daß Sie mir die Freude Ihrer Gegenwart länger als nur für einen Augenblick bereitet haben, den es braucht, um mich wegzuschicken.« »Wie? Warum sollte ich mich um die Ehre eines Gesprächs mit einer so beeindruckenden Persönlichkeit wie Euch bringen?« Bei diesen Worten läßt sich Ka Pral auf einen Stuhl fallen -und vergräbt beide Hände in dem flauschigen Fell seines Gesichts. »Verzeihen Sie, Bates. Ich bin sehr müde. Das Zeremoniell ist zuviel für mich. Die Nachricht von dieser Seuche hat meine ganze Botschaft in gräßliche Panik versetzt. Ich komme nicht, um höfliche Formeln auszutauschen, sondern mit der Bitte, uns zu verzeihen.« Seine Ohren hängen traurig herunter. »Ich glaube nicht, daß die Lage diesen unentschuldbaren Verstoß gegen die üblichen Normen rechtfertigt, den einige Mitglieder unserer Regierung für angebracht halten.« Es dauert einige Sekunden, bis Bates begreift, daß der Carli von dem Truppentransporter im Orbit spricht. »Ach, ich selbst habe diese etwas übereilte Aktion schon bedauert, doch liegt es mir fern, Exzellenz dafür verantwortlich zu machen. Was kann ein einzelner gegen den Willen der Mehrheit tun?« »Danke, Bates. Ich bin hocherfreut.« Eine Weile sitzt er da, die Hände vor das Gesicht gelegt. »Ich weiß, daß viele Spezies im erforschten Raum sich über unsere zeremonielle Art des Umgangs miteinander lustig machen, aber bald werden Sie sehen, warum wir dies für notwendig halten. Bates, irgendwo habe ich gelesen, daß die wichtigste Aufgabe einer Lizzie-Mutter darin bestehe, ihre Kinder zu lehren, den Dingen ins Auge sehen, die sie fürchten, und sich nicht vor ihnen zu verstecken. Und eine Menschenmutter habe die Aufgabe, ihren Kindern zu lehren, wie man teilt, anstatt nur zu nehmen und den Besitz zu vermehren. Wissen Sie, was die wesentliche Aufgabe einer Mutter bei unseren Spezies ist?« »Ich weiß es nicht.« »Den Kindern beizubringen, zu denken anstatt zuzubeißen. Wir schnappen instinktiv zu und denken danach. Es muß an unserer Natur als fleischfressende Wesen liegen, denke ich.« Mit einem Seufzer steht er auf und streicht seine Robe glatt. »Aus eigener Initiative kann ich nichts tun. Ich kann nur einen gewissen Druck auf den derzeitigen Vorsitzenden unseres Staatsrats ausüben. Er ist mein Schwiegersohn.« »Euer Exzellenz! Nie würde ich wünschen wollen, daß Sie persönliche Bindungen unserer unwürdigen Belange wegen belasten!« »Tatsächlich? Ich bin hocherfreut über Ihr Einfühlungsvermögen, aber haben Sie eine bessere Idee?« »Zufällig habe ich das. Diese Seuche, wissen Sie, hat schwere Verunstaltungen zur Folge.« »Ich fürchte, das weiß ich nur zu gut, leider.« 310 311 »Aber wissen es auch die Soldaten in dem Landungsboot?« Ka Prals Ohren richten sich blitzartig zur vollen Länge auf; sein ganzes Erscheinugnsbild ist plötzlich wie verwandelt. Er wirkt erleichtert. »Aber, Bates! Was für eine faszinierende Frage! Wissen Sie, ich sollte dem einmal nachgehen. Meine Domäne ist das Protokoll - und ist es nicht eine Frage der Höflichkeit, dem Kapitän und den Offizieren des Schiffs alle Informationen zu verschaffen, die für den Erfolg ihrer Mission wichtig sind? Erlauben Sie meiner Wenigkeit, sich zu entfernen. Wir sprechen uns später.« Ka Pral rauscht davon. Bates grinst. Mit einem höflichen Huster kommt Akeli näher. »Ich muß zugeben, daß ich mit einer gewissen Bewunderung und großem Erstaunen Ihren Einfluß auf diesen Diplomaten der Konföderation beobachtet habe.« »Wissen Sie was? Ich bin selber überrascht.« »Sehr gut, Einheit Mulligan«, sagt Buddy. »Ich habe eine Satellitenverbindung hergestellt, über die wir die Position der Montana feststellen können. Bitte warte ... bitte warte ... ja, da ist sie, auf einer parabolischen Bahn um die Sonne. Besser gesagt, eine Kometenbahn.« »Mensch, prima, Kilowattlutscher - aber was heißt das?« »Es heißt, daß sie die Bahn des Kometen kreuzen werden, der die Überreste des fremden Schiffs enthält. Was hast du nur in der Schule gemacht?« »Baseball gespielt, natürlich. Und außerdem war ich in Werken ziemlich gut, weißt du. Lasergravieren und solche Sachen.« »Eine hervorragende Vorbereitung auf das Leben, zweifellos.« Buddy summt eine Weile. »Soweit der Computer des Satelliten es beurteilen kann, brauchen die Programmiererin und ihre Begleitung noch vierundachtzig Minuten, bis sie den Kometen erreichen. Das Hüpfer-Schiff ist jetzt sechzehn Minuten entfernt, und es holt auf.« Mit einem Stöhnen setzt sich Mulligan auf das Sofa und versucht, die Tränen zurückzuhalten. »Es gibt in Kanal Acht die Aufzeichnung eines Baseballspiels, Einheit Mulligan.« »Danke, lieber nicht. Ich kann mich jetzt nicht konzentrieren, verstehst du?« »Es geht nur darum, dich abzulenken, weniger um die Aufnahme von Daten, was immer ein Ballspiel an Information zu bieten hat.« »Oh. Trotzdem vielen Dank. Aber ich sehe dir lieber bei der Arbeit zu.« Buddy verfolgt den Kurs der Montana und bringt jetzt eine graphische Darstellung auf dem Bildschirm. Aber Mulligan kann es sich einfach nicht ansehen. Da bewegen sich farbige Lichtpunkte, und einer davon konnte irgendwann den Tod von Lacey bedeuten. Er lehnt sich zurück, legt einen Arm über die Augen und versucht sich einzureden, daß das alles nur ein Alptraum ist. Dann spürt er, wie sein linkes Handgelenk juckt; mechanisch kratzt er sich, da löst sich die Haut mitsamt den hellen Haaren unter seinen Fingernägeln. »Ach, zum Teufel!« »Was ist jetzt, Einheit Mulligan? Du lenkst mich ab.« »Ja? Rutsch mir den Buckel runter. Es ist dieser Bakterienmist. Der Killer hat mich angefaßt, dann die Insektenfrau, als sie mir die Fesseln abgenommen hat.« »Ich kann deiner Logik nicht ganz folgen. Aber soll ich dir Dr. Carol rufen?« »Nein. Die Lady hat mir gesagt, was ich machen muß. Ich hab' das Zeug nur ganz vergessen.« »Es gibt Zeiten, Einheit Mulligan, da zeigst du einen ausgeprägten Mangeln an Überlebenswillen. Vielleicht brauchst du eine Vitaminspritze?« »Vielleicht brauchst du einen Spritzer Sodawasser auf deine Chips, Mensch.« 312 313 Buddy quiekt, Farbblitze huschen über den Monitor. Mulligan steht gelassen auf und geht aus dem Büro. Er will allein sein. Doch im Flur trifft er Maria. »Brauchst du etwas?« »Nein.« Sie blickt beiseite, ihre Unterlippe zittert. »Ich habe mir nur Sorgen gemacht wegen Nunks und Lacey. Sie haben viel für mich getan.« »Ja, für mich auch.« Jetzt wird ihm klar, daß hier jemand ist, der seine Hilfe braucht. Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt etwas für einen anderen Menschen getan hat; eigentlich war es immer nur umgekehrt. »Äh, sag mal, soll ich dir was Neues beibringen? Ich meine, damit wir auf andere Gedanken kommen.« »Was heißt neu?« Sie starrt ihn an, und er spürt ihr Mißtrauen wie eine Welle, die gegen ihn anbrandet. »Laß bloß deine Finger von mir, panchito!« »Wo denkst du hin! Ich rede von Psi. Willst du nicht lernen, wie man die Leute von diesen verdammten Bakterien befreit? Ich wette, daß Dr. Carol jede mögliche Hilfe brauchen wird, wenn es Zeit wird für ihre >Wunderkur<. Ich meine, wenn die Carlis erst mal weg sind.« »O ja, ich verstehe. Glaubst du wirklich, daß ich das könnte?« »Sicher. Nunks ist von deinem Talent überzeugt. Es wird wahrscheinlich Zeit, daß du an dieses lausige Institut gehst, aber vielleicht kannst du ihnen auch entwischen.« »Mulligan, ist es wirklich so schlimm?« Sie beginnt zu schluchzen. »Ich will da nicht hin, Mann. Ich wollte dieses blöde Talent nicht haben. Und ich will nicht markiert werden! Tut es weh?« Mulligan hatte sich daran gewöhnt, in Maria immer nur das Sexhäschen zu sehen, daß er darüber ganz vergaß, daß sie mit ihren sechzehn Jahren eigentlich noch ein Kind war. Und nun sieht sie tatsächlich wie ein Kind aus, mit dem verschmierten Make-up, dem zitternden Mund, während ihre 314 schwitzenden Hände den Saum ihres langen T-Shirts zu einem feuchten Klumpen kneten. »Nein, es tut nicht weh. Es ist ja kein Brandzeichen, nur eine Tätowierung. Aber ich weiß, wie du dich jetzt fühlst. Himmel, alles, was ich wollte, war Ball spielen. Aber hör mal, was so alles passiert ist in den letzten Tagen, das hat mich nachdenklich gemacht. Ich meine, das mit der Insektenfrau und diesem verrückten Mörder. Zuerst dachte ich, daß ich wegen dieser Psi-Geschichte zu nichts mehr tauge -aber eigentlich fängt damit doch ein neues Leben an, oder? Verstehst du?« »Nein, Mulligan. Was redest du nur für ein Zeug.« »Ach, der Teufel soll dich holen!« Dann kommt ihm eine Idee. Hör zu! Kannst du mich hören? Maria kreischt auf und hält beide Hände vor den Mund. Freude. Du hörst mich sehr gut. Hörst du? Gib Antwort! Eine lange Pause, dann streckt sie ihm die Zunge heraus. Ich höre. Mache ich es richtig? Richtig. Genau wie ich dachte. Selbstzufriedenheit. Komm mit in den Garten. Wir sitzen in der frischen Luft. Lernen. Ich will nicht. Schade. Ich hasse dich. Du haßt nicht mich. Du haßt es, anders zu sein. Wieder streckt sie die Zunge heraus; dann geht sie mit einem Seufzer davon. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Für einen verrückten Typ weißt du eine ganze Menge, ehrlich.« »Ich bin nicht verrückt, wenn es darauf ankommt.« Er ist verblüfft. Er hat etwas Wahres gesagt, das er seit Jahren nicht hat wahrhaben wollen. »Ich meine, ich wollte diesen Psi-Kram nicht haben; aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Und weißt du was, manchmal ist es ganz praktisch.« 315 »Wie lange noch, bis die Montana das fremde Schiff erreicht?« »Zweiundfünfzig Minuten, Chief.« Die Operatorin läßt den Bildschirm nicht aus den Augen. »Aber dieses verdammte Hüpfer-Schiff ist nur vierzehn Minuten hinter ihnen.« Obwohl sie einige Jahre bei der Armee war, lassen sie die Flüche aus seiner Militärzeit zusammenzucken. »Oh, Sir?« Sie zögert, bevor sie wagt weiterzusprechen. »Die Überwachungssatelliten haben etwas Merkwürdiges geortet, es sieht aber nicht wie ein Schiff aus.« »Was meinen Sie mit merkwürdig?« »Es ist wirklich merkwürdig. Da nähert sich etwas von außerhalb der Bahn, nicht weit vom Kometen und dem fremden Schiff, aber es sieht nicht aus wie ein Schiff.« Bates kann mit den Zahlenreihen, die von oben nach unten über den Schirm laufen und die dreidimensionale Graphik überdecken, nicht viel anfangen. »Nun, Himmel noch mal, dann reden Sie davon, wenn Sie es wissen, und lassen mich jetzt in Ruhe!« »Ja, Sir! Ist recht.« In seiner Ecke beim Wasserbehälter ist Akeli eifrig am Telefonieren. In einer Hand hält er das tragbare Terminal seines eigenen Computers, in der anderen den kleinen Reserveschirm von Bates' Computer, so daß ihm wirklich nichts entgehen kann. Über Bates' Schirm laufen Zeile um Zeile die Polizeiberichte, und es ist überall dasselbe: Panik in der Stadt. Doch ist es in Porttown noch am ruhigsten. Überall im Ghetto sind an den Straßenecken Grüppchen von Zivilisten aufgetaucht, wahrscheinlich bewaffnet, obwohl sie es nicht zeigen. Sie sorgen dafür, daß es ruhig bleibt, daß nicht geplündert wird. Die Anführer haben die Parole ausgegeben, daß nicht eine einzige Schaufensterscheibe zu Bruch gehen darf - und die Leute gehorchen. Bates gibt dem Einsatzleiter in Porttown Anweisung, ein Drittel der Beamten 316 abzuziehen und nach New Cloverdale zu schicken, wo Jugendbanden die Straßen unsicher machen. »Sieht ganz so aus, Lieutenant«, sagt er, »als hätte der Bürgermeister von Porttown in seinem Revier alles unter Kontrolle.« »Würde ich auch sagen. Okay, Sir, ich habe die Leute in den Transportern, wir verschwinden hier wie der Blitz.« Bates hat kaum aufgelegt, als Akelis Terminal zu piepen beginnt. Ein Gespräch mit höchster Priorität. Er geht hinüber und lauscht, als der Chef der Staatspolizei einschaltet. Auf dem kleinen Schirm taucht das Gesicht der Präsidentin auf, schweißglänzend, mit halb aufgelöster Frisur. Sie lächelt so breit, daß man fast um ihr Gesicht fürchtet. »Das Carli-Schiff verläßt die Umlaufbahn.« Ein einziger Jubel im Raum, vom Techniker bis zum Chief, alles kreischt und johlt. Die Präsidentin lächelt wieder. »Gute Arbeit, Bates. Akeli hat mir gesagt, daß es Ihr Plan war. Ich werde sehen, daß das entsprechend gewürdigt wird.« »Nicht nötig, Madam. Ich habe nur meinen Job getan.« Bates ist klar, daß Akeli ihn nur in den Vordergrund gerückt hat, damit er im Falle eines Scheiterns auch die Verantwortung zu tragen hätte. »Ohne die Unterstützung eines Diplomaten der Konföderation, Ka Pral, hätte ich es nicht geschafft.« »Welche Bescheidenheit, wirklich nett, aber ich kenne die Leute in Polar City.« Sie zwinkert ihm beängstigend kokett zu. Entweder hat sie keine Ahnung, daß er noch nicht lange in dieser Stadt ist, oder sie glaubt, daß er schon längst von der allgemeinen Korruption angekränkelt ist. »Akeli, ich möchte, daß Sie und Bates zur Botschaft der Allianz gehen. Nach dem Rückzug der Carlis dürfte sich diese Asylgeschichte jeden Augenblick klären. Ich möchte wetten, daß man bei der Allianz froh ist, wenn es vorbei ist, doch solange der Eindruck entstehen konnte, daß man den Carlis nach- 317 gäbe, wollten sie keinen Zentimeter Boden preisgeben. Ich möchte, daß einige hohe Beamte dort präsent sind, damit sie nicht doch noch ihre Meinung ändern.« »Delta Vier, was, zum Teufel, ist das für ein Ding?« Lacey kneift unbewußt die Augen zusammen, als ob sie dadurch das Signal, das sie über das Implantat erhält, besser erkennen könnte. »Ich weiß nicht, Programmiererin. Ich habe so etwas in all den Jahren, in denen ich in Betrieb bin, noch nicht gesehen. Wie Sie sicher bemerken, nähert es sich dem Punkt, an dem wir voraussichtlich auf das fremde Schiff treffen, mit großer Geschwindigkeit.« »Ein Meteorit?« schaltet sich Sam in die Leitung ein; seine Stimme klingt nervös. »Oder noch ein Komet?« »O Mann!« schimpft Lacey. »Laß uns in Ruhe, ja! Das hätten wir längst gemerkt. Dieses Ding ist wirklich verrückt.« »Das Signal ist verschwommen und nicht stetig, Captain. Zeitweise ist überhaupt nichts zu sehen.« »Noch mehr Hüpfer vielleicht?« sagt Sam. »Nein, glaube ich nicht.« Lacey kneift wieder die Augen zusammen, natürlich vergeblich. »Wir werden es bald wissen, wirklich bald.« »Wie bald?« »Rendezvous in einunddreißig Minuten. Die Hüpf er liegen elf Minuten zurück.« »Wann werden sie in Schußweite sein?« »Elf Minuten. Ich habe die ganze Zeit die Schußweite angegeben.« »Zehn Minuten, Programmiererin. Sie haben erfolgreich dieses riskante Manöver um den Asteroiden hinter uns absolviert.« Lacey hätte gern geflucht, aber es fiel ihr nichts Passendes ein. »Okay, das ist der Krieg«, bemerkt Sam. »Operator, sagen 318 Sie Delta Vier, daß er anständig Gas geben soll. Es wird ein bißchen wackeln, aber wir können bestimmt noch etwas Tempo aus dieser Kiste herausholen.« »Captain, ist das nicht riskant?« »Riskant? Worüber machst du dir eigentlich noch Sorgen!« »Da hast du nicht ganz unrecht, amigo, Delta Vier, du hast es gehört.« Es sind keine Absperrgitter zu sehen, keine Gleiterkolonnen sind aufgefahren, und erst recht gibt es nirgendwo eine Spur von Armee- und Polizeieinheiten, und doch ist die Botschaft der Allianz hermetisch abgeriegelt. Oben kreist ein Polizeigleiter, als ob irgend jemand wagen würde, sich aus der Luft zu nähern. Hinter dem Elektrozaun taucht gelegentlich ein Paar Hüpfer auf, wie auf einem zufälligen Spaziergang durch den Garten, doch erscheinen sie in viel zu regelmäßigen Abständen. Draußen auf der Straße stehen Grüppchen von Beamten der Staatspolizei in zivilen Sonnenpelerinen, sie lesen Zeitung oder unterhalten sich über Baseball, doch kommen sie sofort heran, wenn ein Fahrzeug sich dem Botschaftsgebäude nähern will. Hinter den Rolltoren hocken vier Wachmänner im Schatten des Postenhäuschens und sind in ein offensichtlich kompliziertes Spiel vertieft, während auf der anderen Straßenseite in der kühlen und geräumigen Eingangshalle der Staatlichen Rentenversicherung sich einige Polizisten hinter einem Tisch drängen, der über und über mit Papier bedeckt ist, und dabei Gesichter machen, als würden sie Karten für den nächsten Polizeiball verkaufen. Weil Bates und Akeli das Gebäude von der anderen Seite betreten haben, wissen sie, daß in den Korridoren hinter dieser friedlichen Fassade ein ganzer Zug der Armeereserve wartet, und noch ein halber der Marinetruppen; und sie können sich gut vorstellen, daß es im Botschaftsgebäude 319 nicht anders aussieht. Der befehlshabende Beamte, Sergeant Maddock, kommt herbei, um sie zu begrüßen. »Ist alles ruhig, Sir. Vor zehn Minuten kam so ein wichtig aussehender Typ aus der Tür und schaute sich um, aber er verschwand gleich wieder.« »Gibt es eine direkte Telefonverbindung nach drüben?« »Ja, Sir.« Er deutet mit seiner großen Hand auf ein kleines silbriges Kästchen auf dem Tisch. »Da ist das Gerät.« Bates ist versucht, es zur Hand zu nehmen und ihnen zu sagen, daß zwei hohe Beamte eingetroffen sind und auf den Beginn der Verhandlungen drängen, doch beschließt er, sich erst ein wenig umzuschauen. Er verläßt die Eingangshalle zu einem kleinen Spaziergang. Entlang der Schattengrenze trottet er auf dem Gehweg auf und ab; hier kann er gesehen werden, ohne von der Sonne gebraten zu werden. Drüben taucht plötzlich ein Hüpfer in roter und goldener Uniform auf; er legt eine Hand über die Augen und starrt herüber. Er kommt ihm bekannt vor, die Haltung, die Art, den Kopf zur Seite zu legen; Bates ist ziemlich sicher, daß es Den'ah'vel ist, erst recht, als der Hüpfer einen Satz zur Eingangstür macht und im Gebäude verschwindet, ohne dem Ganzen überhaupt den Anschein des Zufälligen geben zu wollen. Dann warten sie. Bates steht auf dem Gehweg, eben noch im Schatten, die Hände in den Taschen vergraben; Akel steht beim Funktelefon. Die Sonne steigt höher und höher und über jedermanns Gesicht perlt der Schweiß. Bates muß an die Montana denken, die jetzt zu dem Schiff jagt, das vielleicht am Ende nichts anderes sein wird als ein um die Sonne kreisendes Grab für die Artgenossen der Insektenfrau. Maddock hat sich zu ihm gesellt; er gähnt. »Müde, Sergeant?« »Ja, Sir, Entschuldigung. Das ist jetzt schon die zweite Schicht ohne jede Pause.« »Tut mir leid. Es ist eben alles zusammengekommen, nicht wahr? Aber so ist es immer.« Plötzlich ertönt drüben auf dem Botschaftsgelände eine Fanfare; es ist einer Trompete nicht unähnlich, nur viel lauter. »Was, zum Teufel ...« Bates legt die Hand über die Augen und starrt hinüber. Hinter den dunklen Glastüren kann man undeutlich eine Bewegung erkennen; Leute gehen hin und her, sie schieben irgendein großes Ding vor sich her. In einem Anflug von Verfolgungswahn fragt sich Bates, ob die Hüpfer ein Geschütz in Stellung bringen, doch entpuppt sich das Ding als ein riesiges Sonnensegel, ein Rechteck in Grün und Purpur von vielleicht zehn Meter Länge, das an Stangen getragen wird. Wie eine Riesenschlange windet es sich jetzt aus der Tür und bewegt sich auf den Zaun zu. Bates kann vielleicht zwanzig Hüpfer sehen, die darunter herumturnen. Mit einem nervösen Grinsen kommt Akeli herbei. »Eine Verhandlungsdelegation«, flüstert der Chef der Staatspolizei. »Es spricht für die Umsicht der Präsidentin, daß sie meine Anwesenheit hier angeordnet hat.« »Sieht so aus, ja. Ich nehme an, daß das Theater eine Weile dauern wird?« »Normalerweise schon. Und in diesem Fall werden sie sich besonders viel Zeit lassen, damit ihr Schiff da oben sich ungestört an unsere Schützlinge im Eis heranmachen kann.« »Verflucht! Aber da kann ich nicht viel dran ändern, der Teufel soll sie holen. Am besten verschwinde ich hier und kümmere mich um meine Arbeit. Wenn die Stadt am Kochen ist, habe ich keine Zeit für die Spielchen der Diplomaten.« Aber Bates zögert aus simpler Neugier noch. Er möchte einen weiteren Blick von der Witwe des Ermordeten und dem Hauptneutrum erhaschen, die schwer bewacht dieser Prozession folgen. Weil er schon früher Hüpferfrauen gesehen hat, ist er von der pompösen Frisur nicht überrascht, ein wahres Gebirge mit unsichtbaren Stützrahmen und Polstern, leuchtend grün gefärbt und mit Schmuck und allerlei 320 321 Insignien ihres Rangs verziert. Was ihn jedoch erstaunt, ist das Neutrum, das wie ein ganz normaler Hüpfermann aussieht und auch so dahergeht - nur, daß es Frauenkleider trägt. Irgendwie hat er wohl mehr erwartet, vielleicht ein exotisch-undefinierbares Zwitterwesen. »Über Geschmack läßt sich streiten«, sagt er vor sich hin. Dann hastet er zurück in das Gebäude; je eher er wieder im Hauptquartier ist, desto besser. »Da ist es!« zischt Lacey. »Auf dem Schirm, Captain.« Der Sichtschirm leuchtet auf; vor ihnen das sternenübersäte Panorama des freien Weltraums, mit einem blauen Nebelfleck in der linken unteren Ecke. Aber genau in der Mitte des Bilds schimmert ein riesiger Brocken Kometeneis, und nahebei schwebt ein kleines, graues Ovoid, nicht ganz symmetrisch und mit zernarbter und verschrammter Außenhaut nach der ewig langen Reise. Hinter sich hört Lacey einen hohen, metallischen Laut; es ist die Insektenfrau. »Kannst du irgendein Lebenszeichen erkennen?« Sam sagt es zu Lacey, aber die Insektenfrau antwortet. »Ich kann. Es gibt Überlebende, Captain. Ich danke Ihnen, ich danke euren Göttern - sie leben!« »Wie ist die Entfernung zum Hüpfer-Schiff?« »Fünf Minuten«, sagt Lacey. »Tut mir leid, Captain, ab sie sind einfach schneller als unsere Rostschüssel.« »Mist!« Vielleicht ist die Montana gemessen an einem Kriegsschiff etwas langsam, doch bei ihrer augenblicklichen Geschwindigkeit sind fünf Minuten Abstand eine ganze Menge. Das graue Ovoid wird langsam größer. Man erkennt, daß es ein Schiff ist. An den Seiten sieht man Schriftzeichen ähnlich denen auf dem Kästchen, das Little Joe im Rattennest gefunden hat. Das Kometeneis ragt nun wie ein gewaltiger Eisberg im Hintergrund auf, eine glänzende Masse, an deren Rän- 322 dem blau der ferne Nebelfleck leuchtet. Sam an seiner Konsole macht sich unverdrossen daran, die Roboter und Frachtmanipulatoren fertig zu machen, als hätten sie irgendeine Chance, das graue Schiff vor den Hüpfern zu erreichen. Plötzlich zischt und jault es in den Kopfhörern; vergeblich versucht Delta Vier das Schiff gegen den elektromagnetischen Sturm abzuschirmen, der von dem Hüpfer-Schiff ausgeht. Anstatt den Computer bei seiner Arbeit zu stören, gibt Lacey Rick ein Handzeichen. Er winkt zurück aus dem transparenten Geschützturm unter ihren Füßen. An ihrer Konsole leuchten Lämpchen auf: Die Montana macht sich gefechtsbereit. »Montana, melden Sie sich.« »Kann Sie kaum verstehen«, lügt Sam. »Bitte identifizieren Sie sich.« Lacey sieht die Kontrollampe für den Laser aufleuchten, er ist feuerbereit. Das Hüpfer-Schiff überschwemmt sie erneut mit einer Energieladung, die die Abschirmung durchschlägt. »Montana! Ich bin sicher, daß Sie uns hören können.« Die Stimme singt. Es ist dieses Auf- und Abschwellen von Kicherlauten, aus denen man dennoch deutlich Wörter der Menschensprache heraushören kann; ein Hüpfer, unverkennbar. »Montana, unsere Ansprüche auf Bergung dieses Schiffs gehen vor.« »Ach ja?« Sams Stimme ist gefährlich ruhig. »Das ist wirklich schade. Wie Sie wissen, befindet es sich auf dem Territorium der Republik, und Sie können hier nicht das Bergungsrecht beanspruchen.« »Sie irren.« Die Stimme klingt amüsiert. »Wir können, als Wiedergutmachung für einen Schaden sozusagen. Eines unserer Diplomatenschiffe geriet in diesem System durch Kometenbruchstücke in Schwierigkeiten; so weit wir wissen, ist dieses Wrack eines der Bruchstücke. Wir beanspruchen, es zu bergen, um untersuchen zu können, wie es zu dem Unfall kam. Dieses Recht gehört zu den diplomatischen 323 Privilegien, das wissen Sie. Behaupten Sie nicht das Gegenteil!« »Okay, dann also nicht.« Sie können jetzt das Hüpfer-Schiff auf dem Schirm sehen, ein stromlinienförmiger Kreuzer, schlank und bedrohlich wie die Klinge eines Messers. Mit hoher Geschwindigkeit nähert er sich auf einer Bahn, die ihnen den Weg zum Schiff der Insektenfrau abschneidet. In ihrem Kopf hört Lacey die Stimme von Delta Vier: Programmiererin, meine Sensoren weisen auf Torpedos hin, du auf das fremde Schiff gerichtet sind. »Rick«, es ist kaum mehr als ein Seufzer, den Lacey ins Mikrophon haucht, »jetzt!« Nur das Aufheulen der Generatoren weist darauf hin, daß der unsichtbare Laserstrahl durch den luftleeren Raum rast, nur ein rotes Funkeln von reflektiertem Licht, wenn er auf Staubteilchen trifft, verrät seine Richtung. Ein Warnschuß vor den Bug des Hüpfer-Schiffs. »Ändern Sie Ihren Kurs«, schnarrt Sam in das Mikrophon, »ich bin sicher, daß Sie uns hören können. Wir sind bewaffnet und gefechtsbereit, Mister. Also halten Sie sich fern.« Sie antworten nicht, doch sieht man auf dem Sichtschirm, daß das Schiff die Bremsdüsen zündet, wendet und eine neue Bahn einschlägt, die genau auf die Montana zielt. Programmiererin, was ist das? Delta Vier meint nicht das Hüpfer-Schiff. Was er ihrem Gehirn übermittelt, ist nichts als ein verschwommener Fleck, als würde etwas den Raum verzerren und die Lichtstrahlen ablenken. Und dieser Fleck bewegt sich auf sie zu. Als sie auf den Schirm blickt, sieht sie ein Loch in dem blauen Nebelfleck, ein Loch, das sich bewegt. Dann wird ihr klar, daß ein massives Objekt sich zwischen der Montana und dem Nebel befindet. Sam hatte noch keine Zeit, sich darum zu kümmern. »Allianz-Kreuzer, drehen Sie ab! Um uns vor einer Kollision zu schützen, werden wir schießen. Hören Sie? Versuchen Sie uns zu rammen, dann werden wir schießen!« »Sam, um Himmels willen, sie machen ihre Geschütze klar, es kommt über die Sensoren.« Solche Datenmengen strömen auf sie ein, daß ihr fast übel wird; es geht zu schnell, als daß sie sie noch erfassen könnte. »Nun, wenn wir sie lange genug hinhalten können ...« Sam bricht resigniert ab. »Teufel, ich hatte nie vor, ein Märtyrer zu werden.« »Delta Vier, Ausweichmanöver.« Während sich Lacey abstützt, um die Bewegungen des Schiffs auszugleichen, kommt ihr Mulligan in den Sinn. Während immer neue Daten anzeigen, daß auf dem Hüpfer-Schiff Torpedos in die Röhre geschoben und Geschütze auf volle Leistung vorbereitet werden, macht sie sich Vorwürfe, daß sie ihm nie gesagt hat, daß sie ihn liebt. Jetzt müßte sie an eine Gottheit glauben, die sie anflehen könnte, ihr aller Leben zu retten, wenigstens so lange, daß sie noch einmal Gelegenheit zu diesem Geständnis haben würde. Auf der anderen Seite war sie auch nie besonders abgeneigt gewesen, an die Existenz des Übernatürlichen zu glauben. Dann ist es vielleicht noch nicht zu spät, fast hysterisch klammert sie sich daran. Wenn es dich gibt, Gott, dann hör mal zu: Du bringst mich hier raus, und ich werde Mulligan alles sagen. Abgemacht? Mit einem Aufbäumen und einer Rolle steigt die Montana steil aus der Kometenbahn auf, macht eine Drehung und setzt sich etwas oberhalb hinter das Hüpfer-Schiff. Sam manövriert das Schiff so perfekt wie in seinen besten Zeiten als Gefechtsnavigator. Aber auch die Hüpf er schwenken wie ein Blitz aus, unmöglich, sie bei diesem Manöver aufs Korn zu nehmen, dann schlagen sie einen neuen Kurs ein, der geradewegs auf die Montana zuführt. Lacey ist am Rande des Irrsinns, unmöglich kann sie verarbeiten, was Delta Vier ihr übermittelt. Programmiererin, sieh mal! 324 325 Der schwarze Fleck im blauen Nebel zittert hin und her, dann schwillt er an und verwandelt sich in den riesigen Rumpf eines Schlachtschiffs, einen Typ, den sie gut kennen;, es ist so nahe, so dicht über ihnen, daß es sie zu erdrücken scheint. Für einen Augenblick verschlägt es Lacey den Atem. Dann meldet sich eine Stimme über Funk, die ihr nur allzu vertraut ist: das Knurren von Admiral Wazerzis, den seine Leute Eisenschnauze nennen. »Allianz-Kreuzer! Drehen Sie ab! Jede Annäherung an die Montana betrachten wir als einen Akt der Piraterie, den wir nicht zulassen werden. Ich wiederhole: Ziehen Sie sich zurück! Hier spricht die Constitution, Schlachtschiff der republikanischen Flotte. Ich warne Sie, wir sind gefechtsbereit und handeln auf Befehl unserer Regierung.« Leicht hin und her schwingend stoppt das Hüpfer-Schiff; eine lange, lange Minute verharrt es im todbringenden Schußfeld der Constitution. Dann zünden die Triebwerke, es wendet und gleitet majestätisch davon. Im Kopfhörer kann Lacey hören, wie auf der Brücke der Constitution gejubelt wird, aber sie kann nicht antworten, es hat ihr die Sprache verschlagen. Jetzt erst bemerkt sie, daß ihr Tränen übers Gesicht laufen. Als sie aufblickt, sieht sie, daß auch Sam sich mit dem Ärmel übers Gesicht fährt. »Ja, was soll man da machen?« sagt er, dann beugt er sich über das Mikrophon. »Admiral, hier spricht die Montana. Ich denke, daß es kaum genügt, wenn ich einfach danke sage, nicht wahr?« »Machen Sie sich für das Enterkommando bereit, Mr. Bailey.« Eisenschnauze klingt grimmiger, als Lacey ihn je gehört hat, und sie hat ihn schon bei einigen unschönen Gelegenheiten gehört. »Die Liste der Beschuldigungen gegen Sie ist so lang wie der Schwanz unserer Urahnen.« Jetzt kommt endlich auch das Bild über das Funktelefon: Wazerzis hat sich umgedreht und das Kommando an einen Offizier, einen Menschen, übergeben. »Tut mir leid, wir kamen etwas spät, Montana. Wir waren auf einer Versuchsfahrt, als uns das Oberkommando den Befehl zu dieser Rettungsaktion übermittelte.« »Madre de Dios!« schimpft Sam. »Dann wart ihr das, die wir die ganze Zeit schon auf dem Schirm haben?« »Auf dem Schirm? Ihr solltet uns nicht sehen, Montanal« Der Offizier dreht den Kopf und ruft etwas über die Schulter. »He, Admiral, diese Hunde haben uns auf dem Schirm gehabt!« »Nun, dann halten Sie Ihre Klappe, Sie verdammter Schwätzer.« Die Stimme von Eisenschnauze dringt durch den ganzen Raum bis ins Mikrophon. »Schließlich geht es über alle Funkkanäle.« Lacey blickt Sam an. »Captain«, flüstert sie, »gehe ich recht in der Annahme, daß Sie etwas ausprobiert haben, irgendein Feld, das unsichtbar machen soll?« »Und daß es das Geld nicht wert ist, das es gekostet hat? Verdammt, Mrs. Lacey, das dürfen wir wohl annehmen.« Und laut in das Mikrophon sagt er. »Okay, Sir, wir werden den Verbindungstunnel ausfahren. Wollen Sie warten, bis wir Atmosphärendruck hergestellt haben?« »Nein.« Das graugrüne Gesicht von Eisenschnauze, ein einziges grimmiges Zähnefletschen, füllt den ganzen Schirm. »Ich hab' schon einen Mann im Anzug hier, er wird sofort rüberkommen. Je eher wir euch aufmüpfige Mistkerle unter Kontrolle haben, desto besser.« Programmiererin, warum behandeln sie euch nicht als Helden, wie ihr es verdient? »Weil das die Flotte ist, Kleiner. Ich hätte nie etwas anders erwartet.« Delta Vier ist sprachlos. Lacey überlegt, ob sie es ihm erklären soll, aber da stößt schon der Verbindungstunnel gegen die Luke der Constitution, und sie müssen sich beide darauf konzentrieren, für eine sichere Passage von einem Schiff zum anderen zu sorgen und die nötigen Schleusen bereitzumachen. 326 327 Als sich die Außenluke öffnet und der Offizier sich hereinschwingt, daß die Stiefel mit den Bleigewichten hart auf den Fußboden knallen, kann Lacey an dem Rangabzeichen seines Raumanzugs erkennen, daß es ein Fregattenkapitän ist Aber sie hat keine Zeit, sich um ihn zu kümmern, denn sii muß für Druckausgleich sorgen, damit er endlich in der Kontrollraum gelangen kann. Aber Sam betrachtet mit offenem Mund den Bildschirm mit dem Mann in der Schleuse Schließlich kann Lacey die Luke öffnen, der Mann kommt herein. »Herr im Himmel«, murmelt Sam. »Ich hätte es wissen müssen. Klar, daß er auf einem verdammten Flaggschiff endet. Er ist der Typ dafür.« Lacey dreht sich um, als der Mann gerade den Helm abnimmt. Erleichtert schüttelt er den Kopf, es ist diese vertraute Geste, die an ein Wildpferd erinnert, ebenso vertrau wie das Lächeln, dieser leichte Hauch von Humor auf einem scharfgeschnittenen Gesicht mit dem eiskalten Charme einer gefährlichen Klinge. Durch das Verjüngungsmittel sieht Jaime noch genau so gut aus wie damals; schwarze Augen unter dichten Brauen, kupferfarbene Haut, die sich faltenlos über die hohen Wangenknochen und den ausmodellierten Kiefer spannt. Aber heute sieht Lacey auch Dinge, die sie früher nicht bemerkt hat: den leicht fragenden Ausdruck um die sinnlichen Lippen, die Leere in den Augen. Großer Gott, er ist dumm! Das ist es, deshalb ist er auch der perfekte Soldat. Der Schock dieser plötzlichen Erkenntnis macht sie sprachlos, und, wie vorauszusehen, er mißdeutet es. Fast plustert er sich auf, als er sich ihr zuwendet. »Überrascht, Bobbie? Du bist immer noch die alte - wo du bist, gibt es Schwierigkeiten.« Bevor sie ihm noch eine gehörige Antwort geben kann, wendet er sich an die Insektenfrau. »Madam, ich bin ermächtigt, Ihnen zu sagen, daß die Bergungsarbeiten an Ihrem Schiff sofort beginnen können. Wir haben Hinweise, daß einige hundert der Passagiere noch am Leben sind.« Die Insektenfrau gibt ein hohes, langgezogenes Heulen von sich und macht einige Schritte auf der Stelle, was man nur als die Andeutung eines Freudentanzes verstehen kann. »Sofort, Sir?« sagt sie dann mit ihrer flötenden Stimme. »Sofort. Sobald wir Ihre Erlaubnis haben, an Bord zu gehen.« »Sie haben die Erlaubnis. Und wir alle danken Ihnen.« Erst jetzt begreift Lacey endlich, daß das Unmögliche wahr geworden ist: daß sie es geschafft haben. In wenigen Minuten hat sich das Kommandomodul mit Soldaten der Flotte gefüllt. Sie gehen hin und her, bellen Befehle, drängen Sam und seine kleine Crew von den Konsolen. Einige schütteln ihnen die Hände, klopfen ihnen auf die Schultern, während andere sie anschnauzen, sich in eine Ecke zu verdrücken und auf den Admiral zu warten. Nur die Insektenfrau wird von jedermann mit großem Respekt behandelt. Delta Vier behagen diese Zustände gar nicht; er weigert sich schlicht, die Anweisungen der Soldaten zu befolgen. Erst Lacey, die man noch einmal ans Mikrophon geholt hat, kann ihn beruhigen und zur Zusammenarbeit bewegen. Schließlich kommt auch noch Eisenschnauze herüber, der vor Erregung hellgrün geworden ist, und watschelt auf sie zu, gefolgt von einer ganzen Schar Fähnriche. »Mrs. Lacey, Mrs. Bailey!« Mit einem Lizzie-Grinsen hebt er die Schnauze. »Was soll das, zum Teufel! Jedesmal, wenn ich Sie sehe, stecken Sie bis zur Nase in der Scheiße, was? Okay, Sie werden unter dem Kommando von Fähnrich Chang, hier, auf den Planeten zurückkehren. Ist Ihr Shuttle noch funktionsfähig nach dem wilden Ritt?« »Ist es, Sir.« Aus alter Gewohnheit steht Sam stramm. »Haben Glück gehabt.« »Das war schon mehr als Glück, amigo.« Wazerzis wendet sich Lazey zu. »Und Sie, Sie werden uns einiges zu erklären haben, meine Liebe. Wissen Sie, warum unsere lausige Fregatte es nicht geschafft hat, die Montana einzuholen?« »Weil Bailey die Frachtcontainer abgeworfen hat?« 328 329 »Nein, weil ihr Computer nicht mitgemacht hat. Sagte, einige Schaltkreise wären ausgefallen; aber weil das verdammte Ding drei Stunden vorher überprüft worden war, würde ich eher auf Meuterei tippen - nun, wenn ein Computer dazu überhaupt fähig ist, was ich bezweifle. Und deshalb möchte ich von Ihnen wissen, was Sie dazu beigetragen haben.« »Nichts. Das ist die Wahrheit, Sir.« »Tatsächlich? Und warum sagte diese Elektrokiste, daß sie nicht auf Bobbie Lacey schießen wird?« Wieder ist Lacey sprachlos, so ehrlich und so überzeugend, daß der Admiral schließlich resigniert den Kopf schüttelt. »Sie wissen es wirklich nicht?« »Nein, Sir. Ich schwöre auf alles, was Sie wollen, aber ich habe keine Ahnung.« Da bricht Sam in ein langes, fast schon hysterisches Lachen aus. »Es ist, weil sie dich lieben«, sagt er keuchend. »Wollen wir wetten? Jedes verdammte Maschinenbewußtsein in diesem System weiß, daß du sie als gleichwertige Persönlichkeit betrachtest, und sie lieben dich dafür.« Sein Lachen wird heftiger und immer schriller. »Bobbie Lacey ist Gott das denken sie, da mach' ich jede Wette!« Wazerzis holt aus und schlägt ihn mit seiner schweren Pfote ins Gesicht. »Vielleicht haben Sie recht, Mister Bailey«, sagt der Admiral. »Aber deshalb müssen Sie nicht gleich durchdrehen. Chang, Wilson, Ksikseris schaffen Sie die Menschen und diesen zweiköpfigen Kerl in das Shuttle, je eher sie wieder unten sind, desto besser.« Nunks knurrt leise. »Es ist ein Kopf«, sagt Lacey. »Er ist nur ungewöhnlich geformt.« »Interessiert mich überhaupt nicht. Schafft sie weg. Da warten eine Menge Leute am Hafen auf Sie!« 330 Und das ist das zweite Mal in ihrem Leben, daß Lacey unter Arrest ist. Ein scheußliches Gefühl. Diesmal kämpfen sie nicht gegen die Schwerkraft Hagars an, sie müssen sich eigentlich nur fallen lassen. Und deshalb geht es auch wesentlich schneller, bis sie wieder zu Hause sind. Aber trotzdem wird ihnen die Zeit lang, während sie angeschnallt in ihren Sitzen liegen. Zum Reden ist ihnen nicht zumute; langsam wird der rote Ball Hagars auf dem Sichtschirm größer und größer. Die Flottenleute ignorieren sie. Manchmal glaubt Lacey die Stimme ihrer Mutter zu hören, die sie ankeift: >Du bist genau wie dein Vater<. Schließlich, als der Fähnrich die Station um die Erlaubnis zum Landen bittet, kann sie nicht länger schweigen. »Mensch, Sam, tut mir leid, daß ich dich in diese Sache hineingezogen habe.« »Hast du nicht. Ich war blöd genug, es freiwillig zu tun, weißt du nicht mehr?« Er lächelt. »Ich denke, sie werden die Montana beschlagnahmen, nicht wahr?« »Wir werden sie nicht brauchen, wenn wir in der Strafkolonie sind«, sagt Rick gepreßt. »Ich muß schon froh sein, wenn sie mich nicht an die Allianz ausliefern. Ich werde lieber sterben, als zu denen zu gehen. Mist, ich meine, dort würde ich auch sterben, aber schön langsam. Versteht ihr?« »Fürchte ja.« Lacey spürt, wie ihr Magen krampft. Das einzige, was sie für den Jungen noch tun könnte, wäre, Richie zu bitten, daß er ihn töten läßt, bevor er ausgeliefert wird - kein schöner Gedanke, aber so war er immer noch besser dran, als wenn er der Allianz in die Hände fiel. Dann fällt ihr etwas anderes ein. »Verflucht! Der Bentley!« »Aus und vorbei«, sagt Sam. »Er stand genau unter dem Shuttle, als wir gestartet sind. Ich weiß nicht, warum, aber es bricht mir fast das Herz, wenn ich daran denke, daß das jetzt ein geschmolzener Haufen Blech ist.« »Ach, Richie wird es schon verstehen. Ihm geht es nicht um den Bentley; er schätzt viel eher das Gefühl, daß er sich kaufen kann, was er will.« Als auch noch Nunks einen langen, traurigen Seufzer hören läßt, dreht sich Fähnrich Chang an der Konsole um. »Wollt ihr endlich mal den Mund halten? Ich versuche, dieses blöde Ding zu landen.« »Ah ... cojones de tu madre«, murmelt Sam, dann schweigt er, als Chang vielsagend den Laser an seiner Hüfte tätschelt. Schließlich senkt sich die Raumfähre, das Heck mit den brüllenden Triebwerken voran, auf den Landestreifen. Die Techniker eilen herbei, um die zahllosen Kabel und Schläuche der Startrampe anzuschließen, und Chang winkt mit seiner Pistole, daß sie sich losschnallen und zur Luke gehen. Im Gänsemarsch ziehen sie an ihm vorbei, und als die Luke sich zu öffnen beginnt, erhascht Lacey ein verstohlenes Grinsen auf seinem Gesicht. Etwas stimmte nicht. »Was ist daran so komisch?« »Nichts. Wie der Admiral schon sagte, draußen warten lediglich eine Menge Leute auf Sie.« Die Luke ist offen, und ein stürmischer Jubel schlägt ihnen entgegen. Eine riesige Menschenmenge hat sich versammelt, eine rasch gezimmerte Tribüne erwartet sie, bunte Fahnen, Fernsehkameras, und unter einem riesigen Sonnensegel die Präsidentin höchstpersönlich. »O Mann!« schimpft Sam. »Jetzt sind wir so ein paar bescheuerte Helden!« »Genau, Mister Bailey.« Chang komplimentiert sie hinaus. »Aber Sie kennen doch die alte Eisenschnauze. Er liebt solche kleinen Scherze.« 332 10 »Ich kann dir sagen, Lacey, diese Insektenleute erweisen sich mit jedem Tag als noch komplizierter, als wir uns vorgestellt haben.« Carol nimmt einen Schluck von ihrem Apfelbranntwein mit Soda. »Ich habe meinen Computer alles, was wir über sie wissen, zusammentragen lassen. Wenn Buddy möchte, braucht er es sich nur durchgeben zu lassen.« »Vielen Dank, Dr. Carol.« Buddy hört sich an, als würde er sich diebisch freuen bei dem Gedanken. »Ich werde es sofort tun, und ich weiß Ihre Freundlichkeit sehr zu schätzen.« »Was ist los mit dir, Steckdosenlutscher?« Carol wirft ihm einen finsteren Blick zu. »Du hast doch wieder was vor?« Buddy gibt einen Summton von sich, den man als ärgerliches Knurren verstehen könnte. Lacey greift ein. »Kompliziert inwiefern?« »Nun, es sieht so aus, als hätte die Lady Mulligans Gedächtnisspeicher dazu benutzt, eine Persönlichkeit zu konstruieren, mit der wir Kontakt aufnehmen können. Jetzt, wo alle ihre Artgenossen wiederbelebt und hier unten sind, fällt es ihr schwer, diese Maske aufrechtzuerhalten. Ich habe den Verdacht, daß wir es mit einem, bis zu einem gewissen Grad, kollektiven Bewußtsein zu tun haben und ihre Leute großen Druck auf sie ausüben. Wir werden sie wahrscheinlich nicht wiedersehen, wenn sie sich erst in den Tropen angesiedelt haben. Auf den ersten Blick mag man sie für fremdartig halten, aber daß sie dort leben können, will man nicht glauben. Es scheint jedoch, als hätten sie das Buch >Überleben in der Wüste< eigenhändig verfaßt. Sandstürme lieben sie geradezu. Und daß es auf tausend Kilometer keinen Tropfen Wasser gibt, stört sie nicht. Und ich würde mich nicht wundern, wenn sie auch Steine fressen könnten.« 333 »Bestimmt.« Lacey trinkt ihr Glas aus und beschließt, so früh am Abend nicht noch ein zweites zu trinken. Sie wischt den Glasboden an ihren Jeans trocken und stellt es auf den Rand des Computertischs. »Aber du hast von >fremdartig< und >kompliziert< geredet und sagst mir noch immer nicht, warum.« »Also, denk doch nur an die Geschichte mit ihrem ... ich meine das Wesen, das wir für ihren Mann gehalten haben. In gewisser Weise war er das auch; ich meine, sein Geschlecht war männlich, und sie hätten sich irgendwann gemeinsam ans Eierlegen gemacht und so weiter. Aber er war eigentlich kein Individuum in unserem Sinne.« »Was soll das heißen?« »Wenn eine Insektenfrau Nachwuchs bekommt, dann reift das Ei in ihrer Eiröhre. Aber dann, bevor es befruchtet wird, teilt es sich in zwei Keimzellen auf. Du kapierst? Dann ist der Mann an der Reihe; er produziert zwei verschiedene Arten von Spermien, und mit jeder wird nur eine der beiden Keimzellen befruchtet. So wird eine davon zur Frau, die andere zum Mann. Aber vergiß nicht, sie stammen von einer Mutter und ihr mütterliches Erbgut ist identisch. Nur die Spermien bedingen den Geschlechtsunterschied. Und während sie heranwachsen, ist der Mann immer kleiner, schwächer, geistig weniger entwickelt und absolut von seinem weiblichen Gegenpart abhängig, weil er stockblind ist. Und was das Psi-Talent angeht, ist er beinahe auch blind. Er ist kein aktiver Telepath und kann auch nicht Paras anderer Spezies verstehen; alles, was er an Informationen aufnimmt, erhält er von seiner Schwester. Aber jetzt kommt das Verrückteste dieses Geschwisterpaar wird irgendwann, wenn sie alt genug sind, Mann und Frau.« »Aber Mensch, das ist doch Inzucht! Bruder und Schwester, du meine Güte.« »Nicht ganz. Diese verdammte Bakterie hat auch noch damit zu tun, nicht nur mit allem andern, was sie treiben. Sie macht sich an dem männlichen Keim zu schaffen, rührt seine DNA ein bißchen durcheinander und fügt genetisches Material von anderen Männchen des Stammes oder Geleges hinzu, oder wie immer du die Gruppen, in denen sie leben, nennen willst.« »Sehr merkwürdig, ja. Aber diese Paare müssen sich doch sehr ähnlich sein, oder?« »Teufel ja. Die Lady hat mir gesagt, daß der Verlust ihres Mannes kaum anders als der Verlust eines Teils von ihr selbst war. Nein, besser gesagt: Es war der Verlust eines Teils von ihr. Sie hat nicht einfach einen Geliebten oder Artgenossen betrauert. Es muß wie der Kummer über den Verlust eines Kindes gewesen sein, gemischt mit dem Entsetzen darüber, daß man verstümmelt wurde. Du weißt ja, wenn jemand Arm oder Bein verliert, dann läßt man ihn erst einmal trauern, bevor man ihm ein Kunstglied anpaßt. Sonst wachsen einfach nicht die richtigen Nervenverbindungen, wie viele Spritzen du ihnen auch gibst. So ähnlich muß es auch hier sein.« Lacey beschließt, erst einmal noch etwas zu trinken, und nimmt auch Carojs Glas mit zur Bar hinüber. »Wie viele ihrer Leute haben denn überlebt?« »Das ist genau wieder dasselbe Problem. Sie sagte uns, daß vierhundert Leute auf dem Schiff waren. Aber es waren vierhundert Paare achthundert Individuen, nach unserer Definition. Und einhundertvierundneünzig Paare überlebten den Unfall und das Auftauen, dazu noch um die dreißig Individuen ohne ihren Partner. Ich habe die Lady gefragt, ob die sich nun paaren werden - Mann, du hättest sehen müssen, wie schockiert sie war. Gott, was hab' ich mich entschuldigt ... etwas Obszöneres hätte ich nicht sagen können. Das war wohl der schlimmste Porno ihres Lebens!« »Alles eine Geschmacksfrage, nicht wahr?« Lacey gibt ihr das Glas und setzt sich wieder. Sie schwingt die Füße auf den Tisch. »Jedenfalls scheinen genug von ihnen überlebt zu haben, um da unten beim Äquator eine Kolonie gründen zu können.« »Mehr als genug, denn wenn sie wollen, können sie jedes 334 335 Jahr drei oder vier Paar Eier legen. Und wir machen ein tolles Geschäft mit ihnen. Die Republik überläßt ihnen die Schürfrechte an allen Mineralien, die nicht einmal unsere Roboter abbauen können, und außerdem das Recht, in und bei den Gruben zu wohnen. Im Austausch bekommen wir die Exklusivrechte für den Handel mit ihrem Heimatsystem sie haben eine Reihe Planeten besiedelt, auf denen wahrscheinlich sonst niemand leben kann. Vielleicht werden sie sich mit uns zusammenschließen. Das würde heißen, daß unser Territorium sich auf das Dreifache vergrößert. Die Konföderation und die Allianz können sich bloß noch den Hintern wischen, und ich will hoffen, daß es kratzt.« Sie heben die Gläser auf die Republik, dann trinken sie schweigend und genießen die Stille; es ist eine der ersten ruhigen Stunden in den letzten fünf Tagen. »Von einer möglichen Allianz habe ich nichts gehört«, sagt Lacey dann. »Woher weißt du das?« »AI Bates.« Carol ist mit einem Mal so abwesend. »Wir haben gestern zusammen zu Abend gegessen.« »Ach, tatsächlich?« »Ja. Aber hör, was ich dir noch sagen wollte: Ich glaube, ich habe ein Stipendium für die kleine Maria aufgetrieben.« »Phantastisch! Es klang ja wirklich so, als wäre die Nacht in der Klinik eine Offenbarung für sie gewesen. Glaubst du denn, daß sie es schaffen wird? Ich meine, es ist eine Sache, Krankenschwester werden zu wollen, und eine andere, das ganze Zeug zu lernen.« »Das weiß ich nicht, aber sie hat sich das Recht erworben, es einmal zu versuchen. Du hättest sie einmal sehen sollen, wie sie da mit Mulligan auf der Station gearbeitet hat, nachdem er ihr gezeigt hat, wie man diese Bakterien verscheucht oder wie immer man es nennen will. Er hat die ganze Zeit gemurrt und gejammert, er konnte die Patienten oft nicht einmal ansehen; aber sie, sie war ganz ruhig, gab den Leuten Zutrauen und erklärte ihnen, worum es ging. Na ja, nach dem Leben, das sie geführt hat, sind ein paar Fälle dieser Infektion wirklich ein harmloser Anblick. Zu dem Stipendium gehört ein Vorbereitungsjahr, bei dem sie den Schulabschluß nachholen kann. Ich habe überlegt, ob sie in der Zeit vielleicht bei dir wohnen könnte.« »Kein Problem, klar. Nunks möchte gern ihr Talent entwickeln, bevor sie an das Parapsychologische Institut geholt wird. Das paßt ganz prima.« »Gib dem Kind genug Arbeit, und sie wird nicht auf dumme Gedanken kommen.« »Bei uns hat es funktioniert, als wir in dem Alter waren. Aber sag mal, wie geht es Little Joe?« »Er ist absolut wiederhergestellt. Er hat sogar schon überlegt, sich einen anständigen Job zu suchen.« »Gott im Himmel, diese Bakterien müssen sein Gehirn ja schön zugerichtet haben!« Carol trinkt mit einem hastigen Schluck aus und schaut auf die Uhr. »Ich muß los. Ich melde mich morgen wieder bei dir.« »Gut. Was hast du denn vor?« »Oh ... na ja«, Carol stand auf. Wieder dieser abwesende Blick. »Mittagessen mit AI Bates.« »Ach, tatsächlich?« »Ja.« Carol ist schon draußen, bevor Lacey eine passende Bemerkung einfällt. Eine Weile sitzt sie noch am Tisch und blickt durchs Fenster, hinaus in den bunten Nachthimmel. Ab und zu sagt sie zu sich selbst >Ach, tatsächlich^ und lächelt. Dann erinnert sie sich, daß sie ein, wenn auch überstürztes, Versprechen abgelegt hat, als es so aussah, als würden die Alliierten sie in die Luft sprengen. Weil man nicht sicher sein konnte, daß es irgendwo doch eine Art Gott in dieser Galaxis gab, war es wohl besser, es auch zu erfüllen. 336 337 Das Staatliche Parapsychologische Institut erstreckte sich über ein Gelände von gut fünf Hektar am Nordrand von Polar City. In der Mitte eines Parkgeländes stand das eingeschossige Hauptgebäude, ein weitläufiges Labyrinth mit weißen Stuckornamenten und rotem Ziegeldach, mit unzähligen dämmrigen Korridoren und schattigen Innenhöfen. Im Scherz sagte man, daß jeder, der sich hier verirrte, eben kein Para war, der wirklich hierhergehörte. Auch das Büro des Direktors ist riesig, mit Unmengen von Büchern, die an den Wänden aufgereiht sind. Das Büro öffnet sich auf einen besonders kühlen Innenhof, in dem das Hologramm eines Brunnens sein imaginäres Wasser in ein blaues Becken plätschern läßt. Jene, die das Institut als ihre geistige Heimat ansehen und das sind trotz Mulligans geringer Meinung darüber fast alle Paras - erinnern sich gern an dieses Büro mit den schönen Möbeln aus echtem Holz und Leder, den Bildern an den Wänden, richtige Kunstwerke, und dem Computer, der auf seine Weise auch ein Stück Kunst darstellt. Viele von ihnen versuchen, wenn sie es sich leisten können, ihre eigenen Wohnungen ähnlich einzurichten. Mulligan haßte es natürlich und den Direktor nicht weniger. Er heißt Dane Coleman, ein großer, dünner grauhaariger Blanco. Coleman sitzt bequem zurückgelehnt in seinem Schreibtischsessel, während Mulligan auf der Kante einer mit Schnitzereien verzierten Couch hockt und unbehaglich hin und her rutscht. Hervorragend, was wir von dir und der Insektenfrau erfahren haben. Erfolg für das Institut. Enormer Wissenszwang, Psi-Techniken: Geld, Regierungszuschüsse. Nehme ich an. Freut mich, zu helfen. Leichter Sarkasmus. Erstaunen. Jack, warum bist du uns heute noch böse? Für damals Verständnis. Mulligan, dem sehr unbehaglich zumute ist, zuckt mit den Achseln, denn im Grunde weiß er es selbst nicht so genau. Coleman beugt sich über den Tisch, er ist ehrlich besorgt. Jack, denk darüber nach. Alles, was ich heute will: daß du es dir überlegst. Danke. ABER: Ich gehöre nicht hierher. Ich sage: Du gehörst hierher. Habe mit Maria gesprochen, erfahren, was sie von dir gelernt hat. Du hast ihr die Sache mit den Bakterien sehr schön beigebracht. Eines Tages wirst du ein guter Lehrer sein, du hast die Begabung. Ein wenig Übung noch. Denk darüber nach: eine Anstellung, gutes Gehalt, ein schöner Ort zum Wohnen. Respekt, Anerkennung von den Studenten. Okay, denke nach. Aber verspreche nichts, gar nichts. Ist gut, mehr verlange ich nicht. Als Mulligan aufsteht, folgt ihm Coleman hinaus; sie gehen durch Korridore und Innenhöfe, in denen kein Laut zu hören ist. Obwohl sie auf Gruppen von Studenten und Lehrern treffen, von einer akustischen Unterhaltung ist nichts wahrzunehmen. Mulligan fragt sich, ob er das Lehren zu seinem Beruf machen könnte. Gleichgültig was Coleman sagt, es würde bestimmt Jahre brauchen, bis er das Nötige gelernt hätte. Natürlich würde Nunks ihm begeistert helfen. Aber jeden Tag am gleichen Ort zu sein, ordentlich gekleidet, sich niemals unflätig ausdrücken dürfen - schrecklich. Dann einen festen Stundenplan zu haben und mit den Studenten so kühl und autoritär umzugehen, wie das seine Lehrer taten - undenkbar. Er fühlt eine gewisse Verachtung für sie, wie ein hungriger Wolf, der einen gutgenährten Haushund an seiner erbärmlichen Kette sieht. Der Direktor liest seinen Gedanken und lächelt. Nicht so übel, wenn man sich daran gewöhnt hat. Ich habe es nicht böse gemeint. Aber es ist nicht mein Stil. Ach so. Du denkst an die Verantwortung. Du möchtest nicht verantwortlich sein, weil du fürchtest, zu versagen! Mulligan fühlte das Brennen auf seinem Gesicht und geht schneller. Er spürt auch den leisen Spott des Direktors, es ist schlimmer als jedes Gelächter. 338 339 Und jetzt möchtest du wieder trinken. Nie ein Problem anpacken!! Es braucht Mulligans ganze Geschicklichkeit, um seine große Wut zu verbergen. Aber inzwischen haben sie das schmiedeeiserne Tor erreicht, hinter dem diese Welt zu Ende ist. Er stößt es auf und sagt noch einen letzten Satz, er spricht ihn laut. »Sehen Sie, Mann, ich darf mich hier nicht lange aufhalten. Wissen Sie, ich muß das Schlagen üben, heute ist der erste Tag der Profi-Liga. Aber selbst als er die gebogene Einfahrt hinunterläuft, weiß er, daß Coleman über seinen Versuch einer Beleidigung nur lächeln kann. Es wäre das Einfachste gewesen, Buddy die Antiquitätenhändler von Polar City abklappern zu lassen; er hätte schnell herausgefunden, ob sich in ihrem Inventar ein solches Kartenspiel befand. Aber Lacey findet den Gedanken unerträglich, ihn das Geschenk für seinen Rivalen suchen zu lassen, schon gar nicht, wenn es bedeutete, daß der Rivale gewonnen hatte. Also macht sie sich gegen Mitternacht auf den Weg und fährt mit ihrem Gleiter hinüber zur McCovey-Avenue, der elegantesten Einkaufsstraße in Polar Citys bestem Viertel. Sie hat noch vier Stunden, bis Mulligans Spiel anfängt, in einem Park am anderen Ende der Stadt, doch als die ersten drei Händler sie auf die Frage nach Karo-Karten nur erstaunt ansehen, schwindet ihre Hoffnung, rechtzeitig dort zu sein. Aber endlich, vielleicht eine halbe Stunde vor Spielbeginn, kommt sie in einen kleinen, aus allen Nähten platzenden Laden in einer Nebenstraße. Im Schaufenster liegt, neben richtigen Büchern aus Papier, deren Blätter alle an einem Ende zusammengeklebt sind, ein offenes Holzkästchen und darin ein Bündel Karten, deren oberste umgedreht ist. Sie zeigt den blonden Mann, der auf einem Pferd an einer großen Wasserfläche entlangreitet; das Bild, das eigentlich Mulligan darstellt. Als sie eintritt, kommt ihr ein älterer Lizzie entgegen. Seine Schuppen sind schon etwas durchscheinend vom Alter, die Pfoten knorrig; langsam geht er auf sie zu. »Dieses Holzkistchen im Fenster?« sagt Lacey. »Sind das Karo-Karten darin?« »Es heißt Tarot-Karten. Es ist Franko.« »Was?« »Franko. Das ist eine Sprache von der alten Erde.« »Nie davon gehört. Sind Sie sicher, daß das Spiel vollständig ist?« »Ich werde sie Ihnen holen, Madam. Dann können Sie selber nachzählen.« Er lächelt, als ob er verdammt genau wüßte, daß sie nicht die leiseste Ahnung hat, wie viele Karten es sein müssen. »Gut.« Lacey greift in die Jacke und holt das Metallkästchen hervor, das Little Joe gefunden hat; die Insektenfrau hatte darauf bestanden, daß sie es als Geschenk behielt. »Ich wette, daß sie so etwas noch nie gesehen haben. Es ist von den Enzebbelinen.« Die gelben Lizzie-Augen leuchten gierig auf. »Die neuentdeckte Spezies? Äh ... ich denke, wir können darüber reden. Darf ich fragen, was man damit macht?« »Sicher. Es ist ein Musikinstrument. Jedes Paar Tasten schaltet ein bestimmtes Klangmuster an oder aus, und solange es eingeschaltet ist, kann man es durch Druck hier auf die Seiten verändern.« Während schwebende Klänge wie von einer Äolsharfe den Raum erfüllen, beginnt der Lizzie zu lächeln. Das Handeln kann beginnen. Obwohl Lacey ziemlich spät kommt, muß sie feststellen, daß man auch für fünfzig Cent noch einen sehr guten Platz bekommt, nur zwei Reihen vom Spielfeld neben der ersten Base-Linie beim Unterstand der Marauders. Während sie den Gang hinuntersteigt, einen Pappbecher Bier und eine 341 Soja-Wurst in den Händen, schätzt sie die Zuschauermenge auf vielleicht tausend Leute, die sich rings auf den Plastbetontribünen verteilt haben. Doch auf dem Platz neben ihr sitzt natürlich jemand, ein Typ in den besten Jahren, gekleidet wie ein Geschäftsmann, der ihr freundlich zunickt, als sie sich setzt. Dann widmet er sich seiner Wurst mit Sauerkraut. Lacey legt die Beine auf die Lehne des leeren Sitzes vor ihr und seufzt vor Wohlbehagen. Es ist merkwürdig, daß an so einem Spielfeld auch eine heiße Nacht gleich kühler zu sein scheint, auch wenn es nur ein Semiprofi-Spiel ist. Als ob man beim Zusehen verzaubert würde, in ein Land entrückt, in dem jedes Problem ein klein bißchen kleiner ist und jede kleine Freude ein ganzes Stückchen angenehmer. Das Bier ist kalt, die Sojawurst schmeckt, und auf dem Spielfeld tummelt sich die gegnerische Mannschaft, die Big Shots von Kellys Bar und Restaurant im blütenweißen Dress; die Werferin schimpft mit einem der Fänger, als der Schlagmann von den Marauders zum Schlagmal trottet. Von oben flutet das gelbliche Licht der Schwebelampen, das sorgfältig abgestimmt ist, um das Sonnenlicht der guten alten Erde nachzuahmen. Das Spielfeld bedeckt Kunstrasen, dessen saftiges Grün von echtem Gras kaum zu unterscheiden ist. Lacey wirft einen Blick auf die Anzeigetafel; das dritte Inning hat begonnen, zwei Spieler sind draußen, und für die Big Shots steht es drei zu null. Auch die Aufstellung ist auf der ziemlich ramponierten elektronischen Anzeige angegeben, und bei den Marauders findet sie den Namen Mulligan, es ist der Spieler mit der Nummer sechsundzwanzig. Beim Krachen eines Schlägers blickt sie wieder aufs Spielfeld, aber die Big Shots haben es geschafft, den Ball über die Aus-Linie zu bringen; das Inning ist vorbei. Lachend und sich übermütig rempelnd kommen die Marauders aus dem Unterstand gelaufen; sie tragen graue Hemden mit roten Streifen, dazu nach Gutdünken Jeans oder weite Shorts. Lacey seufzt noch einmal, offensichtlich hat Mulligan das Team gefunden, zu dem er paßt. Sie winkt ihm zu, als sie ihn erkennt, aber während er über das Feld läuft, dreht er ihr den Rücken zu. Während der Werfer der Marauders sich anschickt zu werfen, steht der Schlagmann lässig da und klopft mit der Spitze des Schlägers etwas Schmutz von seinem Absatz. Aber richtiges Gras auf richtiger Erde gab es nur in der Profi-Liga, und Lacey zweifelt, daß er überhaupt je auf einem Grasplatz gespielt, geschweige denn Erde an seinem Absatz kleben hatte. Als er an das Schlagmal tritt, fällt ihr auf, daß Mulligan einige Schritte zurückgeht, ansonsten scheint es ein ganz normales Spiel zu sein. Nie hat sie ihn so angespannt gesehen, trotzdem scheint er sehr locker, während leicht er gebückt dasteht und auf den Ball wartet. Der Werfer wirft zu hoch. Der nächste Ball wird vom Schlagmann über die AusLinie geschlagen, der dritte Schlag ist genau richtig für den Shortstop. Obwohl er genug Zeit hat, stürzt sich Mulligan förmlich auf den Ball, kommt werfend wieder hoch und hat ihn schon zum ersten Baseman geschleudert, so daß er den Läufer leicht erwischen kann. Sogar aus dieser Entfernung kann Lacey erkennen, daß er lächelt, und es gibt ihr einen kleinen Stich, als ihr bewußt wird, daß sie ihn zum ersten Mal glücklich sieht. Der nächste Schlagmann ist schnell ausgeschieden. Aber dann geht Mulligan noch einige Schritte zurück, auch der Spieler im dritten Base geht auf Abstand. Und Lacey kann sie sehr gut verstehen, als sie den nächsten Schlagmann der Big Shorts sieht: ein Riese mit Armen wie Windmühlenflügel, in dessen gewaltigen Händen sich der Schläger wie ein Kinderspielzeug ausnimmt. Die Big Shots jubeln, stampfen mit den Füßen und skandieren >Jim-my, Jim-my<. Lacey wirft ihrem Nachbarn einen Blick zu. »Ich nähme an, das ist ihr bestes Pferd im Stall«, sagt sie. »Ja, er ist erst achtzehn. Ich wette, er wird in der obersten Liga spielen, bevor noch die Saison zu Ende ist.« Ein routinierter Spieler. Der verächtliche Blick, mit dem er den Werfer im Auge behält, läßt Lacey vermuten, daß es in 343 wenigen Minuten fünf zu null für die Big Shots stehen wird. Der erste Wurf ist flach und zu kurz, als fürchte der Werfer, dem Schlagmann überhaupt nahe zu kommen. Zu Recht, denn beim nächsten Wurf holt der Schlagmann gelassen aus, trifft hervorragend und schleudert den Ball in die Mitte zwischen dem dritten Base und dem Shortshop. Der Baseman springt und landet wieder mit leeren Händen, aber Mulligan ist da, springt, fängt und macht einen perfekten Wurf zum zweiten Base. Der Schlagmann ist draußen, das Inning ist vorbei, und die Fans der Big Shots schweigen. Lacey stimmt in den Chor der Marauder-Fans ein, während Mulligan mit den anderen Spielern zum Unterstand trottet. »Dieser Jack ist nicht übel, was?« sagt der Geschäftsmann. »Warten Sie mal, bis er am Schlag ist. Das kann er nämlich auch.« »Jack?« »Jack Mulligan, ja.« Lacey ist wie vom Blitz getroffen: Noch nie hat sie seinen Vornamen gehört. Das Spiel geht weiter, und ihr Nachbar hat nicht zuviel versprochen: Mulligan kann einfach alles, und mit seinem letzten Schlag ist das Spiel gewonnen. Während sich das Stadion langsam leert, bleibt Lacey auf ihrem Platz und fragt sich, ob sie wohl den Mut hat, ihren Vorsatz zu Ende zu bringen. Endlich, als schon ein Putzroboter gegen ihr Bein stößt, steht sie auf und geht langsam die Stufen zum Haupttor hinauf. Auf der anderen Seite des Stadions, nicht weit von der U-Bahnstation, führt ein schmaler Weg zu einer Stahltür, wo ein Grüppchen von Leuten auf die Spieler wartet. Lacey lehnt sich an den Zaun und wartet. Langsam kommen die Spieler aus der Tür, glücklich über ihren Sieg oder mürrisch wegen der Niederlage, die Haare naß vom Duschen, die Kleider am feuchten Körper klebend. Dann ein >Hallo!< aus der wartenden Menge, und man geht entweder zur U-Bahn oder zum Parkplatz. Nur Lacey steht einsam da und wartet, 344 während sich die Leute allmählich verlaufen. Sie fragt sich, ob er vielleicht einen anderen Ausgang genommen hat, und verflucht sich, weil sie ihm nicht vorher gesagt hat, daß sie kommen wird. Gerade als sie beschließt, zu gehen, bevor sie ein Wachroboter verscheucht, kommt er aus der Tür, in fast sauberen Jeans und einem Trikot, auf dessen Brust zu lesen ist: >Jetzt kommen die Marauders.< Er sieht sich um, bemerkt sie und kommt zu ihr gelaufen. »Entschuldigung, Lacey, ich habe eben erst gemerkt, daß du hier bist.« Er lächelt ein wenig scheu, aber doch erfreut. »Ich hätte mich beeilt, wenn ich es schon früher gelesen hätte.« Das macht es noch schwieriger, daß sie sich nun fragen muß, ob sie sich wirklich mit einem Mann einlassen soll, der ihre Anwesenheit durch feste Mauern hindurch spüren kann und vielleicht noch ganz andere Tricks beherrscht, aber sein Lächeln ist ansteckend. Und ohne daß es ihr bewußt wird, geht sie auf einmal dicht neben ihm. »Sollen wir ein Bier trinken gehen?« fragt er. »Ich habe gerade fünf Dollar bekommen.« »Gern. Wo willst du hin?« Sie sucht in ihrer Tasche, findet die Gleiterschlüssel und wirft sie ihm zu. »Und außerdem habe ich im Gleiter eine Überraschung für dich.« »Ja?« Er fängt die Schlüssel mechanisch auf. »Das gibt's doch gar nicht.« Erstaunt starrt er die Schlüssel an. »Du willst mich fahren lassen?« »Sicher, wenn du magst.« Er nickt, und ohne jede Telepathie kann sie spüren, daß er sich ungläubig und zugleich hoffnungsvoll fragt, was das wohl bedeutete. »Steht da drüben.« Sie deutet zum Parkplatz. »Bist du hier fertig?« »Ja, sicher. Laß uns gehen. Hast du das Spiel gesehen?« »Klar. Weißt du was, Jack, du bist ein toller Spieler.« »Im Ernst?« Sein Lächeln läßt ihr richtig warm ums Herz 345 werden, aber da ist außerdem noch so ein verdächtiges Kribbeln auf ihrem Rücken. »Mensch, danke.« Nebeneinander, wenn auch ohne sich zu berühren, gehen sie über den Parkplatz, auf dessen grauer Plastbetonfläche nur noch Laceys alter blauer Gleiter steht. Es ist dunkel, bis auf das Flackern des Nordlichts. Sie drückt ihren Daumen gegen das Lesefeld des Schlosses, dann steigt sie auf der Beifahrerseite ein, beugt sich hinüber und öffnet ihm die Fahrertür. Während er einsteigt, holt sie das Päckchen aus dem Handschuhkasten. »Ist das die Überraschung?« Er ist aufgeregt und neugierig wie ein kleines Kind. »Sicher, hier.« In dem Augenblick, in dem er das Päckchen berührt, beginnt er zu grinsen und streicht mit seinen langen Fingern immer wieder darüber. »O Lacey, du hättest nicht all das Geld an mich verschwenden sollen. Ich wette, daß das alte Zeug ganz schön was kostet.« »He! Du hast es nicht mal aufgemacht.« »Nicht nötig. Es sind die Karo-Karten, richtig?« »Verdammt, manchmal kann man mit dir das kalte Grausen kriegen.« Er ist plötzlich ganz feierlich; er legt das Päckchen auf die Konsole und wendet sich ihr zu. »Hatte nicht vor, dich zu erschrecken, war wohl dumm von mir, dich beeindrucken zu wollen. Ich meine, eigentlich kann ich nicht fühlen, was in einem Päckchen ist. Es ist nur wegen dieser Karten, du verstehst?« »Ja, ich denke schon. Aber willst du sie haben?« »Ich habe noch nie ein Geschenk mehr gemocht. Danke, wirklich vielen Dank. Aber ich warte mit dem Auspacken, bis wir irgendwo im Licht sind, ja?« Das bunte Flackern tanzt über sein Gesicht. Lacey kann seine Augen nicht sehen. Aber sie weiß, daß er sie anschaut, mit diesem sehnsüchtigen Blick, der kaum wagt, irgend 346 etwas zu erhoffen. Dabei fällt ihr ein, daß sie sich genau ausgedacht hat, was sie ihm sagen würde, damit er begreift, daß sie ihn liebt. Aber es ist alles wie weggeblasen. »Wo sollen wir hingehen?« fragt er jetzt. »Willst du etwas essen? Ich habe auch Geld von der Polizei bekommen; du weißt für dieses Lesen draußen beim Krater.« »Ja, ich erinnere mich. Aber wir können ja zusammenlegen, wenn du in ein Lizzie-Restaurant möchtest.« »Aber nein, ich möchte dich einladen. Du schenkst mir diese Karten und all so was.« »Und was ist mit deiner Miete?« »Ach, na ja.« Er schaut aus dem Fenster, als ob ihn das bunte Leuchten interessiere. »Ich meine ...« »Dein Vermieter hat dich eh rausgeworfen, also brauchst du dir über die Miete keine Gedanken mehr zu machen.« »Ja, in dieser Stadt, da wird man nicht leicht zum Helden, verstehst du? Und wenn ich dem Vermieter alles gebe, was ich habe, reicht es nicht einmal für eine Woche.« Mit einem Seufzer streicht er über den Steuerknüppel. »Eine Spielerin aus unserem Team hat gesagt, ich könnte bei ihr auf der Couch schlafen; ihr Vater hat nichts dagegen, wenn es nur eine Nacht ist. Sie ist unser zweiter Baseman, deshalb will sie nicht, daß ich morgen beim Spiel müde bin. Sie wird es schwer haben, wenn ich nicht auf Draht bin.« »Ach, du kannst doch bei mir schlafen.« »Wirklich? O Lacey, danke. Ich meine, vielleicht brauche ich Lindas Sofa später mal. Ich will ihren Alten ja nicht gleich zu Beginn der Saison verärgern.« »Gut, aber ich habe darüber nachgedacht: Du kannst ständig bei mir wohnen, wenn du willst.« »Ach, Mensch!« Er fährt herum und lächelt sie an. »Daran hab' ich gar nicht gedacht - Rick ist weg, da hast du ja ein Zimmer frei.« Das Lächeln verflüchtigt sich rasch. »Aber ich kann nicht viel bezahlen.« »Vergiß es. Ich will keine Miete von dir. Und was dieses Zimmer betrifft ...« Jetzt, wo es darauf ankäme, bringt sie 347 nichts mehr heraus. »Äh ... Maria möchte es wahrscheinlich haben.« »Himmel, dann nehme ich eben ihres. Ich bin nicht wählerisch, wenn man mich von der Straße aufliest. Ich werde auch im Garten arbeiten, oder mich sonst nützlich machen, was immer ihr wollt, du und Nunks.« . »Ja, das hört sich nicht schlecht an.« Dann sitzen sie schweigend da. Er starrt wieder durch die Windschutzscheibe, mit einem etwas ungläubigen Lächeln, als könnte er sein Glück nicht fassen, ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben. Und Lacey verflucht sich im stillen, weil sie völlig vergessen hat, wie man auch nur ein wenig flirtet. Dann fällt ihr ein, daß er ja ein Para ist, daß es keine Andeutungen, kokettes Augenaufschlagen oder sonst etwas braucht. Es würde genügen, einfach daran zu denken, wie sehr sie ihn mag, sich vorzustellen, wie sich seine Arme um sie anfühlen würden und seine Lippen auf den ihren. Sie denkt es und sieht, wie das Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet, als er sich zu ihr umdreht. Seine Augen sind groß und zweifelnd, als er sich zu ihr beugt, dann zögert er wieder. Er kann es nicht glauben. »Ich meine es wirklich, ja«, sagt sie. Ganz zaghaft, mit diesem schönen Kinderlächeln, kommt er näher und nimmt ihr Gesicht zwischen die Hände. Als er sie küßt, beginnt sie alles ringsherum und sich selbst dazu zu vergessen. Ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang wacht Lacey auf; das Terminal neben dem Bett piept. Einen Augenblick lang fragt sie sich erstaunt, was sich da Warmes, Schweres an ihren Rücken lehnt, dann erinnert sie sich an Mulligan und an die vorige Nacht. Obwohl sie wirklich nur wenig geschlafen hat, lächelt sie zufrieden, als sie einschaltet. »Was ist los, Buddy?« »Programmiererin, Dr. Carol ist hier. Sie schreibt gerade 348 eine Nachricht auf ein Blatt Papier; sie hat gesagt, daß sie später wiederkommen will.« »Sag ihr, sie soll das Schreiben lassen und hierbleiben. Ich bin gleich da.« Ganz vorsichtig schlüpft Lacey aus dem Bett und sucht auf dem Fußboden nach ihren Jeans; im ganzen Zimmer liegen Kleider verstreut. Mulligan hat etwas gemerkt, er seufzt im Schlaf, dann greift er nach dem Kissen und schlingt die Arme darum. Jetzt, wo er genug Platz hat, wird er sicher bald wieder so halsbrecherisch zusammengerollt sein, wie man das von ihm kennt. Gerade als Lacey den Reißverschluß schließt, taucht in der offenen Tür Carol auf. Sie ist schon im Begriff zu lächeln, als sie Mulligan erblickt. Mit offenem Mund bleibt sie stehen. Aber Lacey weiß ja, daß Carol ihren neuen Liebhaber nicht besonders schätzt. »O Gott!« Sie dreht sich auf dem Absatz um und verschwindet. Lacey nimmt das nächstbeste Hemd, das sich findet; es ist das Trikot der Marauders. Sie wirft es über und eilt ins Wohnzimmer zu Carol, die gerade den Notizzettel in kleine Stücke reißt. »Okay. Was hast du an Mulligan auszusetzen?« »Er ist ein Blödmann.« »He!« »Oh, okay. Also kein Blödmann, nur ein Versager.« »Carol, hör auf!« »Aber du hast schon immer einen schlechten Geschmack gehabt, was Männer betrifft. Nein, entschuldige, das geht nicht gegen ihn. Es ist nur, daß du etwas Besseres verdienst. Jemand, der etwas hermacht, der weiß, was er will und sich auch durchsetzen ...« »Du hast doch keine Ahnung.« Lacey bemüht sich, nicht laut zu werden. »Ich brauche keinen Kerl, der mir sagt, was zu tun ist. Das kenne ich von der Flotte nur zu gut, danke!« »Das meine ich nicht, das weißt du genau.« 349 »Na gut, aber es soll eben jemand sein, zu dem man aufschauen kann, nicht wahr? Auch das hatte ich schon.« »Gut, da hast du nicht unrecht.« Carol wirft die Papierfetzen in den Müllschlucker. »Dieser Jorge oder Hermie mit seinem lausigen Ego muß der aufgeblasenste Typ im ganzen erforschten Sektor gewesen sein was ich dir damals immer klarmachen wollte. Er und seine verdammten engen Hosen ... ich denke, sie haben die Blutzufuhr zum Gehirn behindert.« Wider Willen muß Lacey lachen. »Also Carol, dann weißt du doch, was ich jetzt will! Jemand, der zur Abwechslung zu mir aufblickt. Ist daran etwas schlecht?« »Na ja, wahrscheinlich nicht.« »Gut. Außerdem möchte ich jemandem um mich haben, um den ich mich kümmern muß ... nein, verwöhnen meine ich nicht - jemand, der Zuwendung braucht!« »Nun, dazu ist er genau der Richtige. Lacey, er ist noch ein Kind! Wie alt ist er: zweiundzwanzig, dreiundzwanzig?« »Ich weiß, ich bin alt genug, seine Mutter zu sein. Und weißt du was? Es kümmert mich nicht, solange es ihm egal ist.« »Kann er überhaupt ohne Computer dreiundzwanzig von achtundvierzig abziehen?« »Mensch, halt bloß deine Klappe!« Carol ist verärgert. »Ach, hör schon auf, Frau Doktor! Ich habe genug Geld, um ihn auszuhalten, wenn ich will. Und ich will. Und außerdem mußt du zugeben, daß er ein verdammt gutaussehender Typ ist, für einen Blanco. Und dazu ein phantastischer Shortstop.« »Okay. Vielleicht hab' ich unrecht.« »Ach du lieber Himmel! Buddy, ruf das Fernsehen an! Nie hätte ich gedacht, den Tag zu erleben, an dem Carol so etwas eingesteht.« 350 »Ich nehme an, meine Programmiererin scherzt.« Buddy scheint nicht weniger verärgert zu sein als Carol. »Vielleicht interessiert es dich, daß die Einheit Mulligan sich diesem Raum nähert.« Nur mit Jeans bekleidet kommt Mulligan herein; als er Carol erblickt, bleibt er wie angewurzelt stehen. Sein Erschrecken ist nicht gespielt. Obwohl Lacey spürt, daß sie ihn so nicht stehen lassen darf, daß es einer Geste bedarf, ein Kuß vielleicht - sie bringt es nicht über sich; zu tief sitzt ihre Abneigung gegen Zärtlichkeiten vor aller Augen. »Möchtest du frühstücken?« fragt sie. Er schaut sie an und lächelt, und auch dieses unschuldige Lächeln, diese echte Freude drängt sie, sich ihm in die Arme zu werfen. Statt dessen setzt sie sich an den Computertisch. »Sicher«, sagt er. »Ich werd' mich darum kümmern. Bleibst du zum Frühstück, Carol? Du bist eingeladen.« Carol starrt ihn an, dann murmelt sie ein >danke!< und läßt sich auf die Couch fallen. Mulligan lächelt wieder, es gilt allen hier ohne Einschränkung, dann geht er pfeifend hinüber in die Küche. »Himmel«, sagt Carol, »er fühlt sich schon ganz zu Hause.« »Warum nicht?« Lacey lehnt sich zurück, legt die Beine auf den Tisch und grinst zur Decke. »Schließlich wohnt er jetzt hier.« ENDE